Theater der Zeit

Magazin

Heiliges Sprachproblem. Wolfram Lotz liefert in seinem neuen Buch eine zarte Poetik seines Schreibens

Wolfram Lotz: Heilige Schrift I S. Fischer Verlag, 912 Seiten, 34 Euro

von Nathalie Eckstein

Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)

Assoziationen: Dramatik Buchrezensionen

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Als Rainald Goetz 1999 „Abfall für alle“ schrieb, war das eine Sensation. Ein „Roman eines Jahres“, wie es im Untertitel heißt, in dem der Autor jeden Tag mitschreibt, ein Jahr lang und den Text, in täglichen Lieferungen, ins Internet stellt.

Was Goetz angefangen hat, den Alltag eines schreibenden, denkenden Ichs in einer Schriftform kommensurabel zu machen, findet in Wolfram Lotz’ neuem Buch rund 20 Jahre später eine Art Widerhall.

Im Jahr 2017, als er in einem Dorf in Frankreich ist, schreibt er alles auf. Jeden Tag. Knapp 3000 Seiten. Kurz danach löscht er alles wieder. Trotzdem liegen jetzt 900 Seiten Text vor, die er einem Freund per Mail geschickt hat. Soweit die Erzählung des Verlags. Der schiere Umfang des Textes ist schon eine Überraschung, denn Wolfram Lotz, einer der am meisten gespielten Gegenwartsautoren im Theater, hat bisher ein schmales Oeuvre.

Das Internet spielt also, folgt man der Erzählung des Verlags, nicht nur innerhalb des Buches eine Rolle, sondern hat auch entscheidend zu dessen Vorliegen beigetragen.

Wolfram Lotz geht einkaufen. Wolfram Lotz verreist. Wolfram Lotz baut eine Legotankstelle mit seinen Kindern. Wolfram Lotz denkt nach über das Schreiben, über das Theater und über das Internet. Das tut er mit der zarten Vorsicht, die man von ihm kennt. Er imaginiert sich als Miley Cyrus, als die er Theaterstücke schreibt, er sitzt als Akademie für deutsche Sprache mit seiner Familie am Tisch, und er wandert als Peter Handke durch den Schwarzwald. In dieser Imagination ist er nie überheblich, sondern, wie immer, in der Pose dessen, der auch nicht weiß, wie er es an die Spitze des deutschsprachigen Dramas geschafft hat. Es ist das Ausprobieren von Rollen und das Anprobieren einer Realität, selbst theatrale Praxis.

Eine Frage, die ihn immer, und gerade bei diesem Unterfangen, permanent begleitet, ist eine sprachphilosophische. Wie kann Literatur die Wirklichkeit abbilden? Die Abbildung der Wirklichkeit muss selbst hochgradig artifiziell erfolgen, um ihr gerecht werden zu können.

„Aber wie schwierig das ist, gewollt Dinge abzubilden, ohne schon etwas / mitzuerzählen, das geht praktisch nicht (hier ja auch nicht)“

Ähnlich wie Rainald Goetz kommt Wolfram Lotz ohne Punkte am Ende seiner Sätze aus. Was bei Goetz tatsächlich den Anschein vom Vermeiden von Literatur, von Unmittelbarkeit von Notizen hat, bekommt bei Lotz viel eher einen Verscharakter, wie alle seine Texte, auch seine Theaterstücke, letztlich Langgedichte sind: „Ja, Grundform eben auch hier: Nicht Erzählung, sondern Gedicht / Poem“

Alles Schreiben ist hier, wie in seinen Theatertexten, immer der Versuch, der „SPRACHTOTHEITSBEGEISTERUNG“ zu entgehen, und (da ist auch die Textform genuin theatral) einen Rhythmus, eine Zartheit zu behalten, die „mehr aus einem Sprechen kommen soll, aus / Gründen der Körper- und also Ich-Nähe“

Die Schrift wird letztlich heilig, weil sie Medium der Welterfahrung ist. Nur durchs Schreiben gibt es die Möglichkeit, den Dingen nah sein zu können: „Wie ich mir wünschen würde, dass ich immer ganz nah und hell an den / Dingen hier schreibend dran sein könnte“

Was Wolfram Lotz hier liefert, ist nicht weniger als seine vorsichtige Poetik, die darin besteht, im Schreiben die Welt überhaupt erfahren und verstehen zu können. Beim Lesen kann man verfolgen, wie Lotz versucht, verwirft, sich annähert und sich wieder entfernt.

Ob man der Erzählung des Verlags nun glaubt oder nicht: Der Text vollzieht permanent eine Bewegung: die Suche nach Öffnung, nach Gehörtwerden und die Koketterie mit dem Unverstandensein, dem Einsamsein: „Heute neigt sich der Text hier offensichtlich sehr, und zwar in Richtung / Gespräch mit DEM MÖGLICHEN LESER / Interessant / Vielleicht will er doch ins Internet (ich habe keine Ahnung)“ //

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