Theater der Zeit

Kunstinsert

Bühnenräume für Heiner Müller

Aus einem Erich-Wonder-ABC

von Stephan Suschke

Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Akteure Dossier: Kunstinsert Deutsches Theater (Berlin)

Heiner Müller mit Erich Wonder während der Proben zu „Hamlet / Maschine“ im Parkett des Deutschen Theaters Berlin, 1990
Heiner Müller mit Erich Wonder während der Proben zu „Hamlet / Maschine“ im Parkett des Deutschen Theaters Berlin, 1990Foto: Maria Steinfeldt

ALTE MEISTER

Heutiges Theater muss dem Publikum Geschichten erzählen, wie es die Alten Meister getan haben. Zuerst taten sie es für die Kirche und ihre Heiligen, dann für die Könige und ihre Herzöge, dann für die Großbürger und ihre Museen, schließlich nur noch für sich selbst. Aber alle mussten ihre Geschichten ins rechte Licht rücken. In der Absicht der Wirkung unterscheiden sie sich, in der Technik, das Licht wie ein Instrument zu behandeln, sind sie einander nahe: ­Altdorfer mit seinen Erzählungen kosmischer Weltlandschaften. Grünewald mit seinem existenziellen Zwielicht, Georges de La Tour mit seiner einzigen und deshalb einzigartigen Lichtquelle, Runge mit seinem Sphärenlicht, Millet, der seine Bauern dem Gegenlicht aussetzte (später wird van Gogh dunkle Kartoffelesser in wahnsinnig leuchtende Sonnenblumen verwandeln), William Turners Landschaftslichträume, Giorgio de Chirico mit seinen Schatten, die auf den heißen leeren Plätzen das Nichts braten, …

Die Impressionisten gingen ins Freie und stellten dort ihre Staffeleien auf. Sie wollten das Licht malen, wie es das Auge wirklich sieht. Mark Rothko – vielleicht der wichtigste Farb/Licht-Maler der Moderne – und vor ihm Vermeer van Delft, der wahrscheinlich größte Lichtmaler überhaupt, der durch das Mischen der drei Grundfarben das weiße, realistische Licht entdeckt und damit den Kodacolor-Film-­Effekt, der mir in meiner Arbeit für die Bühne ermöglichte, neue Dinge zu sehen, vorweggenommen hat – alle diese Bilder und Bildner waren die eine extreme Erfahrung mit dem Licht.

AUFTRAG, DER – SCHAUSPIELHAUS BOCHUM

Angriff auf das theatralische Wertesystem des Zuschauers: Das Auge des Betrachters, gewöhnt an den rechteckigen Ausschnitt (von Film, Fernsehen oder Theater), wird hier mit einer ungewohnten Form, dem Dreieck konfrontiert.

Mit der Reduzierung des Rechtecks auf das Dreieck wird dem Betrachter die Einsicht in das Geschehen nur teilweise ermöglicht. Er wird auf sein voyeuristisches Verhalten, als Grundidee des ­theatralischen Vorgangs, hingewiesen und aufgefordert, sich dieser Neugierde uneingeschränkt hinzugeben und die unendlichen Möglichkeiten der Fantasie auszuschöpfen.

Ich war ein oder zwei Jahre vor „Auftrag“ bei Heiner in seiner Ostberliner Wohnung und wollte einen Text für eine freie Aktion ­haben. Da hat er aus der Hose einen Zettel gezogen, auf dem er sich einen Traum notiert hatte: Ein Traum, in dem er zu Honecker musste. Ich habe versucht, den umzusetzen, das aber nicht geschafft. Aus diesem Wissen habe ich den Raum für „Auftrag“ erfunden, so ist das Stück für mich eigentlich entstanden. Die politischen Tatsachen in dem Stück haben mich überhaupt nicht interessiert.

BEWEGUNG

Die Statik ist für mich der Tod am Theater.

Bewegung ist für mich umgesetzte Zeit.

Ein Raum ohne Zeit, also ohne Bewegung, ist ein toter, lebloser Raum. Im Theater schien der rasche Szenenwechsel nicht möglich. Die raschen Wechsel, die Schnitte des Films, für das Theater umzusetzen, das hat mich gereizt …

ERZÄHLEN

Große Geschichten entstehen in den Köpfen der Betrachter.

Geschichten erzählen, ohne sie darzustellen, ein Bild, ein Raum, ein Flug – gleichzeitig. Alles ist möglich: Der Betrachter wird hi­neingezogen ins Geschehen, wird zum Bestandteil der Szene … Die wahren Geschichten sind nie die Hauptmotive, sie nisten in den Zwischenräumen.

EIGEN-SINN

Ich bin nie auf Heiner Müller eingegangen, sondern habe gemacht, was mir dazu einfiel.

FARBE Monochrome Räume, die das Fliegen lernen – sich darin ver­lieren, sich wälzen.

… Das blaue Feld über dem Orange – das Tor zum Einstieg in die Träume, die Geschichte und die imaginären Reisen.

Eintauchen in das Blau über dem Orange – die Farbe als fiktiver Raum, alles hinter sich lassend, den Begriff „Interpretation“ als sich selbst überholenden, sinnlosen Begriff über Bord werfend, versucht sie, Geschichten zu erzählen, ohne sie vordergründig sichtbar zu machen.

FILM & THEATER

Es gibt Medien, die eine Generation prägen können. Uns hat nicht das Theater geprägt, sondern der Film. Aber ich will Theater machen. Ich bin ein Kameramann, der Räume baut.

Ich möchte mich in die Räume hineinzoomen. Ich will die Großaufnahme auf der Bühne. Deswegen sehe ich mich als Kameramann, der Räume baut, das Gegenteil von einem Architekten, der statische Bauten entwirft.

Wir mussten radikaler vorgehen und den Bogen extrem spannen. Und mit allen Mitteln und Inhalten die Zuschauer bewegen und aufwecken, ihnen zeigen, in welcher Welt sie leben, auch, dass man Angst hat.

GEHEIMNIS

Ich versuche, Rätselbilder zu schaffen, die jeder für sich auch unterschiedlich deuten kann. Das Geheimnis wahren. Ohne Geheimnisse gibt es kein Leben und letztlich auch keine künstlerische Existenz.

HAMLET/MASCHINE – DEUTSCHES THEATER BERLIN

Das Deutsche Theater war gerade von der Regierung in Gold und rotem Samt renoviert worden. Wenn man auf den roten Samt gegriffen hat, war dahinter Beton. Es war alles billig im Lieblingstheater von Honecker. Aber es hat mich interessiert, darauf zu reagieren. Deshalb habe ich das Theater gestört. Ich wollte es ein bisschen ­kaputt machen. Ich hab eine Eisenschiene gebaut, die ging von der Hinterbühne bis zum Lüster in der Mitte des Zuschauerraums. An dieser Schiene fuhren Wagen mit wahnsinnig grellem Licht und Lautsprechern. Das hat wahnsinnig gerattert und Lärm gemacht, mit einer Kette, über den Zuschauern, gegen den Samt und den Brokat. Heiner hatte ein Konzept: Vom Eiswürfel zum Brühwürfel, wie wir im Spaß gesagt haben, oder von der Eiszeit bis zur Klimakatastrophe. In der Mitte war „Hamlet/Maschine“ eingebunden, aber während uns zu „Hamlet“ von Shakespeare sehr viel einfiel, mussten wir beide bei seinem eigenen Stück passen.

INTERESSE

Mich interessieren nicht die Inhalte des Stücks, sondern die Situation. Gehörtes, Gedachtes und Gesehenes für sich vollkommen neu erfinden und damit leben.

Eine Reise, als Ausbruch aus dem Ghetto des festgefrorenen ästhetischen Augenblicks.

KATASTROPHEN

Katastrophen spielen für den Künstler eine andere Rolle als für den Profitunternehmer. Katastrophe und Chaos setzen Energien frei, aus denen der Traum wächst wie Phönix aus der Asche: Der Künstler als fliegender Herrscher in der Freiheit der Visionen und als Gefangener einer unüberwindbaren Realität.

LEBEN Wichtig war, Räume zu schaffen, in denen Schauspieler zwei Stunden oder mehr leben konnten. Das war dann deren Welt. Und diese Welt stand in einem ganz genauen Verhältnis zum Zuschauerraum.

LICHT

Wenn ich über Licht nachdenke, so bedeutet das für mich die Beschäftigung mit zwei extrem unterschiedlichen Erfahrungen: das Ergebnis des Lichts in Bildern wie sie in den Museen hängen und die direkte – körperliche und psychische – Begegnung mit Licht, wie es in meiner Umwelt auftritt.

Ewiges Wechselspiel zwischen blendenden Lichtschleusen und extremer Finsternis. Nie völliger Tag – nie völlige Nacht.

LOHNDRÜCKER, DER – DEUTSCHES THEATER BERLIN

Man sieht nie einen Ort direkt, immer nur die Spiegelung eines Ortes, die dann auch wieder verschwindet. Es soll ein magischer Raum entstehen, der vielleicht noch ganz andere Dinge erzählen kann.

MANIPULATION

Der Zuschauer wird in das Geschehen hineingezogen, geht in den Raum hinein, sein Blick wird festgenagelt, ohne sein besonderes Zutun. Ich orientiere das Auge, lasse den Betrachter nicht frei. Die Vorgänge werden mit dem Regisseur und den Schauspielern so komponiert, dass Einstellungen entstehen.

REISE

Ich wollte immer Stücke machen, die eigentlich Reisen waren, egal, ob das Reisen ins Innere waren oder nach draußen.

SEHEN

Schule des neuen Sehens: Verwandlung der Räume in Erfahrung & der Erfahrung in Räume, Dimensionen und Dinge. Der Raum formuliert Emotionen, Gefühle, Stimmungen. Keine Dekorationsfunktionen. Räume, die Geschichte haben und Geschichte machen werden. Der neue Raum ist real gewordene, lebbare, emotional-assoziative Utopie.

THEATER Theater ist eine Flucht, ein Abenteuer, eine Reise in eine andere Realität … Theatererlebnis als Eintauchen in eine theatralisch ,fixierte‘ Zeit – eine in sich geschlossene, künstliche Zeit, zu deren Realität auch immer die innere Zeit der Träume und Erinnerungen gehört.

TRISTAN UND ISOLDE – BAYREUTHER FESTSPIELE Da „Tristan“ eine Oper ist, in der die Story nebensächlich und in drei Minuten erzählt ist, habe ich versucht, meditative bzw. monochrome Räume zu machen. Ich wollte die monochrome Malerei Mark Rothkos in Raum und Bewegung umsetzen.

WIRKUNG

Die Sehnsucht, einen Theaterabend nicht zu illustrieren, sondern Sprache, Bilder und Bewegung aufzunehmen, um sie später, vielleicht nach Wochen, im Kopf neu zu erleben und mit diesem Glücksgefühl eine Weile zu verbringen.

ZEIT

Lange zusehen, was passiert. Räume allein regieren lassen. Warten können.

Ruhe kann Raum erzeugen. Einen weiten Raum. Durch die Ruhe beginnen sich die Formen zu bewegen. Die Grenzen lösen sich auf, die Realität … In der DDR gab es ein anderes Zeitmaß. Das hat mich am Anfang völlig irritiert. Wenn Freunde von Heiner im Zuschauerraum saßen, hab ich mich davorgestellt, sodass sie nichts sehen konnten. Jemand aus dem Westen hätte sich umgesetzt, um sehen zu können. Die aber blieben sitzen und haben in meinen Rücken geschaut. Manchmal eine halbe Stunde lang. Aber sie hatten Zeit. Und Heiner Müller hatte auch Zeit, auch ein anderes Zeitverhältnis. Das sieht man auch am „Tristan“. Er hatte keine Eile zu inszenieren, sondern hat gewartet.

ZWISCHENRÄUME

Räume zwischen den Dingen sind wichtiger als Räume im Zentrum.

Ausstellung
„ERICH WONDER – T/RAUMBILDER FÜR HEINER MÜLLER“
Akademie der Künste Berlin, Pariser Platz 4,
16. Januar bis 13. März 2022

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