Gespräch
Der Momentzusammenhangsversuch
Amir Gudarzi im Gespräch mit seinem Lektor Jonas Schönfeldt
von Jonas Schönfeldt und Amir Gudarzi
Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Amir, in „Quälbarer Leib – ein Körpergesang“ erzählst du von einer Minensucherin, sowjetischen, islamistischen und amerikanischen Mächten, Märtyrern, von Odysseus und Dädalus, EU-Politiker:innen und vielen mehr. Wie kamst du zu den Geschichten, was verbindet sie?
Die Leiber, die Körper. Ich habe angefangen, über das Politische von Leibern und Körpern nachzudenken. Zum Beispiel in den Religionen, etwa im Islam. Oder: Welchen Wert hat ein afghanischer Körper gegenüber den Körpern amerikanischer Soldaten? Stichwort „collateral damage“. Oder: Wie werden Menschen aufgrund ihrer Körper im Alltag unterschiedlich behandelt? Warum werden Mauern um Europa gebaut, was bedeuten Grenzen in Bezug auf Körper, wo stößt der Leib an seine Grenzen?
Das Wechselspiel von Leib und Körper steckt schon im Titel …
„Quälbarer Leib“ ist auch der Titel eines Buches von Gerhard Scheit, der sich wiederum auf ein Gedicht von Bertolt Brecht über den Freitod des vor den Nazis geflüchteten Walter Benjamin bezieht.
Du hast den „Körpergesang“ im Titel ergänzt. Was interessierte dich an dem Verhältnis von Leib und Körper?
Macht hat immer mit Leib und Körper zu tun. Denn Macht ist nicht in der Lage, den Geist einzusperren. Deswegen geht es ihr um unseren Leib – darum, ihn einzusperren, auszuschalten, den Körper auszunützen und über ihn zu verfügen. Man sieht an den aktuellen Protesten im Iran, wie die Befreiung der Leiber stattfindet. Die Frauen wollen nicht mehr als Objekte behandelt werden, sie wollen Subjekt sein und selbst über ihr Leben, ihren Leib entscheiden.
Welche Rolle haben Mauern und Grenzen in deinem Stück?
Seit dem Gilgamesch-Epos wissen wir: Wenn man beginnt, eine Mauer oder Festung zu bauen, hat es wenig mit Feinden von außen zu tun. Es hat mit dem Innen zu tun: mit der Kontrolle über die eigene Bevölkerung, mit einer bewussten Angstmachung vor den „Anderen“, den „Fremden“, den „Feinden“.
Im Stück werden Menschen zu Tropfen, Tropfen zu Flüssen, gehen ineinander über, lösen sich auf. Alles in dieser Welt ist im Übergang begriffen, formt sich ständig um. Welches Theater braucht dieser Text?
Ich habe zwei Bilder vor Augen: einerseits einen ganz persönlichen, intimen Raum, mit einer dunklen Bühne, einer oder einem einzigen Schauspieler:in vor den Zuschauer:innen; andererseits eine große, monumentale Bühne, wo einem die Schauspieler:innen ganz klein vorkommen. Interessant wird es, wenn beides zusammenkommt. Wenn eine einzige Person so viel Nähe ausstrahlt und Aufmerksamkeit bekommt, das Licht nur auf sie, und auf einmal kommen dreißig Leute in den Raum und wir sehen ein Kollektiv. Theater ist ein Spiel zwischen einzelnen und kollektiven Körpern. Genauso ist das Spiel zwischen Darstellen und Erzählen interessant. Ich habe verschiedene Formen gesucht, um bestimmte Ereignisse auf bestimmte Weisen zu erzählen und damit auch das individuelle oder kollektive Erzählen in den Vordergrund zu stellen. Beides geht ineinander über, wandelt, verwandelt sich.
Wir sitzen hier in Frankfurt (Oder), wo du gleich den Kleist-Förderpreis für dein Stück „Wonderwomb“ entgegennehmen wirst. In der Jury-Begründung wird die „Gleichzeitigkeit von Hier und Dort“, die spezifische „Verknüpfungs-Dramaturgie“ und das Aufbauen „ungeheurer Zusammenhänge“ herausgestellt. Kommt uns nur noch der „Weltzusammenhangsversuch“ bei?
Ich weiß nicht, ob es das trifft. Für mich ist es eher ein „Momentzusammenhangsversuch“. Ich versuche, im Schreiben die Welt in einem kleinen Moment anzuhalten, aufzuhalten, festzuhalten und dann in die Breite zu gehen. Weil es notwendig ist, die Zusammenhänge offenzulegen, um den Moment zu erzählen. Natürlich hat das dann viel mit der Welt zu tun. Wir sehen gerade diese Proteste im Iran, die progressiv und feministisch sind und beabsichtigen, die ganze iranische Gesellschaft zu befreien. Wenn ich über diesen spezifischen historischen Moment schreiben würde, dann müsste ich die ganze Geschichte der Ver- und Entschleierung der Frauen im Iran erzählen. Einer psychologischen Figur in einem klassischen Drama gibt man Raum, um sich zu entfalten. Ich erzähle aber nicht, indem ich Figuren ausbreite, sondern indem ich einen historischen Moment auslege.
Du verknüpfst nicht nur Zeiten und Orte miteinander. Auch Mythen spielen eine große Rolle. In „Quälbarer Leib – ein Körpergesang“ treten Odysseus, Dädalus und Dionysos auf. Was interessiert dich an Mythologie?
Das Konzept von „Abendland“ und „Europa“ basiert auf der griechischen Mythologie, auch wenn sie im Wesentlichen aus Mesopotamien und dem Nahen Osten stammt. Mein Interesse besteht darin, Kontinuitäten zwischen Mythos und Gegenwart offenzulegen und zu kommentieren. Was würde Dionysos in unserer Zeit machen, wenn er sich die Politiker:innen der EU mit seinem Wein vornehmen würde? Wäre Dädalus nicht ein gefragter Baumeister, wenn Europa weiter zu einer Festung gemacht wird? In den Mythen vermutet man in Europa „Identität“. In „Quälbarer Leib – ein Körpergesang“ sorgen die mythologischen Figuren dafür, dass Europa sich abschafft.
Diese Ironie ist nur ein Beispiel für den Humor im Stück. Wie wichtig ist die Komik für dein Schreiben?
Ich schreibe nicht und denke, ich brauche Komik, um dieses oder jenes Thema leicht verdaulich zu machen. Manche Situationen sind einfach komisch, wenn man sie wörtlich nimmt. Und ich versuche dann, diese Komik zu schärfen. Wenn ich wörtlich nehme, dass die Leute mit dem Leib ins Paradies ziehen – und alle Beschreibungen vom Paradies, sei es im Koran oder in der Bibel, sind sehr leiblich, man genießt alles mit dem Leib –: Was passiert, wenn der Märtyrer ohne den weggesprengten Leib ins Paradies kommt? Was passiert, wenn der Märtyrer gar kein Mensch ist, sondern eine Drohne die „Ungläubigen“ angegriffen hat: Kommt die auch ins Paradies?
In „Quälbarer Leib – ein Körpergesang“ wehrt sich die Minensucherin dagegen, neue Körper für ein patriarchales System zu rekrutieren. Ist sie eine neue Heldin?
Ich weiß nicht, brauchen wir das gängige Motiv von Held:innen? Ich finde, es geht um etwas Kollektives. Ich habe nicht versucht, mit der Minensucherin eine Heldin zu konzipieren, aber ich verstehe, wenn andere sie so sehen. Sie ist die Letzte, die Menschen rettet, während die Männer für Vernichtung sorgen. Eine Hoffnung auf Rettung.
Wie viel Hoffnung gibt es im Stück?
Die Menschen sind keine Lebewesen, die sich immer einfach ergeben. Noch mal, Iran: Obwohl die Menschen auf offener Straße erschossen werden, obwohl so viel Gewalt angewendet wird, obwohl der Tod überall präsent ist, tragen sie eine Utopie, die Vorstellung eines besseren Lebens mit sich. Obwohl dystopische Bilder produziert werden, glauben die Gehirne der Demonstrierenden nicht daran, dass es das Ende ist. Die bestehenden Verhältnisse sind kein vorgeschriebenes Schicksal. Es ist etwas, das veränderbar ist. Wir haben Dystopie auf der Vorderbühne, aber auf der Hinterbühne, versteckt, ist eine Utopie, die unser Handeln benötigt, um real zu werden.
Was wäre, wenn der Baumeister gesagt hätte: Ich baue diese Mauern nicht, oder ich baue sie anders, lückenhaft? Jeder Moment, in dem eine Entscheidung getroffen wird, stellt nur eine Variante der Geschichte dar, neben unzähligen anderen Möglichkeiten. Diese Handlungsketten können wir unterbrechen, durch Innehalten und Agieren. Und darin sehe ich unser Potenzial für Veränderung. //