Unbehagen an der bürgerlichen Ordnung
Wagners Konzept eines theatralen Gesamtkunstwerks
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Richard Wagners Konzept eines „Kunstwerks der Zukunft“, genauer des theatralen Gesamtkunstwerks war die vielleicht erste fundamentale Kritik von Grundzügen europäischen Theaters seit dem 16. Jahrhundert. Es zielte auf die Überwindung der Grundtendenz im europäischen Theater seit der Renaissance zum, wie er es betonte, Individualistischen und Fragmentieren, nicht zuletzt zu der Aufspaltung in rigoros abgesondert-spezialisierte Genres – Grundzüge, die sich aus der Einbindung der Künste in die sich entwickelnden bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse ergaben. Dagegen setzte er die Kunst des antiken Tragödientheaters, in der sich die Polis als eine alles umfassende Gemeinschaft gleichsam selbst kreativ äußerte. Mit der Auflösung des athenischen Staates hänge der Verfall der Tragödie zusammen, so Wagner 1849 in seiner Schrift DIE KUNST UND DIE REVOLUTION. „Wie sich der Gemeingeist in tausend egoistische Richtungen zersplitterte, löste sich auch das große Gesamtkunstwerk der Tragödie in die einzelnen, ihm inbegriffenen Kunstbestandtheile auf.“80 Die Kunst hörte „immer mehr auf, der Ausdruck des öffentlichen Bewusstseins zu sein“, einzelne Künste bildeten „sich selbstständig, aber einsam, egoistisch“ fort.81 Das wirkliche Wesen gegenwärtiger Kunst sei „die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb.“ In den weiten Räumen des griechischen Theaters „wohnte das ganze Volk den Vorstellungen bei, in unseren vornehmen Theatern faulenzt...