Inszenierungen
Doppelbödige Nummernrevue der Pathologien
Gisèle Vienne und Puppentheater Halle: „Das Bauchrednertreffen“
von Veronika Darian
Erschienen in: double 32: Theaterprobe als Möglichkeitsraum (11/2015)
Assoziationen: Sachsen-Anhalt Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theaterkritiken

Die Show beginnt fast verhalten. Während sich im Hintergrund die Bauchredner und ihre Puppen versammeln, ein Schwätzchen halten und miteinander scherzen, legt eine Puppe auf einem Stuhl im Vordergrund – assistiert und gleichzeitig unterbrochen von ihrem Spieler Lars (Frank) – mit zuckenden Bewegungen Hand an sich. Die unterdrückte Gewalt, gegenseitige Abhängigkeit und verzweifelte Zuneigung, die sich hier bereits andeuten, werden im Lauf des Abends immer wieder ausbrechen und die Abgründe des scheinbar harmlosen Puppenspiels offenlegen. Doch zunächst läuft die Show schwungvoll an mit der Ankunft des Stars Nils (Dreschke), der soeben aus Las Vegas heimgekehrt ist und auch an diesem Abend den Entertainer gibt. Seine Vorstellung der einzelnen Bauchredner und ihrer Puppen gleicht Porträts der schlimmsten Klischees, die sich – von der Populärkultur verbreitet und stellvertretend für alle Schausteller – in unser Gedächtnis eingebrannt haben: Puppenspieler und Bauchredner als gespaltene Persönlichkeiten, von einer schlimmen Kindheit traumatisiert, alles eitle Egos und soziale Versager. Die Regisseurin Gisèle Vienne und das erweiterte Ensemble des Puppentheaters Halle1 schleudern dem Publikum lustvoll und übertrieben diese Nummernrevue der Pathologien entgegen. Allerdings bleibt es nicht bei den aufgerufenen Stereotypen. Und das verdankt sich vor allem der hier eingesetzten, lange marginalisierten Kunst der Bauchrednerei, durch die die Regisseurin die zurecht gerühmte offene Spielweise des Hallenser Ensembles ergänzt – und zugleich produktiv verunsichert. Zum ersten Mal erprobt in ihrem Erfolgsstück „Jerk“, einem Solo für einen Handpuppenspieler und Bauchredner, treibt Vienne auch hier die Frage nach der Triebkraft der ausgestellten Spaltung von Körper und Stimme um, die für sie eine der Kernfragen des Theaters darstellt (siehe Interview S. 10). Auf den ersten Blick mutet alles an wie eine einzige große Therapiesitzung. Doch der zweite Blick enthüllt eine Vivisektion phantasmatischer Körper- und Subjektvorstellungen. Ein solches Theater macht es möglich: Darsteller, Rollenfigur, Puppe und Bauchstimme, Bewusstes und Unbewusstes, Eigenes und Fremdes – sie alle führen gleichzeitig und gleichberechtigt ein Konzert der Ängste und Begehrlichkeiten auf. Angefacht durch die Verwendung der tatsächlichen Namen der Darsteller oder unter die Gürtellinie zielender Scherze auf Kosten der Anderen wandelt die Produktion trittsicher auf dem Grat zwischen Realität und Illusion, ohne das eine dem anderen vorzuziehen. Und auch wenn die Inszenierung die einzelnen Darsteller in ihrer Präsenz und spielerischen Stärke unterschiedlich hervortreten lässt, so übernimmt doch jeder und jede einen mehrstimmigen Akkord in dieser Partitur der (Über)Lebensversuche, die Dennis Cooper zusammen mit dem Ensemble erstellt hat.
Das Ende ist so verhalten wie der Beginn und verweist nicht nur durch die Besetzung der englischen Fassung durch Jonathan Capdevielle (in der deutschen Fassung Christian Sengewald) auf „Jerk“. Das paralysierende Gemisch aus Dissoziation und Autoerotik, Missbrauch und Begierde, Einbildung und Realität wird diesmal zwar nicht über die Grenzen des Erträglichen hinausgetrieben. Doch auch hier hält das einleitende „Ich kann euch die Nummer vorspielen“ in seiner Doppeldeutigkeit das Publikum nur scheinbar auf Distanz.
www.buehnen-halle.de
1 Besetzung: Jonathan Capdevielle/Christian Sengewald, Kerstin Daley-Baradel, Nils Dreschke, Sebastian Fortak, Lars Frank, Uta Gebert, Vincent Göhre, Ines Heinrich-Frank, Katharina Kummer