kein schlussstrich!
Im Namen der Opfer
„Die Lücke 2.0“ von Nuran David Calis am Schauspiel Köln
von Martin Krumbholz
Erschienen in: Theater der Zeit: Kleiner Mann, was nun? – Geschlechterbilder im Theater – Ein Jahresrückblick (12/2021)
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Nuran David Çalis Schauspiel Köln
Nur einmal um die Ecke braucht man zu gehen, um vom Depot, dem Ausweichquartier des Schauspiels Köln, in die Keupstraße zu gelangen, wo im Sommer 2004 in einem Friseurgeschäft der Nagelbombenanschlag stattfand, eines von vielen rechtsterroristischen Attentaten des sogenannten NSU, bei dem glücklicherweise niemand zu Tode kam, aber 18 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Es lag also nah, der Neuinszenierung des Stücks „Die Lücke“ von Nuran David Calis im Rahmen des bundesweiten Projekts „Kein Schlussstrich!“ eine Führung durch das Quartier vorauszuschicken, dessen Geschichte in den sechziger Jahren begann, als türkische Migranten, „Gastarbeiter“, sich hier ansiedelten, weil die Wohnungen erschwinglich und Arbeitsplätze in der Nähe waren – unter anderem eben jenes Carlswerk, eine Kabelfabrik, in der heute das Theater residiert. 17 Jahre sind seit dem Anschlag vergangen, zehn seit der Enttarnung des NSU, sieben seit der Premiere der „Lücke“ und drei seit dem Ende des Münchner Prozesses, der für viele Opfer, Nebenkläger und Beobachter einen enttäuschenden Ausgang nahm, da die Urteile unterm Strich eher milde ausfielen.
Heute wirkt die Keupstraße, jedenfalls auf den ersten Blick, mit ihren vielen Geschäften und Restaurants belebt wie eh und je. Doch der Anschlag hat eine Zäsur bewirkt; keinen Stillstand, keineswegs, nur ist die einst greifbare Lebensfreude nicht mehr gänzlich ungetrübt. Das Friseurgeschäft ist verschwunden, an seiner Stelle befindet sich ein Juwelier, doch die Nägel in der Decke und den Wänden sind nie entfernt worden. Ein Mahnmal gibt es übrigens immer noch nicht, in der Aufführung wird darauf hingewiesen.
Die Restaurants sind an diesem Freitagabend durchaus belebt, das (post-)migrantische Köln kommt hier zusammen, Familien, auch einzelne Männer. Damals, 2004, sahen Polizei, Staatsanwaltschaft und Presse hinter der „multikulturellen“ Kulisse der Keupstraße offenbar so etwas wie eine opake Parallelwelt, in der sich mysteriöse und obskure Dinge abspielten, Drogenhandel etc. Darin lag vermutlich der Grund dafür, dass die Ermittlungen von Anfang an so einseitig abliefen, immer mit dem Verdacht, bei dem Anschlag müsse es sich um eine innertürkische Angelegenheit handeln, in Form Organisierter Kriminalität.
Organisierte Kriminalität stellte auch der NSU dar, im Kern nur drei Täter, aber aller Wahrscheinlichkeit nach unterstützt von einem Netzwerk Gleichgesinnter. Allenfalls die Länge des Münchner Prozesses wurde diesem Umstand gerecht. Der Zorn der Betroffenen ist also nicht wirklich befriedet, der Schmerz über das Geschehene lässt die Familien nicht los. Darin liegt ein wesentlicher Impuls für die Wiederaufnahme und Bearbeitung der Inszenierung von 2014. Calis ging und geht es darum, die Täter-Opfer-Umkehr zu thematisieren, die These von den fehlgeleiteten „Einzeltätern“ zurechtzurücken und vor allem die Opfer zu Wort kommen zu lassen, deren Bedürfnisse, wie er sagt, stets zu kurz kämen. Inzwischen sind, wie in Hanau, weitere Anschläge geschehen, darüber hinaus wurden rechtsradikale Sympathien bei Polizei und Bundeswehr bekannt, mit der Folge, dass sich migrantische oder migrantisch aussehende Menschen auf deutschem Boden nach wie vor nicht uneingeschränkt sicher fühlen.
Die Aufführung ist äußerlich schlicht, die Gespräche zwischen den Akteuren werden nur durch gelegentliche Videoeinspielungen gegliedert. Es fällt dabei auf, dass die zwei Gruppen auf der (ebenfalls schlichten) Bühne sich nie wirklich vermischen. Am Anfang sind sie sogar optisch deutlich voneinander getrennt: hier die beiden deutschen Profis (die Schauspieler Kristin Steffen und Stefko Hanushevsky), dort die drei (post-)migrantischen Laien (Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir, Kutlu Yurtseven). Die Profis gebärden sich als gutwillige Liberale, deren moderate Grundhaltung hin und wieder mit einem Schuss Naivität, manchmal auch Borniertheit gewürzt ist. Das ist wohl Absicht, ein Kunstgriff, der den durchaus didaktischen Ansatz der Aufführung befördert. Die Laien (zwei von ihnen sind in Köln geboren) geben sich auskunftsfreudig, gesprächig, engagiert, die gutartige Naivität ihrer Gesprächspartner kontern sie mit freundlichem Bescheidwissen, bisweilen auch mit lautstarker Empörung. Einen spürbaren Dissens zwischen diesen und jenen gibt es nicht, aber auch keine wirkliche Verschmelzung. Es bleibt: eine „Lücke“. Aus dem anfangs bekundeten Befremden entwickelt sich allenfalls eine behutsame Sympathie. //
Theater der Zeit ist Medienpartner des Projekts „Kein Schlussstrich!“.