Theater der Zeit

Gespräch

Neue Perspektiven auf etwas sehr Bekanntes

Fünf Fragen an das Duo „Kinbom & Kessner“ über die Kunst des Musikvideos, die Magie von Theatermusik und ihre zukünftigen Pläne als Musiker:innen.

von Kinbom & Kessner und Lina Wölfel

Assoziationen: Akteure ANTHROPOS

Foto: Jenny Fitz

Anzeige

Anzeige

Sie sind politische Liedermacher:innen. In ihren Liedern beschäftigen sie sich mit historischen, gesellschaftlichen und philosophischen Schlüsselthemen, erzählen vom Menschsein, von Liebe und Todessehnsucht. Kinbom & Kessner ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem schwedischen Multi-Instrumentalisten und Komponisten Fredrik Kinbom und der deutschen Theatermacherin Sonja Kessner. Am 10. Juni 2022 erschien „Anthropos“, das dritte Studioalbum des Duos bei uns im Theatermusikverlag Hook Music. Es beschäftigt sich mit dem Anfang und Ende des Anthropozäns – ein neues geologisches Zeitalter, in dem die Menschheit den dominanten geophysikalischen Einfluss auf das Erdsystem hat und daraus die Verantwortung des Menschen für die Zukunft des Planeten abgeleitet wird. Zu „Alexandria“, einem Song auf dem Album, erscheint morgen ein ganz besonderes Musikvideo, das im Rahmen des interdisziplinären Projektes „Anthropos Ex (Machina)“ von und mit Theater.Macht.Staat und Gästen entstanden ist. Wir haben mit Fredrik Kinbom und Sonja Kessner über dieses Video gesprochen.

Lina Wölfel: Wie kommt’s, dass ihr einen großen Musik-Video-Release plant, sind Musikvideos nicht eigentlich so gut wie tot?  

Fredrik Kinbom: Musikvideos spielen vielleicht nicht mehr dieselbe Rolle wie zu MTV-Zeiten. Aber besonders in den sozialen Netzwerken gibt es jede Menge Video-Content von Musikschaffenden. Viele Menschen hören beispielsweise Musik über YouTube. Da finde ich es lohnenswert, wenn auch die Bilder zur Musik dort eine eigene künstlerische Qualität haben. 

Sonja Kessner: Genau. Ich fand gute Musikvideos auch immer inspirierend. Unser Projekt ist an der Schnittstelle von Musik und Theater sowieso schon interdisziplinär ausgelegt. Und auch darüber hinaus sind wir beide interessiert an anderen, besonders visuellen Kunstformen. Außerdem ist es natürlich besonders schön, wie in diesem Fall, so spannende Kunstschaffende wie wer.wether und Leonard Wölfl für eine Zusammenarbeit gewinnen zu können. 

„Ich finde es spannend zu sehen, welche Bilder in den Köpfen von anderen entstehen und wie die sich von meinen eigenen unterscheiden. “

Fredrik Kinbom

Inwiefern empfindet ihr Musikvideos als eigene Kunstform?  

Sonja Kessner: Für mich sind Musikvideos eine Art der Kurzfilmkunst, die als Ausgangspunkt aber die Musik hat und nicht zum Beispiel eine narrative oder visuelle Idee. Dadurch entstehen filmische Arbeiten, die ohne die Musik als Ausgangspunkt in dieser Weise sicher nicht entstehen würden. 

Fredrik Kinbom: Das sehe ich auch so. Ich arbeite unter anderem auch als Komponist für Filmmusik. Hier muss man sich meistens stark nach dem Bildmaterial richten. Im Fall von Musikvideos finde ich es daher auch spannend, dass es hierbei andersherum der Fall ist. Am konkreten Beispiel des Musikvideos zu „Alexandria“ finde ich es außerdem auch persönlich sehr interessant zu sehen, welche Bilder bei wer.werther und Leonard Wölfl aus der Auseinandersezung mit unserem musikalischen Material entstanden sind. Man hat immer auch eigene Bilder zur Musik im Kopf. Ich finde es spannend zu sehen, welche Bilder in den Köpfen von anderen entstehen und wie die sich von meinen eigenen unterscheiden.  

„Der Liedtext ist zwar sehr assoziativ, wird aber an vielen Stellen auch konkret und benennt historische Referenzen wie die Bücherverbrennungen oder den Brand der Bibliothek von Alexandria. Das Video behandelt das gleiche Kernthema, nämlich Wachstum und Zerstörung in seiner zeitlichen Dimension.“

Sonja Kessner

Wie komplettiert das Musikvideo eure Musik? Wie greift es den Grundton und die Kernaussagen des Songs auf?  

Fredrik Kinbom: Ich empfinde „Alexandria“ als eine musikalische Reise, die an einem bestimmten Punkt beginnt und an einem deutlich anderen endet. Ich finde, dass das Video diese Bewegung und den Puls in der Musik sehr treffend aufgreift und widerspiegelt. Gleichzeitig überrascht es mich auch auf sehr inspirierende Weise; Während der Arbeit an dem Song –  auch und gerade während der Postproduktion –  habe ich ihn natürlich endlos oft gehört. Das Video ist für mich eine frische, neue Perspektive auf etwas sehr Bekanntes.  

Sonja Kessner: Der Liedtext ist zwar sehr assoziativ, wird aber an vielen Stellen auch konkret und benennt historische Referenzen wie die Bücherverbrennungen oder den Brand der Bibliothek von Alexandria. Das Video behandelt das gleiche Kernthema, nämlich Wachstum und Zerstörung in seiner zeitlichen Dimension. Es findet allerdings mit dem Entstehen und Verwelken von Blumen, der Verbindung von pflanzlicher, tierischer und menschlicher Physiognomie und den starken Todesmotiven einen ganz eigenen und andersartigen Zugriff darauf. Für mich funktioniert es inhaltlich fast wie ein Kommentar oder eine Ergänzung. Musik, Text und die visuelle Ebene treten hier auf eine für mich sehr interessante Weise in Dialog zueinander.  

Das Musikvideo unterscheidet sich ja deutlich von dem, was man als Musikvideo so kennt. Wie kamt ihr auf diese Gestaltungsidee?  

Sonja Kessner: Die Idee zu dem Video kam, weil ich Cosmea Spellekens Online-Theaterstück „werther.live“ gesehen habe und sehr mochte. Besonders beeindruckt haben mich die analogen Bildcollagen, die ich als solche schon sehr gut fand und die ich auch in ihrer Einbettung in das digitale Medium als sehr wirkungsvoll empfunden habe. Wir haben deshalb angefragt, ob man aus Collagen dieser Art nicht auch ein Musikvideo machen könnte. Wer.werther hatte dann die Idee, einen Animatonsfilm für das Lied „Alexandria“ zu machen, hat das Konzept und das Bildmaterial entwickelt und für die Animation noch Leonard Wölfl mit ins Boot geholt. Bei Inhalt und Umsetzung haben wir den beiden völlig freie Hand gelassen. Wir wollten uns überraschen lassen. 

Was sind eure nächsten Pläne als Musiker:innen? Woran arbeitet ihr grade? Was würdet ihr gerne realisieren? 

Sonja Kessner: Gerade arbeiten wir an der Theatermusik für ein interdisziplinäres Projekt namens „Anthropos Ex (Machina)“, das wir mit meinem Theaterensemble „Theater.Macht.Staat“ und Gästen aus Bildender Kunst, Film und Performance Art umsetzen. Das Musikvideo zu „Alexandria“ ist auch in diesem Kontext entstanden und wird in diesem Rahmen auf Leinwand gezeigt werden. Die Aufführungen sind am 24. und 25. März in der Brotfabrik Berlin. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Fonds Darstellende Künste, der das Projekt finanziert. 

Fredrik Kinbom: Für die Theatermusik haben wir sowohl neue Musik geschrieben als auch instrumentale Adaptionen der Lieder von unserem aktuellen Album „Anthropos“ entwickelt und aufgenommen. Gerade arbeite ich im Studio an der Postproduktion und bin begeistert, besonders auch von der Performance unserer Band-Kollegen Andreas Dormann und Chris Farr. Ich kann mir gut vorstellen, auch über „Anthropos Ex (Machina)“ hinaus mit den Aufnahmen zu arbeiten und vielleicht sogar ein neues Album daraus zu machen.

Sonja Kessner: Mir gefällt sehr, dass innerhalb dieses Projektes die Verbindung zum Theater, das mein Kerngebiet ist, so konkret wird. Wir haben zum Beispiel ein tolles Ausstattungsteam (Angharad Matthews und Adrian Williams), das auch den visuellen Aspekt unserer Live-Performance wesentlich stärker ins Performative rücken wird. Außerdem arbeiten wir im Rahmen von „Anthropos Ex (Machina)“ nicht nur mit meinen Texten, sondern auch mit Texten des Autors Anton August Dudda. Die Verbindung von Musik und Theatertexten - nicht nur meinen eigenen - ist für mich eine Richtung, die ich gerne weiter verfolgen möchte. 

 

Erschienen am 14.3.2023

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"