Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik
Freigänger
Eine Reportage fürs Theater
von Anna Papst
Erschienen in: Theater der Zeit: Work, Bitch – Die Regisseurin Pınar Karabulut (03/2019)
Assoziationen: Dramatik Schweiz Bühnen Bern
Einführung
Witzwil ist der grösste Landwirtschaftsbetrieb der Schweiz. Auf 800 Hektar leben hier 450 Rinder, 100 Pferde, 1000 Schweine und 30 Bienenvölker. Um diese, sowie um die Äcker, Obstanlagen, die Schlachterei und sämtliche Handarbeiten von Schreinerei bis zur Textilwerkstatt, kümmern sich 166 erwachsene Gefangene, die hier ihre Strafe im offenen Vollzug verbüssen. Witzwil ist nämlich gleichzeitig die grösste offene Strafvollzugsanstalt der Schweiz, neben den Gefangenen arbeiten hier 139 Angestellte.
Offener Vollzug bedeutet, dass die Männer, die hier leben, nur nachts in ihre Zelle eingeschlossen werden. Tagsüber dürfen sie sich auf dem eingezäunten Gelände frei bewegen. Es besteht Arbeitspflicht, jedem der Gefangenen wird eine Arbeit zugewiesen, die er bis zu seiner Entlassung täglich zu verrichten hat.
Wer nach Witzwil kommt, hat die letzte Stufe des Vollzugs erreicht und wird in absehbarer Zeit in die Freiheit entlassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Gefangene zuvor eine lange Freiheitsstrafe im geschlossenen Vollzug verbüsst hat, oder ob er direkt hierherkam. Entsprechend divers sind die Straftaten, die die Männer begangen haben.
Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Witzwil beträgt sieben Monate und zwölf Tage. In dieser Zeit dürfen die Gefangenen einmal wöchentlich während eineinhalb Stunden Besuch empfangen. Alle sieben Wochen können sie zudem bei Urlaubsberechtigung ein Wochenende in Freiheit verbringen.
Kontakt zu Angehörigen kann ausserdem per Post oder per interner Telefonzelle gehalten werden. Mobiltelefone und Internetanschluss auf der Zelle gibt es nicht.
Hier in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Witzwil hat die Autorin Anna Papst die meisten ihrer Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen getroffen.
Nur in Deutschland und Finnland wird ähnlich viel für die Resozialisierung ehemaliger Straftäter und Straftäterinnen getan wie in der Schweiz. Um ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fördern, werden die Gefangenen durch Berufsbildung sowie durch therapeutische Begleitung und Anbindung an bestehende Soziale Dienste bei der Planung ihrer Zukunft unterstützt. Wer im offenen Vollzug eine Regel übertritt, beispielsweise zu spät vom Urlaub zurückkehrt, wird sanktioniert oder je nach Häufigkeit und Schwere des Fehlverhaltens in den geschlossenen Vollzug zurückgestuft. Offene Strafvollzugsanstalten wie Witzwil stehen daher auf der Grenze zwischen Gefängnis und Freiheit.
Statistiken belegen, dass Straftäter, die direkt aus einer geschlossenen Institution entlassen werden, eine höhere Rückfallquote aufweisen als Gefangene, die aus einem offenen Regime entlassen werden. Allerdings stehen die Befürworter des offenen Strafvollzugs immer wieder in der Kritik, besonders, wenn Straftäter während des Vollzugs flüchten oder ein Verbrechen begehen. Deshalb wird seit rund zwanzig Jahren nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft der Täter beurteilt: Gefährlichkeitsprognosen sollen aussagen, ob eine Person wieder straffällig werden wird, und über ihre Freilassung entscheiden. Als gefährlich geltende Straftäter können zum Schutz der Bevölkerung auch nach Ende ihrer Freiheitsstrafe weiterhin inhaftiert bleiben. Sie werden verwahrt.
In der Schweiz sind zurzeit 6863 Personen inhaftiert, davon 382 Frauen. 106 Institutionen regeln den Vollzug, davon sind lediglich rund zehn auf einen rein offenen Strafvollzug ausgerichtet.
Weit mehr als 95 Prozent aller Inhaftierten werden nach Ablauf ihrer Strafe wieder freigelassen und kehren in die Gesellschaft zurück.
Wie die Gefangenen sich in der Unfreiheit auf die Freiheit vorbereiten und wie ehemalige Straftäter in die Mitte unserer Gesellschaft zurückkehren können, davon handelt diese Reportage. Alle neun porträtierten Personen hat die Autorin persönlich getroffen. Die Gespräche wurden aufgezeichnet und sind in verdichteter Form wiedergegeben. Es gibt keine Fiktionalisierung, nur eine Anonymi¬sie¬rung, da einige der Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen nicht erkannt werden möchten.
Dies sind ihre Geschichten.
I Walter Künzler, 53, Kaufmann, JVA Witzwil
Meine Fr…
Die Freiheit,
die Sie haben,
die ist hier drinnen gar nicht mehr …
Die ist weg.
Die hat man nicht.
Die ist einem
gar nicht mehr bewusst.
Wenn du Urlaub hast
gehst du nach … Ins …
gehst an den Bahnhof.
Du hast Jeans an,
hast dein Handy,
sitzt im Zug.
Siehst die Freiheit.
Siehst die Leute im Zug.
Kommst nach Bern.
Hauptbahnhof.
Ein ungeheures Gewühl,
überall wird geredet,
ein Hund bellt.
Du bleibst stehen,
du bist versteinert
und …
bist sprachlos.
Du schaust dich um
und
schaust dir alles an.
Was sind Leute?
Was ist ein Supermarkt?
Was ist ein …
ein Fahrkartenautomat?
Was ist eine Tram?
Was ist der ganze Lärm?
Das kennst du alles nicht mehr.
Es fliegt dir um die Ohren.
Das ist für einen Menschen,
das heisst,
für mich,
wie eine Droge.
Du ziehst das alles in dich rein,
alles auf einmal,
alles gleichzeitig.
Und das ist wahnsinnig.
Wahnsinnig schön.
Ich kam von einem Tag
auf den anderen
in Haft,
Untersuchungshaft.
Zehn Monate.
In der Untersuchungshaft
versuchst du alles,
um so schnell wie möglich …
Du entwickelst irgendeine Strategie,
probierst über Psychiater …
Du willst einfach raus.
Raus!
Es kann nicht sein, dass du gefangen bist.
Das darf man dir doch nicht antun.
Du bist doch nicht so schlecht.
Du fängst an, dich zu wehren.
Wie ein kleines Kind.
Ich will.
Ich will das.
Du kriegst es nicht.
Ich
will
raus.
Schluss jetzt!
Du musst da bleiben.
Nach der Untersuchungshaft
kam ich hierher.
Wenn du dich benimmst,
ist Witzwil …
hat man nicht das Gefühl,
in einem Gefängnis zu sein.
Sie lassen dir kleine Freiheiten,
aber wenn du diese Freiheiten übertrittst,
wirst du zurückversetzt in den Normalvollzug.
Geschlossen,
wo du nur in der Zelle hockst.
Stundenlang.
Wo du wieder …
wieder anfängst zu mühlen.
Ich bin erst zwei Monate hier.
Muss noch
mindestens
dreizehn Monate bleiben.
Das wäre die Zweidrittelentlassung.
Die Endstrafe
hätte ich erst
in 20 Monaten abgesessen.
Wenn ich alles zusammen …
mit Untersuchungshaft … Knapp vier Jahre.
Nur sehr, sehr wenige
meiner Bekannten haben gefragt:
Was hast du eigentlich getan?
Was hast du getan?
Warum …
Es wurde nur getratscht.
Du hast sicher da
bei deinem Job
im Autogewerbe, wo du warst,
irgendwie …
Das war alles.
Ich habe nicht das Gefühl,
dass es meine Betrügereien
oder meine Veruntreuungen sind,
die die Leute um mich herum
abgeschreckt haben.
Es ist eigentlich eher …
äh …
Sie können nicht damit umgehen.
Sie können nicht damit umgehen.
Sie können nicht …
Zum Beispiel
wenn ich anrufe,
wissen sie nicht:
Wie muss ich jetzt mit Walter reden?
Wie gehe ich mit dieser Materie um?
Wie gehe ich mit dieser Materie um?
Als Häftling musst du lernen,
dass selbst deine Angehörigen sich entfernen.
Das ist …
schmerzhaft.
Sehr schmerzhaft.
Das tut weh!
Wenn dich dann doch jemand besucht
oder anruft,
legst du los mit deinem Zusammenschiss:
Warum hast du dich nicht gemeldet, warum nimmst du das Telefon nicht ab, warum schreibst du mir nicht mehr?
Anstatt dass du Sorge trägst,
wie für eine Pflanze.
Du erwartest,
dass die Leute aus der Freiheit
auf dich zukommen.
Es ist aber umgekehrt.
Du musst als Gefangener
auf die Leute,
die Gottseidank noch zu dir halten,
zugehen.
Vorsichtig sein.
Bitte.
Mir würde es helfen,
wenn ich dich
einmal am Tag oder einmal in der Woche eine Minute anrufen dürfte.
Nur um deine Stimme zu hören.
Ich telefoniere regelmässig mit meiner Ex-Frau.
Unsere Ehe ist in die Brüche gegangen,
als ich das erste Mal
ins Gefängnis gekommen bin.
Erst gestern
habe ich sie angerufen.
Sie war deprimiert und traurig.
Da denke ich doch nicht:
Hey hallo, was jammerst du?
Ich bin im Gefängnis.
Tröste,
tröste mich!
Nicht ich dich!
Lass das
draussen,
bring deine Traurigkeit
nicht hier rein.
Ich habe mit ihr geredet
und sie unterstützt.
Als ich das Telefon aufgelegt habe, habe ich gesagt:
Jetzt geht es mir gut.
Trotz der ganzen Scheisse,
in der ich stecke,
konnte ich jemandem helfen.
Also bin ich nicht niemand.
Ich habe in der Zeit
zwischen meiner ersten
und meiner zweiten Gefängnisstrafe
eine neue Beziehung begonnen.
Als ich zum zweiten Mal verurteilt wurde,
habe ich es der Beziehung nicht gesagt.
Ich habe nicht gesagt, dass ich in die Kiste muss.
Ich habe das aufgeschoben.
Ich dachte: Ja-ah,
der Zeitpunkt wird kommen.
Bei einem Gläschen Wein
oder irgendwann.
Den Zeitpunkt habe ich
aufgeschoben,
aufgeschoben,
aufgeschoben.
Der ist nie,
nie gekommen.
Nie gekommen.
Bis sie mich verhaftet haben.
Nach 14 Tagen Gefängnis
hat meine …
ich sage jetzt immer noch:
Freundin,
signalisiert,
dass sie sich zurückziehen
und ein eigenes Leben anfangen will.
Da habe ich gesagt,
ich muss nicht so lange bleiben.
Im Gefängnis.
Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich
bis noch dreizehn Monate,
bis nächstes Jahr …
Ich habe ihr gesagt,
das sind drei, vier Monate.
Weil ich Angst hatte,
wenn ich sagen würde,
ich komme erst nächstes Jahr raus,
dann ist aus die …
aus die Maus.
Was weiter wird,
weiss ich nicht.
Aber in meinen Gedanken ist sie noch da und wartet auf mich,
bis ich rauskomme.
Den Spruch: Es wird alles gut.
Es wird alles gut.
Den hört man immer hier drin,
der hilft einem …
Wie soll ich sagen?
Wenn Sie mir das jetzt sagen würden.
Wenn Sie sagen würden,
das kommt gut bei Ihnen.
Was?
Was kommt gut?
Was kommt gut?
Wenn Sie nach Hause gehen,
gehe ich wieder in die Zelle zurück.
Ich bin alleine,
ich bin …
Mir kommt es so vor, wie wenn ich …
Wie wenn ich mein Leben lang sitzen müsste.
Ich bin spät ins Gefängnis gekommen.
Mit knapp fünfzig.
Ich habe den Bogen überspannt.
Ich habe gedacht,
das verträgt es noch,
das verträgt es auch noch.
Was du da machst,
bringt dich nicht ins Gefängnis.
Das gibt nur
ein bisschen Gericht,
ein bisschen bedingte Strafe,
ein bisschen Geldbussen.
Mir war nicht bewusst:
Wenn du so weitermachst,
kommt einmal das Fallbeil
und Peng.
Ich habe kein schlechtes Gewissen.
Ich habe Leute geschädigt,
finanziell,
aber die,
die ich geschädigt habe,
denen habe ich keine Existenzen genommen.
Ich habe keine Familien zerstört.
Ich habe niemanden umgebracht.
Denen fehlen einfach ein paar Scheine in der Kasse.
Das heisst nicht, dass ich keine Skrupel habe.
Aber ich habe einfach keine …
Wenn einer kommt und sagt:
Hör zu, du schuldest mir noch 10 000 Franken.
Dann sage ich:
Ja, in Gottes Namen,
ich kann sie dir nicht geben.
Ich habe Scheisse gebaut.
Ich entschuldige mich bei dir.
Aber ich bin gesessen.
Peng.
Schluss.
Es regt mich auf,
fernzusehen hier drinnen.
Wenn du ihn einschaltest,
was siehst du als erstes?
Probleme,
Streit zuhause,
Polizeiauto,
Gerichte,
Anwälte,
Gefängnisse,
Bussen.
Die ganzen Medien
verdienen im Prinzip auf Kosten der Leute,
die straffällig geworden sind
wie ich,
ihr Geld.
Entschuldigung, dass ich Ihnen das sage.
Im Prinzip auch Sie, ja.
Diese Sensationslust.
Ist doch nicht interessant,
wenn du einen auf den Weissenstein hochwandern siehst
und der brät dort oben eine Wurst.
Ist doch interessant,
wenn einer einen Raubüberfall macht
und die Polizei kommt
und sucht den überall
und verhaftet ihn
und dann fliesst noch ein bisschen Blut.
Das ist doch lustig anzusehen.
Oder?
Ich rege mich so wahnsinnig auf,
dass man uns,
die im Gefängnis sind,
wie im zoologischen Garten
oder als eine Art Clowns betrachtet.
Zuerst fluchen sie draussen über uns,
und zuhause konsumieren sie uns.
Einem Polizisten, der mir gesagt hat:
Ihretwegen habe ich jetzt viel Arbeit!,
habe ich geantwortet:
Ja.
Aber Sie haben Arbeit.
Sie haben einen Job.
Sie haben eine Familie
und Sie verdienen Geld.
Meinetwegen.
Ich hätte eigentlich schon
vor zehn Monaten in Witzwil einrücken sollen.
Stattdessen bin ich nach Barcelona gegangen. lacht
Ich bin sechs Monate untergetaucht.
Man ist in der Freiheit gefangen.
Du bist ausgeschrieben,
du wirst gesucht.
Du kannst keine Wohnung mieten,
weil du dich nirgends anmelden kannst.
Es ist gut möglich, dass ich nach meiner Entlassung
wieder in Spanien bin.
Weil äh …
So wie es aussieht,
wird meine Zukunft nicht mehr stattfinden.
In der Schweiz.
Und ausserdem muss ich …
muss ich einfach …
Ich muss es hinter mir lassen.
Das Alte.
Am ersten Tag in Freiheit
werde ich etwas Gutes essen gehen.
Vielleicht an einem See
oder in den Bergen.
Ich werde in einem Restaurant sitzen
und ein bisschen die Natur anschauen.
Und durch …
durchatmen.
Durchatmen.
Du hast es geschafft.
Vielleicht lade ich mir jemanden ein:
Verbring den Tag mit mir!
Dass wir zusammen Freude haben können.
Dass du an meiner Freiheit,
an meiner Freude,
teilhaben kannst.
Das Tragische an dem Ganzen ist,
dass du die Berauschtheit,
die du hast,
dass du die schnell verlierst.
Alltagstrott.
Bum.
Da kommt er.
Und das ist vielleicht der Grund,
warum gewisse Leute,
und vielleicht auch ich,
riskieren,
wieder ins Gefängnis zu kommen.
Wenn man das Glücksgefühl jeden Tag hätte,
die Leute, die auf dich zukommen,
der Fahrkartenautomat,
die Tram,
die Sonne,
das ganze Zeug,
dann sagst du: Stopp!
Ich will das alles …
Ich will das alles nicht verlieren.
Das muss bei mir bleiben.
Ich möchte schauen,
dass ich,
wenn ich rauskomme,
meine Freiheit behalten kann.
Ich versuche es.
Hm.
Kann nicht sagen, ich …
es ist hundertprozentig. Aber …
Ich versuche es.
Ja.
II Joel Weber, 37, Bauarbeiter, JVA Witzwil
Wenn du dir Koks spritzt
und am Anfang die klare Flüssigkeit
in der Spritze drin hast
und dann das Blut
in die Spritze zurückziehst
und wieder abdrückst,
nur einen winzigen Tropfen abdrückst,
dann spürst du
diesen Tropfen
sofort im Herz.
Innerhalb von einer Hundertstelsekunde
ist er da.
Deine Atmung verschnellert sich.
Du schmeckst das Koks auf dem Gaumen.
Dein Herz pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
pumpt
sich ans Limit.
Du verlierst die Kontrolle.
Für fünf,
sechs,
sieben,
acht
Minuten.
Du rutschst an den Tod heran.
Das Einzige,
was mich in die Nähe dieses Gefühls bringen würde,
wäre wahrscheinlich Base-Jumping.
Alles andere ist Nasenwasser.
Fahrradfahren
oder sonst irgendwie …
ist alles Scheisse.
Man sagt mir immer:
Sie müssen mit weniger zufrieden sein.
Sie müssen mit weniger zufrieden sein.
Aber ich will einfach nicht.
Scheissdreck.
Ich bin schon länger kriminell unterwegs.
Genau genommen, die letzten zwanzig Jahre.
Man hat mich immer wieder rausgelassen.
Erstens bin ich Schweizer Bürger
und zweitens sind die Delikte harmlos,
immer Diebstahl
oder Handel
oder Konsum.
Das ist etwas anderes,
als wenn ich einen abknalle.
Als ich mit achtzehn auf der Strasse gelebt habe,
bin ich jede Woche bei den Bullen gewesen.
Ich habe relativ hohe Strafen bekommen,
habe aber nie sitzen müssen.
Dreissig Tage,
sechzig Tage,
neunzig Tage,
hundert Tage,
alles auf Bewährung.
Ich habe geglaubt,
das läuft so weiter.
Bis dann die erste Strafe kam.
Ein Jahr.
Ich war zwanzig.
Da kullert dir schon ein Tränchen raus.
Wenn die Tür zufällt
und sich von innen
nicht mehr öffnen lässt.
Das ganze Kistenzeug verdanke ich den Drogen
und meinem ausschweifenden Lebensstil.
Ich hatte mal ein normales Leben.
Ich bin gelernter Weinbauer.
In der Ausbildung
haben wir eine Budgetplanung gemacht.
Ausgerechnet,
was uns am Wochenende
an Geld übrig bleibt.
Da …
Da kriegst du Krämpfe.
Man schuftet sich ab und am Schluss …
hat man trotzdem nichts.
Bezahlte Fixkosten.
Das ist doch nicht das Leben.
Wir verbringen unsere Zeit mit Arbeiten und …
mit Arbeiten.
Wir sind …
hm … Ich weiss nicht,
haben Sie nicht das Gefühl,
dass Sie in einem Rädchen leben?
Sie sind ein Scheisszahnrad in einem …
in einem System
und müssen spuren.
Und das drückt.
Also mich drückt es.
Wenn du Heroin rauchst,
fühlt es sich an
wie ein Einnicken.
Wie kurz bevor du
in den Schlaf fällst.
Du fühlst dich geborgen.
Nachdem ich es das erste Mal genommen hatte,
war ich mehrmals hintereinander
mit einer Überdosis im Krankenhaus.
Weil ich das wieder wollte.
Immer wieder dorthin.
Nach der ersten Strafe
steigert es sich.
Achtzehn Monate,
vierundzwanzig,
sechsunddreissig.
Man verliert den Überblick.
Wenn ich alles zusammenzähle,
sind es schon
fünf,
sechs Jahre,
die ich gesessen habe.
Da erschrickt man schon,
wie viele Tage das eigentlich sind.
Ich habe eine Tochter.
Wir halten telefonisch Kontakt.
Bisher war ich einfach
„auf Arbeit, im Ausland“,
wenn ich gesessen bin.
Jetzt ist sie zehn.
Jetzt blickt sie langsam durch.
Ich hab es ihr noch nicht gesagt.
Dass der Papa Scheisse gebaut hat.
Wie will man das auch …
Wie will man verklickern, dass … hm …
das eigene Vergnügen einem mehr wert ist,
als die Zeit,
die man mit der Kleinen hätte?
Schwierig.
Sehr schwierig.
Ich glaube, so in einem Jahr,
zwei,
möchte ich ihr die Wahrheit sagen.
Dann müsste ich auch zugeben,
dass ich schuldig bin.
Schuld an …
Schuld.
Aber äh …
Ich habe nie jemanden …
bedroht oder so.
Ich habe nie eine Omi niedergeschlagen.
Ich habe einfach genommen,
was rumgelegen ist.
Und wenn ich irgendwo etwas rausgenommen habe,
ist meistens die Tür offengestanden.
Jetzt bin ich zum Beispiel
wegen eines EC-Karten-Missbrauchs hier.
Ich habe eine EC-Karte gefunden,
bei der der Code dabei war.
Ich habe gedacht:
Holst dir halt das Geld.
In dem Moment,
in dem du die Karte reinsteckst,
ist dir klar,
dass sie dich schnappen könnten.
Aber es ist zu verlockend.
Wenn Sie schon mal etwas gestohlen haben,
einen Schokoriegel,
eine DVD,
ein bisschen Schminke,
kennen sie den Nervenkitzel.
Das Risiko erwischt zu werden,
gehört dazu.
Das Gehirn weist einen irgendwie …
dass dort etwas ist.
Eine Möglichkeit.
Du wirst ein bisschen süchtig danach.
Wenn man nach Jahren aus dem Gefängnis kommt,
hat man das wieder.
Den Kitzel, kurz vor dem …
Kurz bevor man die Straftat begeht.
Ich müsste mich selbst verleugnen,
wenn ich sagen würde:
Das war so schlimm!
Wie konnte ich nur!
Nein, ich habe das bewusst gemacht.
Die Welt hat mehr zu bieten
als arbeiten und schlafen.
Nur kannst du dir das ohne Geld nicht leisten.
Ich meine nicht Luxus
oder Mercedes
oder weiss ich was,
sondern einfach … machen, wonach einem zumute ist.
Essen, worauf man Lust hat.
Nicht dem Verdienst entsprechend.
Sondern was man will.
Das Einzige, was ich bereue,
ist nicht mehr Zeit mit meiner Tochter zu haben.
Das ist das Einzige.
Alles andere hat sich eigentlich …
hat sich alles immer gelohnt.
Ist ja nicht verwerflich,
dafür einzustehen.
Oder sehen Sie das anders?
Wenn Sie mir so beim Reden zuschauen,
kriege ich das Gefühl:
Gott verdammt,
bin ich ein abgefuckter Charakter.
Dieser Meinung bin ich eigentlich nicht.
Aber ich würde trotzdem gerne wissen,
ob Sie denken:
Ist das ein abgewichster Arsch.
Mit dem will ich nichts zu tun haben.
Meine Mutter hat langsam die Nase voll davon,
mich immer in Anstalten besuchen zu müssen.
Sie hat sich mein Leben anders vorgestellt.
Sie denkt,
die Erziehung ist schiefgelaufen.
Ich versuche ihr das auszureden.
Ich habe nie Probleme, einen Job zu finden.
Ich bin seit so vielen Jahren
bei den gleichen Temporärbüros,
die wissen, dass ich aus dem Gefängnis komme.
Die wissen aber auch,
dass ich Leistung bringe beim Arbeiten.
Ich brauche für meinen Konsum
pro Tag
ungefähr
sechshundert Stutz.
Ganz legal kannst du das nicht erwirtschaften.
Ich arbeite tagsüber temporär
und abends schwarz.
Mit der Schwarzarbeit
bin ich schon wieder kriminell.
Wenn alle Drogen legal wären,
wäre die Kiste leer.
Ich sehe das so:
Die ganze Justiz
ist ein einziger Riesenbetrieb.
Staatsanwaltschaft, Richter.
Die wollen auch Arbeit.
Die schauen,
dass die Karre am Laufen bleibt.
Mit der gestohlenen Karte
habe ich einen Tausender abgehoben.
Mehr ist nicht rausgekommen.
Ich hätte ja den Tausender wieder zurückzahlen können
plus 500 als Busse.
Dann müsste man mich nicht
acht Monate wegsperren
à 350 Franken am Tag.
Kostet ja viel mehr.
Und helfen tut es auch nicht,
weil man alle Kriminellen auf einem Haufen hat,
so dass die sich …
miteinander weiterentwickeln, sagen wir es so.
Aber es ist eben ein Betrieb,
der laufen muss.
Und alle Beteiligten schauen,
dass sie zu Fressen haben.
Darum werden auch Leute,
die Bussen nicht zahlen können,
eingesperrt
und bekommen pro Tag 100 Franken an die Busse bezahlt.
Kosten aber 350.
Also irgendwas stimmt da nicht.
III Adrian Berger, 45, Gärtner, JVA Witzwil
Ich bin noch vier Wochen hier.
Nicht mehr sehr lange.
Ursprünglich habe ich zuerst Landschaftsgärtner
und danach Topfpflanzen-Schnittblumengärtner gelernt.
Und dann habe ich die Obergärtnerschule gemacht.
Im Anschluss Lehrlingsbetreuer.
Äh …
Wo …
Also …
Mit 22 bin ich das erste Mal Vater geworden
und habe gleichzeitig gerade das erste …
die erste Gärtnerei übernommen.
Und ähm …
die ist dann ab-
gesoffen.
Also es hat ein Unwetter gegeben,
das hat die ganze Sache überschwemmt.
Danach habe ich
ein Gartencenter übernommen,
das geführt,
dreieinhalb Jahre.
Zuerst mit neun Leuten. Und dann sind mir die Leute weg …
wegrationali…
rationali…
wegrationalisiert worden,
bis wir nur noch zu viert waren.
Ich war nur noch im Geschäft.
Eines Tages habe ich gesagt:
Ich kündige.
Da hiess es:
Du kannst nicht kündigen.
Du bist der Chef.
Ich habe die Kündigung
trotzdem eingereicht.
Der Personalchef hat sie zerrissen.
„Du bleibst!“
Danach habe ich es ein zweites Mal gemacht.
Es ist dasselbe passiert.
Das dritte Mal habe ich meine Kündigung
direkt in die Zentrale eingereicht.
Daraufhin gab es ein Gespräch,
in dem mir gesagt wurde:
Ich könne nicht gehen,
bis sie einen Nachfolger hätten.
Aber ich war dermassen …
nur noch im Geschäft
und alles …
dass es einfach nicht mehr gegangen ist,
dass ich geantwortet habe:
Ich kündige per sofort.
Sie: Geht nicht!
Da habe ich meine erste
Straftat verübt.
Ich bin auf die Hinterseite des Gartencenters gefahren,
habe einen Kamin ins Auto geladen,
habe den Sicherheitsdienst angerufen
und mich erwischen lassen.
Lacht
So wurde mir dann doch gekündigt.
Danach habe ich eine weitere Gärtnerei übernommen,
mit drei
sogenannten
ganz grossen Aufträgen,
mit denen eigentlich
das Überleben gesichert gewesen wäre.
Aber dass die bereits ausgestiegen sind,
hatte man mir nicht gesagt.
Und als ich im nächsten Frühling
die Lieferung vorbeibringen wollte,
hiess es:
Wir haben einen anderen Lieferanten.
Ja, dann musste ich halt … schliessen.
Mit mehr oder weniger Verlust.
Dann war ich eine Zeit lang nur noch Angestellter.
Als Angestellter bin ich immer
ein bisschen
ein bisschen
unter Zeitdruck gewesen halt.
Habe es mit dem Fahren nicht so genau genommen.
Immer mal wieder eine Radarrechnung kassiert.
Irgendwann habe ich sie
nicht einmal mehr
aufgemacht.
Die Familie ist auseinandergegangen
und der Vater ist gestorben
und alles.
Ich war sowieso gerade an einem Punkt,
an dem ich
nicht mehr richtig wusste
wie,
was,
wo.
Irgendwann hiess es:
Jetzt gehst du in die Kiste.
Ein Jahr lang
bin ich
mehr oder weniger
nur für diesen Seich …
Felix Lehmann, 63, Betriebsdisponent, JVA Lenzburg
Lehmann: Ich kann Ihnen nicht sagen,
wie lange ich schon hier bin. Denn ich zähle nicht.
Ich zähle keine Jahre.
Berger: Ich bin jetzt
elf Monate
in Witzwil.
Lehmann: Es werden so fünf
oder sechs Jahre sein,
hier in Lenzburg.
Berger: Ich bin noch bis zum 30. hier.
Lehmann: Ich habe lebenslänglich.
Berger: Mein schlimmstes Verbrechen ist,
dass ich einmal einen Sekundenschlaf hatte
und auf der Autobahn
zwischen Münsingen und Wichtrach
durch den Wildzaun gebrettert bin.Weil ich das Gebiet ein bisschen kenne
dachte ich,
solange die Karre läuft,
einfach Gas geben,
denn das ist Naturschutzgebiet.
Ich hielt es für
gescheiter,
die Karre weiter vorne
irgendwo stehenzulassen
und mich
später
bei der Polizei zu melden.
Lehmann: Eines Tages wird die Justiz
in meine Zelle kommen:
Ihre Strafe ist beendet.
Die 25 Jahre sind vorbei.
Berger: Ich war so müde,
ich bin einfach nach Hause gelaufen
und habe ein paar Stunden geschlafen.
Lehmann: Und dann beginnt die Verwahrung.
Ich bin einer der wenigen in der Schweiz,
der hinterher noch eine Verwahrung hat.
Unbefristet.
Ich gelte als untherapierbar.
Berger: Die Karre habe ich in einer Unterführung abgestellt.
Das wird mir am höchsten angelastet:
Fahrerflucht.
Lehmann: Aber das stört mich
an und für sich nicht.
Mein Gesundheitszustand ist dermassen mies,
ich wäre draussen auch in einem Gefängnis.
Mir hat der Spezialist,
der Herzspezialist,
gesagt,
sie haben alle sieben Faktoren für den nächsten Infarkt. Ein Wrack,
aber
hier drin
bin ich
gut versorgt. Wenn irgendetwas ist,
habe ich hier einen Notrufknopf,
und dann kommen sie sofort angerannt.
Berger: Auch wenn sie es
nicht so deklarieren,
aber man ist halt trotzdem
nicht die gleiche Klasse Mensch
wie die,
die den Schlüssel haben.
Lehmann: Meistens vergessen sie den Defibrillator unten.
Berger: Was für mich schwierig ist:
Ich habe früher
viel Sport gemacht,
unter anderem Hockey gespielt, und zwei,
mit denen ich Hockey gespielt habe,
sind Angestellte hier,
und jetzt muss man sich siezen.
Aber ich sage immer:
Man ist nur so gefangen,
wie man sich …
Wenn einer den ganzen Tag nur darüber nachdenkt:
Wo bin ich jetzt
und wie lange
und so,
der leidet dann schon.
Lehmann: Bei meinem bewegten Leben
kann man nicht sagen,
das wäre anders verlaufen, wenn …
Berger: Ich bin zum ersten Mal im Gefängnis.
Lehmann: Das war eine Momentaufnahme im Zeitablauf.
Berger: Nur wegen des Fahrens.
Lehmann: Kennen Sie Zürich?
Dann wissen Sie ja,
wo die Neugutstrasse ist,
im Kreis 2.
Dort hatte es eine Pension,
die Pension Neugut.
Das war in der Halbfreiheit.
Dort habe ich den Gefängnisverwalter erschossen.
Und einen Insassen, der ihm helfen wollte.
Der Gefängnisverwalter
war ein Gauner.
Der hat auch versucht,
seine Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Und ich habe mir das nicht gefallen lassen.
Ich habe es ihm gesagt.
Zweimal habe ich es ihm gesagt.
Ich habe gesagt:
Hören Sie auf, mich zu schikanieren.
Und er hat nicht aufgehört.
Dann hat er halt in so ein Rohr hineingeschaut.
Berger: Was?
Lehmann: Er hat noch gesagt:
Berger: Hören Sie auf, das bringt doch nichts.
Lehmann: Ja, mir hat es schon etwas gebracht:
25 Jahre in der Kiste.
Das habe ich gewusst,
zu dem Zeitpunkt,
ich habe gewusst,
ich gehe lebenslänglich in den Knast.
Aber die Situation war so weit fortgeschritten,
dass es gar keinen Sinn mehr hatte,
umzudrehen.
Das war ein ganz langer Kettenablauf,
ein Glied
ums andere
ist abgegangen.
Ja.
Dann habe ich halt geschossen.
Auf den habe ich zweimal geschossen.
Und auf den anderen einmal.
Berger: Wahrscheinlich,
wenn der Vater nicht gestorben wäre,
wäre ich nie in die Situation gekommen,
dass ich gar nicht mehr …
Ja.
Davor
habe ich wirklich jede Busse
und allen Scheissdreck
gezahlt.
Dann ist er
vom einen auf den anderen Moment
gestorben,
der Vater.
Lehmann: Ich hätte wegen der letzten Strafe
aus dem Waffenträgerverzeichnis gelöscht werden sollen. Als ich in mein Stammwaffengeschäft gehe,
kommt der Verkäufer zu mir
und fragt:
Waren Sie schon Kunde bei uns?
Ich sage ja
und gebe ihm meinen Ausweis.
Er schaut im Computer nach
und sagt:
Richtig,
sie sind drin.
Man hat vergessen,
mich zu löschen.
Ist einfach irgendwie untergegangen.
Da hatte ich natürlich Tür und Tor …
Berger: Ungerecht behandelt?
Lange Pause
Gute Frage.
Vielleicht was das Strafmass angeht.
Schon ein bisschen.
Es ist einfach sehr hoch
angesetzt worden.
Der Richter hat gesagt,
es hätte mehr passieren können
und vor allem
müsste endlich mal
ein Zeichen gesetzt werden.
Im Prinzip
hätten sie mir ein paar Pfosten
in die Hand drücken können
und dann hätte ich den Zaun selbst geflickt.
Hätte ich wahrscheinlich mehr gelernt dabei.
Lehmann: Mein Vater
hat schon Schusswaffen gesammelt.
Gewehre,
Pistolen,
alles.
Ich bin mit Waffen aufgewachsen.
Berger: Ich verabscheue Gewalt.
Lehmann: Ich habe mir immer gesagt:
Richte nie eine Waffe auf einen Menschen,
ausser du willst sie gebrauchen.
Berger: Meine Ex hat mir einmal das Fleischmesserset nachgeworfen.
Lehmann: Das Problem ist,
irgendwann kommt der Moment,
der kommt immer,
da benutzt du so eine Waffe.
Berger: Ich habe mich nicht gewehrt.
Lehmann: Naja.
Im nächsten Leben bin ich dann der Papst.
Jetzt bin ich der Böse
und dann bin ich der Liebe.
Berger: Eins weiss ich:
Das Gefängnis hat mich vor vielen Rechnungen bewahrt.
Denn ich wäre dieses Jahr
noch zahlreiche Male
in eine Radarfalle geraten.
Ich glaube aber nicht,
dass mein Gefängnisaufenthalt
wirklich so eine nachhaltige
Dings
hat.
Ich glaube,
das geht nicht lange
und dann denkt man schon nicht mehr dran,
wenn man wieder irgendwo unterwegs ist.
Lehmann: Wenn ich mir die Welt so anschaue
und rekapituliere,
was draussen alles abgeht,
bin ich froh,
bin ich hier drinnen.
Berger: Was halt fehlt,
ist die Freiheit selbst.
Dass man halt,
wenn man,
schon nur, wenn man mit jemandem telefoniert,
dass man nicht sagen kann,
komm, wir gehen noch einen trinken
oder so,
sondern dass man halt einfach sagen muss,
in dem Fall,
geniess es
und trink einen für mich mit.
Am 30., wenn ich rauskomme …
Ich habe schon einen Tisch
in einem Restaurant reserviert.
Dort werden Meeresfrüchte
serviert.
Das gibt es hier drinnen nicht.
Vielleicht sieht man sich einmal.
Draussen.
Das könnte ich mir noch vorstellen
mit Ihnen. Ab.
Lehmann: Ich bin gelernter Betriebsdisponent.
Ich habe bei der Bahn gearbeitet.
Eines Tages kommt mein Chef zu mir und sagt:
Hör zu,
ich hätte noch eine zusätzliche Arbeit für dich.
Gibt jeden Monat 200 auf die Hand.
Früher gab es unter dem Güterbahnhof
vier unterirdische Stockwerke.
In den untersten zwei Stockwerken
waren 40 Tonnen Sprengstoff eingelagert.
Plus tausende von Sturmgewehren.
Dort habe ich dann mal 40 Kilo mitgenommen.
Und eine Schachtel mit 29 Zündern.
Aber es ist nie herausgekommen.
Ich weiss nicht,
ob mein Nachfolger das überhaupt gemerkt hat.
Jedes Jahr gibt es eine Generalinventur.
Die Palette,
die sie drin haben,
werden herausgenommen
und der frische Sprengstoff kommt rein.
Das hat ja ein Ablaufdatum,
das ist wie ein Kuchen.
Der alte Sprengstoff wird in die Vernichtung geführt.
Aber es ist nie herausgekommen.
Ich hatte eine Bande.
Wir haben Aufträge von Leuten angenommen,
die irgendetwas mit einem Geschäftsgegner hatten.
Da ging es zum Beispiel
um einen Parkplatz.
Es gab zwei Interessenten,
die beide das Gelände für sich wollten
und sich bis zur Verblödung bekriegt haben.
Der Eine kommt zu mir und sagt:
Können sie den Anderen nicht so schädigen,
dass wir in aller Ruhe den Platz übernehmen können,
weil der Andere anderweitig beschäftigt ist?
Da habe ich gesagt:
Das können wir schon machen.
Da haben wir vier Bomben,
kleine,
das sind keine grossen Bomben gewesen,
so kleine,
so 100-grämmige.
Es musste ja nur knallen.
Die haben wir auf dem ganzen Areal verteilt deponiert.
Acht Sprengstoffanschläge
konnte man mir nachweisen.
Dafür habe ich 16 Jahre kassiert.
Keinen der Anschläge habe ich aus einer persönlichen Motivation verübt.
Wir haben pro Auftrag 50 000 erhalten,
das war das Minimum.
Je nachdem,
wie gross der Aufwand war,
wurde es halt teurer.
Der billigste Auftrag
war ein Sexkino im Rotlichtbezirk.
Da hat uns ein dubioser Verein angeheuert.
Es sollte kein Sprengstoffanschlag sein,
aber das Haus sollte so geschädigt werden,
dass es mindestens für ein halbes Jahr ausfällt.
Ja, was machen Sie da?
Ich habe herumgefragt
und ein Bekannter hat mir gesagt:
Buttersäure.
Mein Komplize und ich haben beide
einen Neoprenanzug angezogen und sind mit einem 25-Liter-Kanister in das Kino reingestiefelt.
Die an der Kasse hat überhaupt nicht reagiert.
Die dachte vielleicht,
wir seien von der Schädlingsbekämpfung.
Die mussten die ganze Hütte aushöhlen,
so übel hat das gestunken.
Nur die Aussenmauern sind stehengeblieben.
Bei den Anschlägen
ist nie ein Mensch zu Schaden gekommen.
Doch.
Im Industriequartier
ist eine alte Frau,
die auf dem Balkon sass,
erschrocken,
weil es gegenüber so geknallt hat.
Es ist ihr nichts passiert,
sie ist einfach grausam erschrocken.
Aber erschrecken
ist eben auch eine Verletzung.
Wir haben immer darauf geachtet,
dass die Leute,
die wir schädigen mit den Immobilien,
nicht im Haus sind.
Da haben wir schon drauf geachtet.
Wir hätten keine Auftragsmorde angenommen.
Ich wüsste nicht, wieso.
Der eine soll den anderen selbst erschiessen,
wenn er will.
IV Elmar Habermeyer, 51, Facharzt für Psychotherapie und Psychiatrie mit dem Schwerpunkt forensische Psychiatrie und Psychotherapie, PUK Zürich
Ich kümmere mich
um die Begutachtung und Behandlung
von psychisch kranken Straftätern.
Wobei es bei der Begutachtung darum geht,
zunächst einmal eine Aussage dazu zu treffen,
ob ein Straftäter überhaupt psychisch krank ist.
Und dann im Weiteren Aussagen dazu zu treffen,
ob ein hohes Rückfallrisiko besteht.
Die Prognoseinstrumente dazu sind
eine Zusammenstellung von Merkmalen,
die sich als trennscharf erwiesen haben
hinsichtlich
entweder der Erhöhung
oder der Verminderung
des Risikos.
Dann kriegen sie eine statistische Aussage
wie zum Beispiel:
Herr X
hat ein relatives Risiko
gegenüber einem durchschnittlichen Sexualstraftäter
von 2,5.
Sein Risiko, rückfällig zu werden,
ist gegenüber einem durchschnittlichen Sexualstraftäter,
rückfällig zu werden,
um diesen Faktor erhöht.
Dann sagt der Herr X,
und das ist auch bundesgerichtlich so gedeckt,
das ist ja schön und gut,
aber für mich spielt das keine Rolle,
das ist eine statistische Aussage.
Und da hat der Herr X völlig recht.
Also muss im nächsten Schritt untersucht werden,
passt der individuelle Fall dazu.
Sybille Zschokkke, 35, Mitarbeiterin Justizvollzug, JVA Witzwil
Resozialisierung
ist der Auftrag des Strafvollzugs,
aber es ist auch der Auftrag der Gesellschaft.
Man kann im Strafvollzug viel erreichen,gerade in der Schweiz,
aber danach
muss die Gesellschaft
ihren Teil der Verantwortung übernehmen.
Und da sind wir noch nicht so weit
wie wir sein müssten.
Ich habe auch das Gefühl,
dass viele Leute nicht wissen,
was hinter dem Auftrag des Strafens steckt.
Und immer noch das alte Bild
oder Empfinden haben,
dass man jemanden mit einem Urteil bestraft
und dann wird er weggesperrt
und das ist seine Strafe
und die soll er spüren.
Aber das im Strafgesetzbuch
auch die Resozialisierung verankert ist,
das wissen die Wenigsten.
Habermeyer: Nehmen wir an,
der hat überhaupt keinen Zugang zu seinen Delikten,
der sagt,
ich bin ja der friedlichste Mensch unter Gottes Sonne,
hat aber fünf schwere Körperverletzungsdelikte,
oder der sagt,
ich habe kein Problem mit Frauen.
hat aber sechs Vergewaltigungsdelikte,
dann würde man sagen: Statistisches Risiko
und Individualprognose
sind kongruent.
Dann gibt es aber Leute,
die haben ein hohes statistisches Risiko,
haben aber zehn Jahre Therapie hinter sich
und haben dort viel gelernt
und können mir
gut verständlich machen,
dass da bestimmte Dinge
auch verändert sind.
Und dann würde man sagen,
es unterscheidet sich.
Zschokke: Man kann sich an der eigenen Nase nehmen.
Wir haben die Verantwortung,
dass Menschen,
die aus dem Strafvollzug entlassen werden
auch Aussicht auf einen Job haben.
Seien wir ehrlich:
Wenn sich Leute auf einen Job bewerben,
bei dem es sowieso schon schwierig ist,
dass man eine Stelle bekommt,
dann ist der mit dem langjährigen Strafvollzug
zuunterst auf dem Stapel.
Oder bei der Wohnungssuche.
Willst du den Drogenabhängigen
in deinem guten Quartier nebendran?
Oder bevorzugst du jemand anderen?
Und da muss jeder Einzelne
für sich daran arbeiten,
dass man sagt,
doch,
eigentlich ist es eine Pflicht,
dass wir das tun.
Habermeyer: Es ist in diesem Kontext nicht deutlich genug zu machen,
dass wir immer Risiken skizzieren.
Und Risiken
sind immer Risiken
und keine Sicherheiten.
Ich habe auch bei Leuten gesagt,
die haben ein hohes Risiko,
die dann aus Verhältnismässigkeitsgründen
freigekommen sind,
und zu meiner grossen Überraschung
einigermassen parat waren.
Zschokke: Von aussen werden Vollzugslockerungen
oft als Luxus wahrgenommen.
Jetzt kriegt der auch noch Urlaub!
Dabei ist das absolut nicht für jeden
eine Belohnung.
Es gibt auch Gefangene,
die sich davor drücken.
Und genau da merkt man,
warum sie nicht wollen:
Weil bis jetzt alles gut gelaufen ist,
weil sie mit der Hauptherausforderung
noch gar nicht konfrontiert wurden.
Habermeyer: Der Hauptrisikofaktor für Delinquenz ist was?
Mannsein.
Ein anderer, sehr stabiler Faktor,
der auch keinen überrascht,
ist geringe verbale Intelligenz.
Ich fange,
wenn›s schwierig wird,
an zu quatschen.
Und jemand anderes,
der das nicht so kann,
der haut dann halt
in so einer Situation zu.
Zschokke:
Der Umgang mit persönlichen Herausforderungen
innerhalb des Stufenvollzugs
ist eine Chance:
Lieber noch in diesem kontrollierten Setting scheitern,
als nachher draussen.
Darum finde ich es wichtig,
dass man die Öffnungen macht.
Nicht als Geschenk,
sondern als Auftrag,
als Pflicht.
Habermeyer: Im Kontext von häuslicher Gewalt
gibt es überzufällig häufig
eine Ansammlung von Persönlichkeitsmerkmalen
oder Störungsbildern,
die dazu führt,
dass Leute häusliche Gewalt ausüben.
Aber es gibt auch
patriarchalische Einstellungen,
die das genauso begünstigen.
Diese Unterscheidung zu machen,
ist Kernaufgabe des Gutachtens.
Wenn jetzt zum Beispiel jemand
ein sehr patriarchalisches Rollenverständnis hat,
ist es die Aufgabe der Gesellschaft,
dem eine Grenze zu setzen
und zu sagen,
hör mal,
das mag ja schön sein für dich,
aber wir akzeptieren das nicht
und deshalb bekommst du eine Strafe.
Wenn derjenige aber seine Frau schlägt,
weil er der Meinung ist,
die geht fremd,
und das ist einfach sachlich falsch
nämlich ein Wahn,
und er hat zum Beispiel
eine Schizophrenie,
dann ist der Mann durch Strafe gar nicht erreichbar.
Den muss ich behandeln,
damit er überhaupt in die Lage kommt,
zu verstehen,
dass er etwas falsch gemacht hat.
Das ist modellhaft dargestellt
ein ganz wichtiger Punkt,
wo wir auch die Aufgabe haben,
dieser Gleichsetzung von Gewalt und Krankheit entgegenzutreten.
Wir müssen deutlich machen,
dass nicht jede Art von Handlung,
die wir nicht verstehen können,
Ausdruck einer psychischen Krankheit ist.
Zschokke: Der Staat ist eigentlich
eine Schlichtungsinstanz,
der die Emotion
zwischen Täter und Opfer
rausnehmen sollte.
Aber ich denke,
auch der Staat kann das nicht ganz.
Finanzdelikte werden teilweise
hoch bestraft,
Drogenhandel
wird hoch bestraft,
wo ich den Eindruck habe,
dort fühlt sich der Staat als Opfer.
Der Staat wurde angegriffen
und das spürt man im Strafmass.
Gegenüber einer sexuellen Nötigung,
wo das Strafmass,
ich sage nicht zu tief ist,
ich bin sowieso eher für tiefe Freiheitsstrafen,
aber einfach im Vergleich,
im Verhältnis.
Habermeyer: Die Entscheidung über Schuld
und das Eingehen von Risiken
sind juristische Aufgaben.
Meine Aufgabe ist es,
Risiken zu skizzieren.
Ich kann nicht das Problem
der Kriminalität in der Gesellschaft lösen.
Ich kann auch nicht jeden Straftäter therapieren.
Und ich kann auch nicht
mit hundertprozentiger Sicherheit sagen,
wer rückfällig wird
und wer nicht.
Zschokke: Der Umgang
mit dem weiblichen Geschlecht
in einem Männerknast
ist auch etwas Wichtiges.
Ich kann mich an einen erinnern,
der eine lange Strafe hatte.
Er kam von Thorberg
aus dem geschlossenen Vollzug
zu uns.
Ein Sexual- und Gewaltdelikt.
Der hat den Umgang mit Frauen
verlernt.
Respektive,
er hatte das Gefühl,
er darf das gar nicht,
als Sexualstraftäter,
als Vergewaltiger
darf er gar nicht mit Frauen
ein tieferes Gespräch führen
oder stärker Kontakt pflegen.
Als er Geburtstag hatte,
nein,
als ich Geburtstag hatte,
stand er neben mir
und wusste gar nicht
und hat mich dann auch gefragt:
Darf ich Ihnen
zum Geburtstag gratulieren?
Ich habe gesagt:
Sehr gerne.
Er war so gehemmt,
dass er nicht wusste,
ob er da schon eine Grenze überschreitet.
Ich habe ihm dann
die Hand gegeben
und gesagt:
Sie dürfen mir auch die Hand geben
und gratulieren,
wie wir es bei den anderen Gefangenen, die Geburtstag haben,
auch machen.
Es hilft keinem,
wenn er sich ganz abschirmt,
im Gegenteil.
Deshalb muss er den Umgang
im Kleinen
wieder lernen.
Habermeyer: Gerade in diesen Prognose-
und Massnahmegutachten
können wir nur nachvollziehbar Fehler machen,
wenn wir Leute rauslassen.
Man kann sich davor drücken,
Fehler zu machen,
indem man alle drinlässt.
Das müssen wir uns als Gesellschaft fragen:
Sind wir eine freiere und bessere Gesellschaft,
wenn wir das so machen?
Zschokke: Der Gefangene hat eine Strafdauer
und in dieser Zeit
müsste im Vollzug
der Resozialisierungsauftrag
erfüllt werden.
Es kann sein,
dass jemand zu sieben Jahren verurteilt wurde,
der schon sozialisiert ist.
Da ist eher die Gefahr,
dass er in den sieben Jahren Haft
den Bezug verliert.
Und eigentlich
wegen diesen sieben Jahren
resozialisiert werden muss.
Und bei einem Drogenabhängigen,
für den man an sich viel machen könnte,
den Sozialdienst einbinden etc.,
der aber nur eine sechsmonatige Strafe verbüsst,
reicht die Zeit nicht aus.
Der sitzt dann wirklich nur
sein Delikt ab.
Habermeyer: Was ich immer sage:
Derjenige, der sich nicht helfen lässt,
ist nicht zwangsläufig der gefährlichere.
Oder vor allen Dingenwird er dadurch nicht gefährlicher,
als er eh schon ist.
Er wird halt vielleicht auch nicht besser.
Zschokke: Wenn ein Gefangener entlassen wird,
weil seine Strafe ausläuft,
und wir sind in punkto Resozialisierung
noch nicht so weit gekommen,
sind uns die Hände gebunden.
Ich finde das gar nicht so verkehrt.
Es ist eine Chance
zu begreifen,
dass wir hier keine Menschen machen.
Wir sind keine Industrie
für gute Bürger.
Ausserdem hat die Person,
die ihre Strafe verbüsst hat,
auch das Recht,
dass man ihr nicht weiter reinredet.
Habermeyer: Was wirklich schwierig ist:
Wenn Leute geoutet werden.
Haben eine Wohnung gefunden,
spielen in irgendeinem Handballverein,
plötzlich pusten die Medien raus,
das ist doch der Sexgrüsel Soundso,
und dann kracht alles ein.
Da kommt ein weiterer Player ins Spiel,
der letztlich überhaupt keine Verantwortung übernimmt.
Du kannst zum Presserat gehen
und dann macht der ‹ne Rüge,
aber so what.
Wenn der Artikel gut geklickt hat
und zustimmend kommentiert wurde,
wird kein Vorgesetzter dagegen argumentieren.
Wenn ich Sie jetzt frage:
Würden Sie es gut finden,
wenn ein Ex-Vergewaltiger
neben Ihnen einzieht?
Würden Sie sagen:
Nein.
Und genau so würde ich es auch sagen.
Da schreit keiner Hurra!Und das ist auch vielen Betroffenen klar.
Darum geht es nicht.
In einer breiteren Debatte,
und das ist mit einer der Gründe, warum ich mich mit ihnen unterhalte,
geht es darum,
darzustellen,
was die Erfolge des resozialisierenden Strafvollzugs sind
und was die Alternative ist.
Die Alternative ist
grauenvoll
und schwierig
und teuer
und nicht bewährt.
Immer mehr Gefängnisplätze,
immer längere Strafen,
das führt zu einem System wie in den USA,
wo ein signifikanter Teil der Bevölkerung verklappt ist.
Und nur noch Kosten produziert.
Da müssen wir selbstbewusst sein
und dazu stehen, dass das Resozialisierungsprinzip funktioniert.
V Joel Weber, 37, Bauarbeiter, getroffen in Freiheit in Zürich
Vor drei Wochen bin ich rausgekommen.
Vor drei Wochen am Sonntag.
Als ich rausgekommen bin,
bin ich als erstes
mit meiner Tochter spazieren gegangen.
Sie war mit der Schule im Wald
und da haben sie einen Specht gesehen.
Den wollte sie mir zeigen.
Als zweites habe ich mich
auf einer Alp vorgestellt.
In drei Wochen fange ich dort an.
Für vier Monate.
Es ist nicht gerade der Haufen,
was ich dort verdiene,
aber so muss ich nicht gleich
eine Bleibe organisieren.
Bis dahin
wohne ich bei meiner Mutter.
Vorgestern bin ich abgestürzt.
Ich komme ab und zu noch an gute Ware.
Von einem habe ich …
Der hatte gutes Zeug.
Bei gutem Heroin
musst du immer kotzen.
Meine Mutter
ist ausgerastet.
Sie hat gesagt:
Wenn du konsumierst,
musst du gar nicht nach Hause kommen!
Ich habe dann
trotz Absturz
bei meiner Mutter geschlafen.
Aber ich habe vorsichtshalber
das Zelt vom Kollegen mitgenommen,
falls sie irgendwann ganz durchdreht.
Bis ich zwanzig war
habe ich jedes Wochenende
auf einem Bauernhof gearbeitet.
Ich dachte,
bis es auf der Alp losgeht,
könnte ich dort wieder ein bisschen aushelfen.
Als ich auf den Hof zulaufe, wird mir klar:
Scheisse.
Es ist schon zwanzig Jahre her,
seit du das letzte Mal hier warst.
Damals war das alles neu.
Die Traktoren haben noch geglänzt.
Und jetzt sieht das richtig abgekämpft aus.
Der Bauer betreibt gar keinen Ackerbau mehr.
Züchtet nur noch Gemüse.
Da habe ich erst gemerkt,
wie lange ich schon Scheisse baue.
Wie lange ich schon am Nichtstun bin.
Am Nichtstun.
Letzte Woche war ich im Tessin.
hebt den Ärmel Sieht man es?
Bei Oma.
Meine Oma ist 89
und hat sich schon ein bisschen
an das chillige Leben gewöhnt.
Um halb zehn aufstehen,
gemütlich in den Tag starten,
Mittagessen so um zwei
und dann ein Mittagsschläfchen
bis um fünf.
Jetzt, als ich da war
und morgens um sieben aufgewacht bin,
kam wieder Leben in die Bude.
Im Tessin,
am See,
bei Oma
habe ich überhaupt kein Reissen danach
abzudriften.
Das kommt erst,
wenn ich wieder in die Maschinerie muss.
Im Winter komme ich von der Alp runter.
Ich habe jetzt schon Angst,
was ich dann machen soll.
Soll ich wieder in den scheiss Baustellenalltag.
Dann fängt das ganze Gehetze wieder an
mit Betreibungsamt,
RAV,
Bürokram,
dass du es bis am 22. einwerfen musst,
Stellenbemühungen,
Sperrtage …
Wenn es freiwillig wäre,
wäre es etwas anderes.
Aber müssen,
weisst du,
müssen …
Das ist auch mein Problem
mit dem Methadonprogramm:
Du musst dem jeden Tag nachrennen.
Du kannst nicht in der Nacht irgendwo anrufen,
du musst immer zu Ladenöffnungszeiten da sein.
Nein,
das ist zu viel Kontrolle.
Aber es ist dann legal.
Das ist die legale Scheibe vom Staat.
Lieber illegal,
dafür bestimme ich selbst.
Ich bin schon bereit,
ein wenig zu spuren.
Die Kistenzeit kann ja nicht für nichts gewesen sein.
Seit ich draussen bin,
habe ich mir immer eine Fahrkarte gekauft,
wenn ich Zug gefahren bin.
VI Ruedi Szabo, 59, systemischer Arbeitsagoge // Sämi Szabo, 30, Dachdecker // Beni Szabo, 26, Elektromonteur, getroffen in Freiheit in Zürich
Ruedi: Ich komme aus einer grossen Familie.
Als meine Urgrossmutter 90 Jahre alt wurde,
kamen 300 Verwandte zusammen.
Für mich waren diese Zusammenkünfte
ein Highlight.
Deshalb wollte ich selbst auch eine grosse Familie.
Wenn ich ein eigenes Geschäft habe,
dachte ich,
vermag ich das.
Während einer Weiterbildung an der Polierschule
habe ich meine Frau kennengelernt.
Ich habe mich mit bauökologischen Materialien selbstständig gemacht.
Das war eine Marktlücke
und ist recht gut gelaufen.
Wir haben fünf Kinder bekommen,
vier Söhne
Sämi: Zweitältester
Beni: Drittältester
Ruedi: Und eine Tochter.
Alle fünf Kinder
waren Hausgeburten.
Ich war bei allen dabei.
Von da an
kam ich nach Hause
und war mit meinen Kindern zusammen.
Füttern,
Windeln wechseln,
Baden.
Ich habe gerne gesungen,
Gute-Nacht-Lieder.
Gute-Nacht-Geschichten,
aus dem Stehgreif erzählt.
Alles lief super.
’93 kam die Baukrise,
verschuldet durch die Banken.
Renditeschwache Baugeschäfte
haben keinen Kredit mehr erhalten.
Zeitgleich wurden weniger Hypotheken
an Hausbesitzer vergeben.
So blieben die Aufträge aus.
Das Vernünftigste wäre gewesen,
Konkurs anzumelden.
Es gab immer mehr Streit mit meiner Frau
und es ging immer um Geld.
Irgendwann hatte sie einen Liebhaber,
dann drei.
Das habe ich nicht ertragen.
Ich hatte mir ein Ideal aufgebaut:
Familie, Geschäft, geglücktes Leben.
Zuerst dachte ich:
Ich bringe sie um.
Aber ein Quäntchen Verstand hatte ich noch.
Ich liebe meine Kinder über alles.
Ich dachte,
wenn ich meine Frau umbringe,
haben sie keine Mutter mehr.
Meine Frau ist ausgezogen
und hat mir ein Formular vorgelegt:
Ich soll 6000 Franken Alimente zahlen,
oder sonst sehe ich die Kinder nicht mehr.
Ich sass in meinem Büro
mit einem Haufen Rechnungen,
zeitweise wurde mir der Strom abgestellt.
Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen.
Da habe ich mir gesagt,
ich gehe das Geld dort holen,
wo es liegt.
Ich habe ländliche Postämter
und Bankschalter ausgekundschaftet,
weil das Sicherheitsdispositiv dort sehr viel geringer ist.
Im Militär,
als Grenadier,
hatte ich gelernt,
professionelle Überfälle zu machen.
Sämi: Wir haben von nichts gewusst.
Ruedi: Man rechnet aus
und fährt die Strecke ab.
Wo ist der nächste Polizeiposten,
wie lange hat der?
Man legt einen Fluchtweg
durch die Wälder an.
Man weiss,
wo man die Autos deponiert,
die Nummernschilder wechselt.
Alles wird Schritt für Schritt geplant
und entsprechend durchgeführt.
Beni: Gut, das Verständnis wäre auch hinten und vorne nicht dagewesen
von uns Kindern.
Ruedi: In meinem Büro
waren mehrere Waffen aufgehängt
und meine Orden aus meiner Grenadierzeit.
Ich habe meinen Mitarbeitern gesagt:
Ich kann eure Löhne nicht zahlen,
ich bin verzweifelt,
ich weiss nicht mehr weiter,
aber ich gehe es jetzt bei den Banken holen
mit der Waffe.
Meine Mitarbeiter
waren alle sehr jung,
zwischen 17 und 21 Jahren.
Ich habe eine rhetorische Gabe
und konnte sie dafür begeistern.
Die Banken machen es einem auch einfach,
sie als Feindbild zu zeichnen.
Sie schwingen den Kugelschreiber zur Unterschrift
und verdienen Millionen
oder Milliarden.
Andere krüppeln ihr Leben lang
und kommen zu nichts.
Wir hatten alles vorbereitet,
um direkt nach Ladenschluss der Post,
als nur noch die Mitarbeiter da waren,
zuzuschlagen.
Wir sind hinter einer Ecke versteckt,
als die Posthalterin mit ihren Kindern
aus dem Gebäude kommt
und aus einem Ziehwagen
Briefe und Päckchen in einen Transporter lädt.
Der Transporter fährt davon,
die Kinder setzen sich
in den leeren Ziehwagen
und die Frau kehrt mit ihnen
durch die Hintertür
in die Post zurück.
Als ich die Kinder sehe,
denke ich kurz ans Umkehren,
lege den Gedanken beiseite
und mache weiter.
Im Militär habe ich gelernt,
meine Gefühle auszuschalten.
Bevor die Tür ins Schloss fällt,
schlüpfen wir hinterher.
Was dann passiert ist,
weiss ich nur aus Zeugenaussagen.
Ich habe eines der beiden Kinder gepackt,
ein Mädchen,
und ihr meine Pistole an die Schläfe gehalten.
Dann habe ich sie losgelassen,
sie ist zu ihrer Mutter gerannt,
die den Jungen,
ungefähr dreijährig,
auf dem Arm hatte.
Das Bild der Mutter,
die am ganzen Körper zittert,
die weint,
deren Lidschatten verschmiert ist,
die in Panik
ihre Kinder festhält,
die auch weinen,
die stammelt: Bitte schiessen sie nicht,
wird mich noch lange verfolgen.
Ich treibe die Mutter und ihre Kinder
sowie die anderen Angestellten
in einer Ecke zusammen
und halte sie mit der Waffe in Schach.
Mein Komplize geht
zum Posthalter
und boxt ihm die Pistole in den Magen.
Er plündert den Tresor
und alle Geldschubladen,
dann hauen wir ab.
Ich habe mit meinem Anteil
einige Rechnungen bezahlt.
Aber es hat nirgends hingereicht.
Darum haben wir uns gesagt,
es ist so gut gelaufen,
wir machen weiter.
Verbrechen
sind ein Rausch,
eine kriminelle Energie,
die sich entlädt.
Die rote Linie,
die man überschreitet,
nimmt man immer schwächer war.
Wenn ich nicht geschnappt worden wäre,
hätte ich wahrscheinlich immer weiter gemacht.
Nach acht Raubüberfällen
werden meine Komplizen und ich
von der Polizei gefasst.
Sämi: Die Verhaftung war zuhause.
Beni: Zuhause.
Sämi: Ich war achteinhalb.
Beni: Sieben.
Die Action
ist mit ihm
zur Tür hineingefallen.
Sämi: Da kommen auf einmal Polizisten
mit Schusswesten
und Pistolen
und schauen sich unser Haus an.
Für mich war das sehr einschneidend.
Die Bilder habe ich lange im Kopf gehabt.
Wie sie daherkommen.
Wie sie reinstürmen
und wir alle in ein Zimmer geschickt werden,
wo wir warten
und uns ruhig verhalten sollen.
Uns hat niemand gesagt,
was los ist.
Ruedi: Die erste Nacht
in der Durchgangszelle,
während der Untersuchungshaft,
ist heftig.
Durchgangszelle heisst,
die Inhaftierten werden ein paar Stunden
bis zwei Tage
dort eingesperrt
und dann verlegt.
Die Zelle sieht entsprechend aus.
Total verdreckt,
die Wände verschrieben,
die Wolldecke verkotzt
und voller Brandlöcher,
alles stinkt nach Pisse.
In der Nachbarzelle
ist ein Junkie
auf kaltem Entzug.
Er wird um neun Uhr abends in die Zelle gebracht.
Er tobt bis drei Uhr morgens
und hämmert an die Wand.
Ich will raus!
Rundrum:
Halt die Fresse, du Arschloch!
Wir schneiden dir die Eier ab!
Ich sitze in meiner Zelle,
der verdreckten,
und denke:
Wo bin ich gelandet?
Ich war achtzehn Monate
in Untersuchungshaft.
In der Untersuchungshaft
wird dir deine Schuld bewusst.
Du liest die Anklageschriften
und brichst zusammen.
Du hast Suizidfantasien,
weil du keine Zukunft mehr
für dein Leben siehst.
Ich habe während meines Gefängnisaufenthaltes
allen 15 Opfern einen Brief geschrieben.
Mein Gefühl hinter dem Brief war:
Es tut mir leid,
dass ihr mir unter die Räder gekommen seid.
Ich habe allen angeboten,
mich zu treffen.
Dass sie mir in die Augen blicken können
und merken:
Die Reue ist ernst.
Die Reue ist ernst.
Die Reue ist ernst.
Ich habe fünf Antworten erhalten,
drei Leute waren bereit,
mich zu treffen.
Eine davon
war die Filialleiterin
der letzten Bank,
die wir überfallen haben.
Als wir uns treffen,
erschrecke ich.
Sie kann nur mit grosser Anstrengung
gehen.
Es stellt sich heraus,
dass sie vier Tage nach dem Überfall
einen Hirnschlag erlitten hat
und seitdem schwer behindert ist.
Man vermutet,
dass es eine Disposition gab
und der Stress des Überfalls
das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Jeder Verbrecher verharmlost sein Verbrechen,
ich auch.
Ich habe ja nur Geld gestohlen,
ich habe niemandem etwas angetan.
Dass diese Leute
Todesängste ausstehen
und jahrelang darunter leiden,
will sich niemand ausmalen.
Beni: Ich hatte lange Probleme mit der Situation.
Sämi: Für mich ist es etwas anderes,
in der Zeitung über deine Taten zu lesen,
als wenn ich direkt mit dir spreche.
Gewisse Dinge habe ich bis heute nicht gefragt
und will sie auch nicht mehr wissen.
Ruedi: Der erste Staatsanwalt forderte,
dass ich in Sicherheitsverwahrung gesteckt werde.
Der Strafvollzugsverantwortliche
hat sich die Mühe gemacht,
den Weg
von seinem Büro
zu mir in die Zelle
zurückzulegen.
Er ist also da
und hört sich meine Geschichte an.
Er sagt:
Ich will ein Versprechen von Ihnen.
Ich entscheide jetzt gegen die Empfehlung
des ersten Staatsanwaltes,
und wenn sie davonlaufen
oder wieder straffällig werden,
kostet das mich den Kopf.
Darum müssen sie mir versprechen,
keine Scheisse zu bauen.
In eineinhalb Jahren Untersuchungshaft
ist er der erste Justizmitarbeiter,
der mir die Hand gibt.
Ich werde in den offenen Vollzug verlegt.
Mein erster Ausgang
ist ein begleiteter Ausflug nach Locarno.
Per Zufall finden gerade die Filmfestspiele statt.
Ich bin zum ersten Mal
seit Jahren
wieder unter Menschen.
Wir gehen an die Piazza
und ich habe das Gefühl,
alle starren mich an,
weil hier zeigt auf seine Stirn
das Wort „Knacki“ steht.
Ich bin diese Menschen nicht mehr gewohnt.
Ich staune
mit offenem Maul
über
das Gewimmel,
das Gewusel,
die vielen Menschen.
Wie schön das ist.
Ich setze mich
in die hinterste Reihe.
Ich weiss nicht mehr,
welcher Film gelaufen ist.
Mein Film waren die vielen Menschen.
Ich erwache morgens um vier,
gehe aus dem Hotelzimmer
raus,
an den See,
alles blüht,
Tulpen,
Rosen.
Ich sitze einfach da.
Der See schwappt,
Schwäne schwimmen auf dem Wasser,
die ersten Leute laufen herum,
Jogger,
und ich sitze einfach da
und lasse das auf mich einprasseln.
Freiheit.
Das ist Freiheit.
Jede Faser meines Körpers
spürt
Freiheit.
Beni: Für mich ist Freiheit,
wenn ich reise
und nicht mehr weiss,
welcher Wochentag ist.
Weil es mich einfach nicht interessiert.
Dann bin ich frei.
Ruedi: Mein Glück war,
dass ich im Gefängnis Menschen um mich hatte,
die mich gefördert haben.
Einer der ersten im Vollzug,
der mein Vertrauen gewonnen hat,
war der Gefängnispfarrer.
Er hat einfach zugehört.
Ich konnte meinen Tränen
freien Lauf lassen,
als ich erfahren habe,
dass meine Kinder
in der Schule gemobbt werden,
weil ihr Alter
im Knast sitzt.
Beni: Im Dorf ist das schnell
in aller Munde.
Sämi: In der Primarschule
musste ich ein paar Mal
auf dem Heimweg
nach Hause rennen,
weil die anderen Kinder
auf mich losgegangen sind.
Die haben gemerkt,
der hat einen schwachen Punkt.
Jeder in unserer Familie hat das erlebt.
Dass du fertig gemacht wirst,
dass dir blöde Spitznamen gegeben werden.
Beni: Unsere Mutter musste mehrmals antraben,
wegen der „Lügengeschichten“,
die wir erzählt haben,
die keine Lügengeschichten waren.
Irgendwann entwickelst du selbst Zweifel.
Du wirst zum Schulleiter zitiert,
musst dich vor ihm erklären,
es stehen fünf Lehrer dabei
und alle sagen:
Hör auf, solchen Mist zu erzählen!
Sämi: Ich habe mich angefangen zu wehren.
Ruedi: Richtig.
Sämi: Ziemlich heftig zu wehren.
Ruedi: Der Gefängnispfarrer hat mir gesagt:
Ruedi,
du hast einen Sprung in der Schüssel.
Du musst deine Aggressionen
in den Griff kriegen.
Dabei kann ich dir nicht helfen.
Ich schicke dich in die Therapie.
Mit meiner Therapeutin
habe ich meine Tat aufgearbeitet und ich bin heute noch
mit ihr befreundet.
Ich wurde fast ein Jahr früher entlassen,
habe in einer Aussen-WG des Gefängnisses gewohnt
und bei der Zeitung eine Ausbildung als Journalist gemacht.
So gelang mit der Einstieg.
Das Problem sind
Finanzen,
Finanzen,
Finanzen.
Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde,
hatte ich über 620 000 Franken Schulden.
Das sammelt sich an
durch die Alimentenbevorschussung
und die Gerichtskosten.
Ich bin jetzt 17 Jahre
aus dem Knast draussen
und stecke immer noch
in diesen Schulden drin.
Aber ich bin nie mehr rückfällig geworden,
auch in schwierigsten finanziellen Situationen
nie mehr rückfällig geworden.
Beni: Das hat bei mir im Kopf einen Wendepunkt gebracht.
Irgendwann,
das weiss ich noch genau,
bin ich zu dir gekommen
und habe dir gesagt,
wie stolz ich auf dich bin,
wohin du gekommen bist.
Ruedi: Inzwischen arbeite ich
als systemischer Arbeitsagoge.
Ich fördere in sozialpädagogischer Funktion
berufliche Eingliederungen
von sogenannt „schwierigen“ Jugendlichen.
Und halte sie
hoffentlich
davon ab,
selbst straffällig zu werden.
Sämi: Ich habe nur mit einem einzigen Freund
über die Geschichte gesprochen.
Eine Freundin wollte mich mal
darüber ausquetschen,
da habe ich gesagt: Du kannst mich in drei Jahren fragen,
wenn es uns dann noch gibt.
Vorher geht dich das nichts an.
Beni: Ich habe seit vier Jahren eine Freundin.
Sie weiss, dass es passiert ist.
Ruedi: Ihr seid schon vier Jahre zusammen?!
Beni: Aber sonst bleibt das Thema bei mir.
VII Irmela Koch, Pflegefachfrau, getroffen in Freiheit in Basel
In der Ausbildung
wurde ich eines Tages von meinem Arbeitsplatz weggerufen.
Mein Pflegedienstleiter hat angerufen und gesagt,
wir müssten ein wichtiges Gespräch führen.
Ich war 18 und habe gedacht:
Oh Gott, mir wird gekündigt!
Der Pflegedienstleiter kam – in Begleitung der Seelsorgerin.
Sie führten mich in den Gebetsraum des Krankenhauses
und die Seelsorgerin hat mir ins Gesicht gesagt:
Oma und Opa sind tot.
Ich hatte 389 Millionen Fragezeichen.
Warum …
Warum spricht diese mir fremde Person von Oma und Opa?
Warum sagt sie nicht: Deine Grosseltern?
Dann sagte sie: Die Kriminalpolizei ist da,
sie würden Sie mitnehmen.
Ich habe gesagt: Ich fahre selbst.
Ich wollte mein Auto nicht da stehen lassen.
Aber sie wollten verhindern,
dass ich im Radio höre,
was passiert war.
Die dreiviertelstündige Fahrt war schrecklich.
Die Polizisten waren unglaublich unfreundlich.
Es war spürbar,
dass sie etwas wissen,
aber sie wollten nichts sagen.
Als wir zur Polizeistation kamen,
sagten sie: Frau Koch ist da.
Die ganze Station machte solche Augen.
Alle wussten Bescheid,
nur ich nicht.
Ich stand da wie der grosse Depp.
Sie hatten keinen Raum für mich,
ich sass auf dem Flur,
ich sollte nicht aufs Klo gehen.
Nach 45 Minuten hatten sie ein Zimmer für mich.
Dort habe ich weiter gewartet.
Irgendwann geht die Tür auf.
Bis heute sehe ich das vor mir.
Meine Mutter kommt rein,
hinter ihr mein Vater.
Sie sahen furchtbar aus.
Meine Mutter hat gesagt: Irmela,
Irmela,
Oma und Opa sind tot
und Robert war›s.
Robert ist mein Bruder.
In solchen Situationen
gibt es kein gutes Überbringen mehr.
Es gibt auch keine „richtige“ Situation.
Es gibt sie einfach nicht mehr.
Die Polizisten standen da
und haben uns angestarrt,
wie wir weinen
und trauern
und es nicht fassen können.
Da habe ich gesagt: Raus.
Geht raus.
Da haben sie uns alleine gelassen.
Ich weiss nicht mehr,
wie lange das ging.
Das war eine totale Zeitverzerrung.
Meine Eltern haben mir immer wieder dasselbe erzählt,
dass die Polizei da war,
dass mein Bruder es gewesen ist.
Mein Bruder hat sich unmittelbar nach der Tat
ein Messer in den Bauch gerammt
und ist zur Polizeiwache gelaufen.
Die Polizisten haben ihn immer wieder gefragt,
was passiert ist. Irgendwann hat er gesagt,
dass er unsere Grosseltern umgebracht hat.
Da war es aber längst zu spät.
Sie wären …
Selbst wenn er sofort angerufen hätte,
hätten sie es nicht überlebt.
Bei meiner Grossmutter waren es 20 Messerstiche
und bei meinem Grossvater 26.
Wenn ich dieses Gefäss bin,
Nimmt ein Glas
hat es einfach mal so gemacht: lässt es fallen.
Es hat alles getroffen.
Wenn man anfängt,
in der Familie zu morden,
dann bleibt nicht mehr viel.
Alle Weltbilder,
alle Werte, die man hat,
sind einfach …
Ich glaube, jeder hat einmal bodenlose Gefühle erlebt,
ich habe auch danach noch bodenlose Gefühle erlebt,
aber nie in diesem Ausmass.
Ich habe nichts von alledem verstanden.
Wir wussten keine Umstände.
Wie war es genau?
Wie ist es dazu gekommen?
Es gibt ja auch dumme Umstände,
die eins zum anderen führen.
Ob er sich betrunken hat,
oder …
Ich bin kein emotionaler Typ
oder ein wahnsinnig sensibel lebender Typ.
Bis zu diesem Zeitpunkt
waren Emotionen für mich gleich Instabilität.
In dem Moment habe ich die Entscheidung getroffen:
Ich gebe mich da rein,
und zwar voll und ganz.
Es war exzessiv.
Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen.
Nichts und niemand konnte machen,
dass ich aufhören konnte.
Und ich wollte es aber.
Ich dachte:
Wenn es diese Gefühle gibt
und sie sind real,
dann will ich sie auch spüren und leben.
Mein Bruder wurde direkt ins Krankenhaus gefahren
und notoperiert.
Uns war nicht klar,
ob er überleben würde.
Wir wussten nichts über seine Verletzungen.
Die Polizei wollte nichts sagen,
alles war Bestandteil der Untersuchungen.
Irgendwann haben wir von der Intensivstation erfahren,
dass er am Leben ist.
Für uns war das ambivalent:
Soll man sich jetzt darüber freuen?
Will ich ihn wiedersehen?
Niemand wusste, wie wir den nächsten Tag überstehen sollten.
Es war nicht möglich, an ein Morgen zu denken.
Die Geburt meines Bruders
war sehr schwer.
Heute geht man davon aus,
dass er durch einen Sauerstoffmangel
mit einem Hirnschaden
zur Welt kam.
Es stotterte stark
und auch mit jahrelanger Logopädie
ging das Stottern nicht weg.
Er war immer zurückhaltend,
immer sehr ruhig,
und man hat das auf das Stottern geschoben.
Aber im Nachhinein würde ich sagen:
Das ist nicht normal.
Diese Art Introvertiertheit.
Auch wenn man stottert.
Das ist nicht normal.
Zu seiner Sprechstörung
kam eine Legasthenie,
sodass er,
obwohl er viel im Kopf hatte,
sich weder durch Schrift
noch durch Sprache
mitteilen konnte.
Es war immer an der Grenze,
ob er die Schule schafft.
In der Schule zählen die Noten
und seine waren denkbar schlecht.
Das war für mich als kleine Schwester schwierig.
Ich war die faulste Socke auf dem Erdball
und hatte immer gute Noten.
Die Tat war an einem Donnerstag.
Ich bin schnell wieder arbeiten gegangen.
Am Montag stand ich wieder im Operationssaal.
Schlafende Patienten, Mundschutz, Haube:
Ich war abgeschirmt.
Ich musste nicht reden.
Was schwer war,
war, dieses Blut im Operationssaal zu sehen
und zu riechen.
Denn ich habe den Tatort gesehen.
Ich wollte das.
Du musst dir vorstellen:
Jemand erzählt dir etwas extrem Bizarres,
was du kaum aus dem Hollywoodfilm kennst,
und das soll dann deine Realität sein
und du hast nichts von dem in der Hand.
Die Grosseltern weg,
aber die könnten auch in Urlaub sein.
Der Bruder weg,
aber du hast nichts gesehen.
Alles nur Gerede.
Und ich so:
Ich will es sehen.
Ich will sehen,
dass es Realität ist.
Aber es hat mich natürlich schon der Schlag getroffen.
Es war nichts gereinigt worden.
Mein Onkel und ich
haben dann das Blut meiner Grosseltern weggeputzt,
damit die Wohnung geräumt werden konnte.
Drei Wochen nach der Beerdigung meiner Grosseltern
bin ich meinen Bruder im Gefängnis besuchen gegangen.
Allein.
Das wollte ich.
Allein.
Ich war aufgeregt wie verrückt.
Ich sass meinem Bruder gegenüber
und habe ihn mit Vorwürfen überschüttet.
Kannst du dir vorstellen,
wie das ist,
wenn die Presse jeden Tag anruft
und in jeder Zeitung von dir berichtet wird?
Wenn Bilder dort abgedruckt werden,
von deinem Bruder,
so gross,
die du noch nie gesehen hast?
Kannst du dir diese Beerdigung vorstellen?
Ich habe keine Antwort erwartet.
Was soll er auch sagen.
Er ist schuldig.
Er hat sich an uns schuldig gemacht.
Was soll er auch sagen?
Es gibt keine Rechtfertigung dafür.
Das war mir klar,
aber worüber
hätte ich mit ihm sonst reden sollen?
Übers Wetter oder was?
Über seine Befindlichkeiten?
Die er …
Die hat er sich selber angetan.
Er ist der Täter,
der uns zu Opfern gemacht hat.
Mein Bruder sagt bis heute,
er kann nicht genau sagen,
warum er unsere Grosseltern getötet hat.
Sein Plan war,
im Altersheim, in dem er gearbeitet hat,
einen Amoklauf zu verüben
und sich anschliessend selbst zu töten.
Er hatte dort eine Abmahnung erhalten,
weil er die Bewohner etwas grob angefasst hatte.
Er wollte sich kein Versagen anlasten lassen.
Er hat ein Messer eingepackt
und ist mit dem Fahrrad
Richtung Altersheim gefahren.
Am Ortsausgang
hat er das Fahrrad bei unserem Zahnarzt abgestellt
und ist zu unseren Grosseltern zurückgelaufen.
Er hatte eine gute Beziehung zu ihnen.
Vielleicht hat eine Ecke in ihm gedacht:
Die können meine Not lindern.
Die Beiden haben geschlafen.
Mein Grossvater ist erwacht.
Es gab einen Kampf.
Dann ist meine Grossmutter erwacht.
Mein Bruder hat 14 Jahre mit Auflage der Therapie bekommen.
Im September
desselben Jahres
war ich fertig mit meinem Staatsexamen.
Ich habe eine Stelle gefunden,
in einer fremden Stadt,
600 Kilometer weit weg.
Dann fing meine eigentliche Trauerzeit an.
Ich musste nicht mehr funktionieren
für meinen Bruder
oder für meine Eltern
oder für dieses Staatsexamen.
Ich bin
so
viel
gelaufen.
Ich hasse spazieren gehen.
Bis heute.
Ich bin zu jeder Tages- und Nachtzeit gelaufen.
Bei strömendem Regen.
Bei schönem Wetter.
Durch die dunklen Wälder.
Querfeldein.
Ich hatte so einen brutalen Drang.
Das hat erst nach zwei Jahren aufgehört.
Es waren zwei Jahre im Ausnahmezustand.
Ich habe nicht mehr so viel geweint.
Aber ich hatte kaum Kraft für irgendeine Beziehung.
Ich habe die ganze Schwere zugelassen
und bin gelaufen.
Meinem Mann habe ich,
noch bevor wir zusammengekommen sind,
davon erzählt.
Weil es für mich ein Davor
und ein Danach
gibt.
Ich bin eine andere Person als früher.
Für mich ist die Tat ein Ausdruck von nicht reden.
Und deshalb war einer der grössten Schlüsse,
die ich daraus gezogen habe:
Ich schweige nicht.
Und: Es kommt in den besten Familien vor.
Wir sind aus dem gleichen Elternhaus.
Mein Bruder und ich.
Wir sind mit den gleichen Vorzeichen aufgewachsen.
Vor ein paar Wochen
waren wir alle zusammen in Ferien.
Mein Mann, meine Kinder,
mein Bruder und ich.
Er ist jetzt im offenen Vollzug.
Ich habe meinem Bruder vergeben.
Aber es war ein langer Weg dorthin.
Ich habe mir ihn über die Jahre
noch oft zur Brust genommen
und gesagt:
Wie konntest du nur?
Warum denn?
Trotzdem habe ich ihn
wieder lieben können.
Mich aufrichtig freuen können,
wenn ich ihn gesehen habe.
Für eine echte Versöhnung
fehlt eine Ecke.
Er nimmt die Schuld komplett an.
Aber er hat nie gesagt:
Es tut mir leid.
Und ich glaube,
die Ecke fehlt nicht mir,
sondern ihm.
Man merkt ihm das an,
dass die Schultern sehr weit unten sind
und dass das sehr drückt.
Er weiss,
dass er immer damit leben wird,
zwei Menschen das Leben genommen zu haben.
Er nimmt es fast zu sehr an.
Ich glaube,
da gäbe es einen anderen Weg.
Die Schuld anzunehmen
und die Schultern dennoch nicht so weit unten zu haben.
WAS SEITDEM GESCHEHEN IST …
STAND NOVEMBER 2018
Walter Künzler, verurteilt wegen Veruntreuung und Betrug, ist aus dem offenen Strafvollzug entwichen und untergetaucht. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt.
Joel Weber, verurteilt wegen Diebstahl und Drogendelikten, lebt in Freiheit und arbeitet weiterhin auf verschiedenen Alpbetrieben.
Adrian Berger, verurteilt wegen Fahrerflucht, lebt in Freiheit und arbeitet wieder als Gärtner.
Felix Lehmann, verurteilt wegen Mordes, lebt weiterhin auf der Station 60+ in der JVA Lenzburg
Ruedi Szabo, verurteilt wegen Raubes und Geiselnahme, lebt seit 17 Jahren straffrei, arbeitet als systemischer Arbeitsagoge und engagiert sich frei¬willig in Täter-Opfer-Gesprächen, in denen die Folgen einer Straftat für Opfer und Täter aufge¬arbeitet werden.
Robert Koch, der Bruder von Irmela Koch, wird ¬voraussichtlich 2019 nach 14 Jahren in Haft entlassen.
Der Text entstand 2017/18 im Auftrag des Konzert Theater Bern im Rahmen von Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik.
© Anna Papst