Theater der Zeit

Auftritt

Schauspiel Stuttgart: Überleben in der Karaokebar

„Willkommen am Ende der Welt“ von Maryna Smilianets (UA) – Regie Stas Zhyrkov, Bühne und Kostüme Lorena Díaz Stephens, Jan Hendrik Neidert, Musik Bohdan Lysenko

von Otto Paul Burkhardt

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Dossier: Neue Dramatik Dossier: Ukraine Stas Zhyrkov Schauspiel Stuttgart

Boris Burgstaller als Kaninchen, Peer Oscar Musinowski als Adam und Pauline Großmann als Eva in „Willkommen am Ende der Welt“. Foto Björn Klein
Boris Burgstaller als Kaninchen, Peer Oscar Musinowski als Adam und Pauline Großmann als Eva in „Willkommen am Ende der Welt“Foto: Björn Klein

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Die Content Note im Programmheft kündigt es an: Sirenen und Explosionen sind zu erwarten. Im Prolog rennt dann auch jemand, „Keine Panik“ rufend, auf die Bühne und demonstriert anhand einer Puppe, was im Ernstfall eines „nuklearen Blitzes“ zu tun ist: auf den Boden legen, Gesicht nach unten, Schockwelle abwarten. Und dann? Die hektische Fuchtelei mit der Dummy-Figur im Stil eines Auffrischungskurses wirkt hilflos, lächerlich. Und schaurig zugleich. Wieder ein theatrales Atomkriegs-Szenario? Ein Blick auf die Geschichte der Dramen zu diesem Thema zeigt: Der mögliche Einsatz von Nuklearwaffen ist als Dystopie wieder näher gerückt, Drohungen in diese Richtung gehören heute verstärkt zur Alltagsrealität. Im Prolog ihres Stücks kündigt die ukrainische Autorin Maryna Smilianets, die nach dem russischen Angriff in den Westen floh und in Stuttgart als Artist in Residence arbeitet, auch ausdrücklich an, dass ihr Stück nicht in ihrem Herkunftsland, sondern im heutigen Mitteleuropa spielt: „eine parallele Realität – wenn es das für Sie leichter macht“. Irgendwo zwischen Bitterkeit und trotzigem Humor, zwischen existenziellem Ernst und satirischen Momenten bewegt sich auch der Stücktitel „Willkommen am Ende der Welt“. Die Uraufführung war Teil eines vom Schauspiel Stuttgart neu konzipierten Europäischen Theaterfestivals, dessen erste Ausgabe zum Schwerpunkt Osteuropa unter dem Motto „Achtung Freiheit!“ stand.

Nach dem Prolog ist erstmal Rückblende angesagt. Wir blicken auf ein verschlafenes, schummrig-rotes Kellerlokal vor dem atomaren Alarm. Barkeeper Patrick und Kellnerin Marta warten auf Gäste, platzieren am Eingang Kundenstopper mit der Aufschrift „Freitag Karaoke – Im Angebot Apfelkuchen“ und diskutieren über vorsorglich jodhaltige Drinks, sprich: „Themencocktails“. Entlang temporärer Gäste erzählt das Smilianets-Stück kleine Stories, die Großes anreißen: Liebe, Leid, Träume, Traumata. 2023 waren Smilianets’ Texte, zu erleben bei einer Audioführung durch den Stuttgarter Stadtraum, noch direkt von der Kriegswirklichkeit geprägt. „Willkommen am Ende der Welt“ verlässt dagegen die Ebene authentischer Berichte, strebt ein anderes Level, eine distanziertere Reflexionsebene an – bis hin zum bizarren Auftritt eines altklugen Mega-Kaninchens, das der Spezies Mensch, die sogar am Paradies noch herumnölt, die Leviten liest: „Nie geht es euch gut! Undankbare Idioten!“

Der ukrainische Ex-Theaterchef und Regisseur Stas Zhyrkov, der ebenfalls seit 2022 im westlichen Exil lebt und mittlerweile in Berlin, München oder Zürich inszeniert, mischt die nachdenkliche Ironie in Smilianets’ Szenario durch entschlossene, krasse Tempo- und Genrewechsel auf und switcht von greller Comedy zu harscher Abgründigkeit. Er instrumentiert diesen Reigen bewusst naiv und allgemein anmutender Geschichten und Lebensreflektionen mit allerlei Kniffen, macht metaphorisch schwer einsehbare Ecken der Kellerbar – und entsprechend düstere Themen – per Video für alle sichtbar und belebt die elegische Grundstimmung durch brüske Tonfallkontraste, die ins Schwarzhumorige, Unwirkliche, Absurde zielen.

So verbirgt Barkeeper Patrick (Felix Jordan) als umtriebig herumstolpernder Conferencier seine Liebe zur Kellnerin Marta (Teresa Annina Korfmacher), die sich wiederum im Verborgenen nach einer Gesangskarriere sehnt. Wenn Smilianets’ Stück unter wachträumerisch reflektierenden Barbesuchern auch noch Adam und Eva samt Apfel- und Rippendiskurs auftreten lässt, treibt die Regie diese Szene – mit Peer Oscar Musinowski als orientierungsloser, egozentrisch benebelter Zerrbild-Figur – ins Groteske. Und das Seniorendating von Laura und Franz (Anke Schubert, Boris Burgstaller) entwickelt sich bei Zhyrkov zum skurrilen Rendezvous in ambivalent schwebender Tragikomik. Die Regie zeigt auch beklemmenden Tiefgang, etwa, wenn die als Kind einst vom Vater vernachlässigte, inzwischen erwachsene Veronika (Pauline Großmann) einen Ersatz-Daddy (Klaus Rodewald) als Klagemauer anmietet, um an ihm ihre Wut abzuarbeiten – eine der stärksten Szenen des Abends.

Kurzum, Zhyrkov füllt Smilianets’ Sammlung von szenischen Miniaturen mit Theaterleben und präziser Ambivalenz, rafft sie durch intelligente Personenregie und strukturiert den Text – als Plädoyer für die Kraft des Erzählens gegen den Krieg, der wie ein dunkle Wolke über allem schwebt. Bis der im Prolog vorausgesagte atomare Ernstfall eintritt und das Kellerlokal zum Schutzbunker für Zufluchtsuchende wird, zum Wartezimmer im Angesicht des Todes, mit Einlasskontrolle. Aus den Dialogen werden bei Smilianets nun Monologe vor der Kamera, von der Regie per Video groß gezoomt: letzte Ansprachen, letzte Lebensbilanzen, letzte Gedankenspiele. Selbstgespräche über das Gescheiterte und Erträumte, das Ungelebte und Versäumte.

Klar, dass Smilianets’ Text übers Ganze gesehen zuweilen fabuliert und Gefahr läuft, thematisch auszufransen – der Redefluss streift profanen Zehn-Minuten-Sex auf dem Klo ebenso wie philosophische Fragen zur posthumanen Zukunft des Planeten oder makabre Überlebens-Tipps wie Hundefutter, um unter den Bombentrümmern leichter gefunden zu werden. Andererseits, suggeriert das Stück, kann eben dieses Ausfransen, dieser gedankliche Free Jazz vielleicht Heilwirkung in Grenzsituationen entfalten. Tatsächlich inszeniert Zhyrkov diese Endstation Karaokebar somit auch als Meditationsraum zum weitgehend unausgesprochenen Thema Krieg, als Denkraum, in den das Publikum zuweilen per Saallicht mit einbezogen wird – nicht im Sinne eines immersiv verdoppelnden, kathartisch gemeinten Theaters der Kriegs-Vergegenwärtigung, sondern einladend, im Sinne einer von der Autorin angestrebten gemeinsamen Therapie. Bis zum kollektiv tröstlichen Ensemble-Finale zu „Stand by Me“. Kein Zynismus, keine Ästhetisierung des Schreckens. Ein Text mit viel Trotz-alledem-Humor.

Erschienen am 27.3.2025

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