Auftritt
Landesbühne Niedersachsen Nord: Theaterbashing als Theaterhighlight
„Bühnenbeschimpfung. Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr“ von Sivan Ben Yishai – Regie Daniel Kunze, Bühnen- und Kostümbild Sophie Leypold
von Jens Fischer
Assoziationen: Theaterkritiken Niedersachsen Landesbühne Niedersachsen Nord
„Werfen Sie einen Blick in den Saal“, schreibt Dramaturgin Kerstin Car in ihrem erfreulich theaterselbstkritischen Programmheft-Beitrag, „ganze Sitzreihen werden heute frei bleiben.“ Und so ist es. Wie immer bei zeitgenössischen Stoffen im Stadttheater Wilhelmshaven. Also warum nicht mal auf der Bühne dieses Missverhältnis von Angebot und Nachfrage, ja, das Theater als Minderheitenveranstaltung erkunden und analysieren, wie ihm die Rechtfertigungsmythen – Systemrelevanz! – wegbrechen, während Zuschauer:innen schon aus demografischen Gründen verschwinden. Für diesen Themenkomplex steht nun Sivan Ben Yishais „Bühnenbeschimpfung“ auf den Spielplan der Landesbühne Niedersachsen Nord. Damit kann Regisseur Daniel Kunze die Probleme auf der Künstler:innenseite, Erwartungen auf Publikumsseite und Konventionen auf beiden Seiten satirisch aufbereiten sowie Fragen zu Macht, Missbrauch, Mobbing, Widerstand und Narzissmus ausleuchten.
Fünf Schauspieler:innen spielen Schauspieler:innen, tüllig schwarz mit Halskrause kostümiert wie Hamlet in Glitzer. Sie treten aus dem Rahmen ihrer Kunst, einem Bühnenbildrahmen, und steigen im eher privaten Tonfall ein in den Tiefenbohrungstext über die Verabredungen zwischen Kunst und Publikum sowie die Behauptung, das Ensemble sei die Verkörperung der Institution. Allerdings will es nicht aus der Insiderperspektive über Fehlentwicklungen am eigenen Haus, sondern Grundsätzliches diskutieren. Und starten überdeutlich mit einer selbst geschriebenen Szene zu Klassikeraktualisierungen. Geradezu kabarettistisch wird der Vorschlag goutiert, die „Themen Polyamorie und neue Beziehungsformen“ am Beispiel von „Schneewittchen“ zu verhandeln. Und sollte nicht bei „Maria Stuart“ die Frage nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestellt werden? „Welche unausgesprochenen Pflichten habe ich? Gerade als Frau? Das ist total die Elisabeth. Klar. Immer Thron. Aber wo ist die Liebe? Wo das fallen lassen? Und dann ihre Kinder, wo sind sie? Es gibt sie nicht … Ein Leben in Aufopferung für die Gemeinschaft.“
Schon sind wir auf einer Probe in der moralischen Anstalt. Hannah Sieh steigt pathetisch auf Schillers Worte für Königin Elisabeth ein, das Klagen über die Einsamkeit in ihrem Beruf. Da klingelt das Telefon, die Darstellerin soll ihr krankes Kind aus der Kita abholen. Der Regisseur aber nötigt sie zum Bleiben. „Dieses Thema ist einfach zu wichtig. Familie und Beruf, das müssen wir verhandeln, uns dem künstlerisch nähern, um so Impulse in die Gesellschaft zu tragen.“ Erkenntnishelles Lachen im Publikum über die Heuchelei. Eine Schauspielkollegin bietet sich an, die Rolle zu übernehmen. Die Elisabeth-Darstellerin schluckt auch dieses unsolidarische Verhalten empört herunter. Der Regisseur legt zynisch nach und nutzt ihre glühende Wut für eine ihm gefallende Rollengestaltung aus. Klappe halten und weitermachen aus Angst vor der Nichtverlängerung des Engagements. Schauspielende sind Lästermaulhelden abseits der Bühne und Opportunisten bei der Arbeit, das kritisiert die Aufführung – beispielhaft als ein gesamtgesellschaftlich bekanntes Verhalten in institutionellen Zwängen. Angemerkt sei: In einem anständig geführten Theater(-Betrieb), die es ja auch gibt, würden Belegschaft, Betriebsrat und Frauenbeauftragte wohl die Abberufung des Regisseurs durchsetzen.
Die Theaterbeschimpfung geht weiter. Mit Aktenordnern verklebte Menschen stehen im Papierregen für den Dauerärger mit einer lähmenden Bürokratiemaschinerie. Eine Künstlerin bietet manisch-devot dem Intendanten eine eigene Projektidee an und ist panisch entrüstet, als alles abgesagt wird. Alle fühlen sich ständig entmündigt, weil sie Texte sprechen müssen, die ihnen nicht passen usw. Es wird lamentiert, aber das auch stets mit selbstironischem Spielgestus abgefedert: „Wer will einer Gruppe selbstbezogener Künstler dabei zuhören, wie schwer es ist, ein selbstbezogener Künstler zu sein?“
In zweiten Teil werden Stereotypen von Theaterbesuchern comedymäßig abgewatscht. Die in ihrer Kulturüberfütterung gelangweilte Kritikerin ist zu erleben, ein verklemmter Schlauberger und der bildungsbürgerliche Smartie … zusammen finden sie in einer hübschen Niesen-Husten-Gähnen-Schmatzen-Gesangschoreografie. Noch besser als im ersten Teil übersetzt die Regie hier Aussagen in körperliche Eskalationen und treibt sie ins Absurde – wider die passive Haltung der Zuschauenden, die eigentlich nur wegen des Rotweins danach ins Theater gegangen sind, viel lieber zu Hause TV-Serien gucken würden. Weil das immer geforderte politische Theater nur noch „Smalltalk mit Leuten“ ist, die den gleichen Abschluss, die gleichen Bücher, die gleichen Gedanken haben. Also einfach das Theater verlassen? Nein! Oder doch? Warum nicht! Die Darsteller:innen schalten das Licht aus. Totale Dunkelheit. Als Publikumskrise gibt die Legitimitätskrise dem Theater den Rest.
Jetzt beginnt das Gebäude als Zivilisationszombie aus dem Off über seine Schließung in einer poetisch verzaubernden Erzählung zu sprechen und resümiert das bisher Geschehene: „Der Tod hat von innen heraus angefangen.“ Die Natur übernimmt das Haus, lässt wachsen und gebären – genährt von einem magischen kristallinen Objekt, dessen Licht mit dem Bühnennebel tanzt. Sehr schön anzuschauen. Bald stehen wieder Zweibeiner auf den Welt bedeutenden Brettern und entdecken die Möglichkeiten ihres Körpers mit frisch erfundener Bewegungskunst, aber auch das Publikum im Parkett. Es ist Zeit für den Start eines anderen, neuen Theaters. Diese Neugierde, diese Lust, diese Liebe bringt das Ensemble mit abgründig komödiantischer Spielfreude über die Rampe. Der Abgesang funktioniert als Loblied auf die Bühnenkunst, Theaterbashing als Theaterhighlight – auf dass sich die Parkettreihen in den Folgevorstellungen füllen.
Erschienen am 25.10.2024