Magazin
In den Spuren der Geschichte
Das tschechische Theater zeigt vielfältige Aufarbeitungsversuche der postsozialistischen Geschichte
Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)
Assoziationen: Europa
Die bewegte Geschichte Tschechiens sieht man seinem Theater an. Und seinen Theatern. Das 30. Mezinárodní Festival in Plzeň findet an insgesamt sieben Spielstätten statt, darunter das Divadlo Josefa Kajetána Tyla, ein Neorenaissancebau der k.u.k.-Zeit, das Divadlo Alfa aus der (post-)sozialistischen Ära (saniert und mit einem Saal wie ein Kino) und die zweite Spielstätte des Divadlo Josefa Kajetána Tyla – modern und großzügig, 2014 eröffnet, das einzige Theatergebäude in Tschechien, das nach 1989 erbaut wurde. Die Geschichte kriecht aber auch durchs Theater. Um zu Yana Ross’ „Geschichten aus dem Wiener Wald“ vom Valstybinis Jaumino Teatras in der litauischen Hauptstadt Vilnius zu gelangen, geht man lange Flure der Hinterbühne des Divadlo Josefa Kajetána Tyla entlang. Während im Bühnenbild einer postsowjetischen Mehrzweckhalle, ins Litauen der neunziger Jahre verlegt, mal eine Beerdigung, mal eine Hochzeit stattfindet, drängen sich die Gräueltaten der Geschichte durch den provisorisch mit Klebeband geklebten, sich hoch wölbenden Boden. In der Überschreibung des Textes probieren die Figuren es mit litauischem Nation Building, haben aber angesichts der sie nach unten ziehenden Dynamik ihrer Gewaltbeziehungen keine Chance auf ein gelingendes Leben.
Auf ein mehr oder weniger gelungenes Leben in Auseinandersetzung mit der sozialistischen Geschichte blickt auch die Inszenierung „Zápas o Generála“, in der Regie von Ivan Krejči von der Komorní scéna Aréna in Ostrava. Es ist Tomáš Vůjteks Bühnenadaption der Biografie von General Jan Šejna, der mit Opportunismus, Narzissmus und Hochstapelei zunächst eine Karriere im sozialistischen System (das er bestiehlt) macht, mit dem Prager Frühling aber untergeht und sich selbst einredet, nicht nur zuerst das tschechische Volk gerettet, sondern mit seiner Informantentätigkeit nach seinem politischen Fall und der Flucht in die USA auch noch den Kalten Krieg beendet zu haben. Ihn prägt die Selbsterzählung eines verkannten Künstlers, eines literarischen Genies, eines altruistischen Königs. Die Figur des Šejna, der im tschechischen Volk alberne Berühmtheit mit dem Diebstahl von Kleesamen erlangt hat, wird von zwei Männern (Marek Cisovský und Vlastimil Burda) in jeweils umgekehrt schwarz-weißen Kostümen gespielt. All das soll seine Janusköpfigkeit zeigen. Tatsächlich sind es jedoch die drei Frauen seines Lebens (gespielt von Tereza Cisovská, Zuzana Truplová und Kristýna Panzenberger Krajíčková), die, wie Nornen hinter ihm sitzend, Rhythmus und Struktur von Aufstieg und Fall in seinem höchst ambivalenten Leben bestimmen.
Ein absolutes Highlight des Festivals ist sicher die Inszenierung „Chazarský slovník“ vom Divadlo Husa na provázku in Brno. Die Adaption des postmodernen Romans „Das Chasarische Wörterbuch“ von Milorad Pavić durch den Regisseur Jan Mikulašek versetzt das Spiel aus Identitäten, einander widersprechenden Fakten und Bildern einer traumgleichen, surrealistischen Logik in ein Museum. Mikulašek, geboren 1978, hat schon am Deutschen Theater in Berlin gearbeitet und inszeniert in Tschechien sehr erfolgreich. Das Bühnenbild ist eine große, rote, vertikale Fläche, auf der Stäbe stecken. Nicht nur kann das großartige Ensemble sich hier in Bildern in Szene setzen, auch werden Assoziationen mit einer Schmetterlingssammlung aufgeworfen, oder mit einer Landkarte, auf der das Gebiet eines verschwundenen Volkes markiert ist. In Kapiteln, die den Lemmata des fiktiven Wörterbuches nachempfunden sind, erzählt die Inszenierung poetisch und fantasievoll die Geschichten derer, die im Wörterbuch auftauchen und dabei selbst in Forschungsobjekt und Forschungssubjekt verschachtelt sind: die Chasaren genauso wie die absurden und tragischen Figuren, die sich mit der Erforschung dieses fiktiven untergegangenen Volkes wissenschaftlich beschäftigen. Die Logik der Verschachtelung, des Traums, der Erinnerung und des Vergessens findet sich hier in den erfundenen Museumsstücken, in der Adaption, aber auch im Einbezug des Bühnenbildes und des Buches selbst, die identisch aussehen. 1988 gedacht als „Warnung für die kleinen Völker“, so Pavic selbst laut Spiegel beim Erscheinen des Romans, „die dem Druck der großen Ideologien, Religionen und Mächte dieser Welt ausgesetzt sind“, erfährt der Text heute eine neue Aktualität, auch durch den russischen Angriffskrieg.
Der Regie gelingt durch Einbindung von Bezügen auf Leonard Cohen und den letzten Irakkrieg eine zeitlose Inszenierung, die die Verschachtelung der Traumlogik auch in der Verschaltung von Text und Inszenierung visuell bildgewaltig erfassbar macht.
Wie omnipräsent die Schrecken der Geschichte im familiären Bewusstsein verankert sein können, verdeutlicht die Inszenierung „Konec rudého človeka“: Eine Familie, die auf die eine oder andere Weise biografisch mit der Sowjetunion verbunden war, zeigt exemplarisch jeweils an einer Generation, wie der Umgang mit Trauma verlaufen kann. Die Verdrängung des einen ist der Stolz der anderen und der Alkoholismus des dritten. Die Leninbüste steht im Wohnzimmer.
Die Vielfalt des tschechischen Theaters in zeigen die Puppentheaterinszenierung „Babička červené karkulky dnes slví narozeniny!“ des Naivní divadlo in Liberec und die Physical-Theatre-Inszenierung „Do Hajan!“ vom Divadlo Drak in Hradec Králové in der Regie von Veronika Poldauf Riedlbachová. Technisch präzise an der Grenze zwischen Theater, Clownerie und Neuem Zirkus, spielt das kleine Ensemble mit wenigen Mitteln und fast gänzlich ohne Sprache die Geschichte zweier Kinder, die nicht schlafen wollen, und ihrem Vater. Nur mit einer Taschenlampe, einem Bett, ein paar Kissen und einer Decke entstehen Figuren im Schattenspiel, Monster und Vögel, ein Segelboot, ein Skigebiet.
Was auffällt: Man ist hier näher am Krieg, als man es in Deutschland ist. Die Geschichte hat Spuren hinterlassen. Und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird weitere hinterlassen. //