Auftritt
Opernhaus Zürich: Diese Liebe bis zur Besinnungslosigkeit reißt alle ins Verderben
„Lessons in Love and Violence“ von George Benjamin, Text von Martin Crimp – Musikalische Leitung Ilan Volkov, Inszenierung Evgeny Titov, Bühnenbild Rufus Didwiszus, Kostüme Falk Bauer
von Elisabeth Feller
Assoziationen: Schweiz Theaterkritiken Opernhaus Zürich

Was für ein Grün! Nur ein Malachit vermag diese betörende Wirkung zu erzielen. Man kann sich nicht satt sehen an Rufus Didwiszus’ Bühnenraum, doch man weiß: Sonneneinstrahlung lässt den Malachit erblassen. Deshalb lässt man keine rein; erst recht nicht in diesen abgeschotteten, dank Tribüne und Vorhang bisweilen zu einem Theater im Theater werdenden Raum, in dem sich ein Drama von beispielloser Wucht abspielt. Der König (Ivan Ludlow) liebt Gaveston (Björn Bürger) bis zur Besinnungslosigkeit und lässt darüber jede Verantwortung für seine Frau Isabel (Jeanine De Bique), seine Kinder (Nini Vlatkovic und Sunnyboy Dladla), den Armeeführer Mortimer (Mark Milhofer) und sein leidendes Volk vermissen. Doch Mortimer und das Volk begehren auf: So kann es nicht weitergehen! Sie bringen Gaveston und den König auf grausame Weise um. Die Kinder des Königs werden in allen Szenen Zeugen des Geschehens – und lernen aus diesen „Lektionen“: Der junge König lässt am Ende Mortimer vor den Augen seiner Mutter töten.
Unerschrocken muss sein, wer sich mit George Benjamins 2018 in London uraufgeführter, dritter Oper „Lessons in Love and Violence“ auseinandersetzt. Benjamins Librettist, der englische Autor Martin Crimp, orientiert sich zwar an Christopher Marlowes Drama „Edward II. “, interpretiert und verdichtet dieses aber neu, sodass der Fokus auf wenigen Figuren liegt. In nur sieben Szenen rollen Crimp und Benjamin eine Geschichte mit Worten von brutaler Offenheit wie etwa diesen auf: „Warum solltest Du Gaveston lieben, den die ganze Welt hasst? “ fragt Isabel den König und dieser sagt: „Weil er mich liebte, mehr als die ganze Welt. “
Das ist der Schlüsselsatz, von dem aus Evgeny Titov das neunzigminütige Werk entfaltet. Schon zu Beginn setzt der Regisseur ein markantes Zeichen mit einer riesigen, schwarzen Decke. Man ahnt, was sich darunter tut: Liebesspiele zwischen Gaveston und dem König. Diese Decke wird am Ende noch einmal eine entscheidende Rolle einnehmen. Dann, wenn der junge König seine Mutter Isabel zu „etwas Vergnüglichem“ einlädt und als Fortsetzung jener Gewalt, die er bis anhin mitansehen musste, die Decke entfernt und der gefolterte Mortimer zum Vorschein kommt. Zuvor hatte der Sohn seine Mutter auf die zu erwartende Situation so eingestimmt: „Auf keiner Seite dieses Vorhangs sind wir unschuldig.“ Dieser Satz und noch viele andere Sätze bleiben haften; egal, ob sie in intimen Begegnungen wie nachts zwischen Isabel und dem König fallen; beim Treffen des Königs mit dem ermordeten Gaveston, der als weißer Tod im Kerker erscheint oder in einem Spiel im Spiel, das dem Vatermord in Shakespeares „Hamlet“ nachempfunden ist.
Alles lebt in dieser zeitlich nicht festgelegten Inszenierung, zu der Falk Bauers zeitlose Kostüme wunderbar passen, von präzisesten Gängen, Gesten und Blicken. Selbst eine angedeutete Verzögerung ist ereignishaft, weil sie jähes Verderben bedeuten könnte. Diesem Auf und Ab von Anziehung und Ablehnung; von Liebe, Hass und Vernichtungswille sieht man gebannt zu, weil Titov die „Lessons“ wie ein Kriminalroman erzählt, der ohne Umwege auf das Finale zusteuert. Auf der Bühne kann die Geschichte aber nur dank Benjamins Musik so bezwingend erzählt werden Die Auffächerung des Klangs dank eines u.a. auch mit Celesta, zwei Harfen und einem Cimbalom besetzten Orchesters ist schlicht und ergreifend hinreißend. Leisere Töne, wie etwa ein Raunen der Violinen, aber auch ein unvermutet aus der Reihe „tanzendes“ Flötensolo unterstreichen, wie klug und feinfühlig Benjamin, der diesjährige Preisträger des Ernst von Siemens Musikpreises, mit Klangwirkungen umgeht. Besonders eindringlich in der Kerkerszene, wenn der König Trommelschläge imaginiert. Diese werden jedoch nicht – wie erwartet – mit Trommeln, sondern mit Harfen und dem Cimbalom umgesetzt. Solcherart führt Benjamin das Publikum von Station zu Station und lässt es teilhaben an kammermusikartigen Finessen sowie an den klangsatten Zwischenspielen des Orchesters. Ilan Volkov und die Philharmonia Zürich laufen zu großer Form auf und lassen Benjamins Musik in allen wünschbaren Facetten leuchten. Was aus dem Orchestergraben erklingt, fesselt. Und das gilt auch für das, was von der Bühne kommt. Man erlebt eine fantastische Ensembleleistung mit Sängerdarstellerinnen und -darstellern. Den Schwierigkeitsgrad der jeweiligen Partien mit u.a. weit ausgreifenden Intervallsprüngen kann man wohl gar nicht richtig einschätzen, weil sie derart stupend gesungen werden. Die Höhen von Isabel: wunderbar ausgekostet von Jeanine De Bique. Das Lässig-Laszive von Gaveston: Björn Bürger kennt keine Scheu vor stimmlichen Extremen. Der verblendete König: Ivan Ludlow vollzieht die Wandlung zum Verunsicherten mit einer immer brüchigeren Stimme. Mortimer: Mark Milhofer setzt auf schneidende Schärfe. Der junge König: Sunnyboy Dladlas setzt seinen hohen Tenor für das Porträt eines gleichermassen kindischen wie gefährlichen Mannes ein.
Kurzum: Mit der zweiten Inszenierung von George Benjamins Oper „Lessons in Love“ glückt dem Opernhaus Zürich ein wunderbares Plädoyer für die zeitgenössische Oper.
Erschienen am 23.5.2023