Theater der Zeit

Auftritt

Theater Lübeck: Medeas Rehabilitaton

„Medea.Stimmen“ von Christa Wolf mit Chorgesängen nach Texten von Euripides, Platon und Thomas Brasch – Inszenierung und Bühne Zino Wey, Kostüme und Mitarbeit Bühne Pascale Martin, Musik Lukas Huber

von Kristof Warda

Assoziationen: Schleswig-Holstein Theaterkritiken Thomas Brasch Theater Lübeck

Michael Fuchs als Akamas und Lilly Gropper als Medea in „Medea. Stimmen“ in der Regie von Zino Wey am Theater Lübeck. Foto Katrin Ribbe
Michael Fuchs als Akamas und Lilly Gropper als Medea in „Medea. Stimmen“ in der Regie von Zino Wey am Theater LübeckFoto: Katrin Ribbe

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In einer Welt, die sich ihrer eigenen Wahrheiten nicht stellt, werden diejenigen, die sie ans Licht bringen, zur Bedrohung. Christa Wolfs „Medea.Stimmen“ ist mehr als die Neuerzählung eines Mythos – es ist ein schonungsloses Porträt einer Gesellschaft, die sich selbst schützt, indem sie ihre Helden zerstört. Das Theater Lübeck bringt diese Dynamik in einer ebenso reduzierten wie eindringlichen Ästhetik auf die Bühne.

In ihrem 1996 erschienenen Roman entwirft Christa Wolf ein vielschichtiges Gegenbild zur traditionellen Medea-Rezeption, die vor allem durch Euripides’ Tragödie geprägt ist. Statt rasende Eifersucht und Rachedurst zur Motivation der Hauptfigur zu machen, zeichnet Wolf Medea als stolzen, starken, aber verletzlichen Charakter, der zur Gefahr der Herrschenden wird. Medea deckt auf, dass König Kreon von Korinth seine Tochter Glauke geopfert hat, um seine Macht zu sichern. Dieses Wissen bringt sie ins Visier einer Rufmordkampagne, angeführt von Kreons Berater Akamas und unterstützt durch ihre neidische Schülerin Agameda. Medea wird verleumdet, bis sie zur Kindsmörderin erklärt wird. Auch Leukon, ein weiterer Berater, und Jason, ihr Ehemann, versagen ihr die Unterstützung – beide sind zu schwach, um sich gegen die Machtverhältnisse zu stellen.

In Lübeck findet das alles auf trostloser Bühne statt: Eine große Grube wie ein überdimensioniertes Grab in der Bühnenmitte, über ihre gesamte Länge der Aushub als staubig rotbrauner Haufen Sand dahinter. Darauf in der linken Ecke liegt ein Fell im Dreck. Vermutlich das goldene Vlies, mit dem die unheilvolle Geschichte von Jason und Medea einst begonnen hatte. Keinen kümmert es mehr. Es wurde achtlos hin-, vielleicht sogar weggeworfen. Nicht mal mehr Requisit ist es, bloß noch Bühnenbild. Neonröhrenreihen tauchen diesen traurigen Schauplatz in ihr kaltes Licht. Mal tief, mal hoch hängend, mal flackernd, mal tanzend verleihen sie der sonst statischen Bühne eigentümliche Dynamik.

Die Kostüme verstärken die symbolische Inszenierung. Ganz in Gold erscheint Akamas, gespielt von Michael Fuchs, der kalt und staatsmännisch agiert: Opfer werden als notwendiges Übel dargestellt, um Korinths Selbstbild als moralische Hochburg zu bewahren. Golden ist auch Leukon (Sven Simon), der in seiner Hilflosigkeit Medea schließlich zum Vorwurf macht, die Stadt mit einer Wahrheit zu konfrontieren, der sie nicht gewachsen ist. Jason (Johannes Merz) schillert silbern, ein Rockstar-Bubi, dessen maskuline Feigheit in der unsicheren, in rosa Tüll gehüllten Glauke (Susanne Höhne) die passende, kontrollierbare Partnerin findet. Die Herrschaft des Patriarchats zeigt sich hier als Herrschaft der Schwäche.

Medeas harlekinesk bunter Flickenpulli setzt sie von allen ab – exotisiert, ausgegrenzt. Lilly Gropper verleiht ihr eine couragierte Aufrichtigkeit: stark, ehrlich, zugewandt und vor allem sich selbst treu. Doch genau das macht sie gefährlich – und lässt ihren Untergang in dieser eintönigen Welt unausweichlich erscheinen. Agameda (gewitzt bis diabolisch: Astrid Färber), mit einer goldsilbernen Rettungsdecke als Bauchbinde, ist das Gegenstück: Sie passt sich dem System an, zieht sie ihren Vorteil draus und plant, von Neid zerfressen, über Medeas Fall ihren eigenen Aufstieg bis zur gläsernen Decke.

Eindrücklich erzählt der Abend zeitlose und daher hochaktuelle Mechanismen der Ausgrenzung und des Machterhalts. Über ihre Länge von knapp zwei Stunden entwickelt die Inszenierung in ihrer Reduktion eine Dichte und Intensität, durch die kleinste Effekte große Wirkung erzielen – Medeas verzweifelt geschriener Fluch auf die Stadt Korinth bildet dabei den letzten bewegenden Höhepunkt, bevor sie am Ende des Stückes das Publikum fragt: „Ist eine Welt zu denken, in die ich passen könnte?“

Erschienen am 4.12.2024

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