Shakespeare
„König Lear“ im Moskauer Staatlichen Jüdischen Theater
von L. Freidkina
Erschienen in: Theater der Zeit: Menschliche und künstlerische Persönlichkeit (10/1946)
Das Staatliche Jüdische Theater in Moskau führt Shakespeares „König Lear“ in der dem Drama noch vor dem Kriege gegebenen Inszenierung wieder auf. Die Zuschauer, die die Leiden und Erfahrungen des Krieges hinter sich haben, wissen die Idee besonders zu schätzen, von der sich der Regisseur und Schauspieler Michoels leiten ließ. Mit seiner Darstellung des Königs Lear antwortet Michoels sozusagen auf die Frage: „Was ist in Wirklichkeit der Mensch?“ Wenn dem gekrönten und absoluten Herrscher Lear der Mensch als ein Räuber, als ein Geier, als wildes Tier erscheint, wenn er während des Sturms im Menschen nichts als ein nacktes Geschöpf erblickt, so überzeugt sich Lear vor seinem Tode davon, dass der wahrhafte Mensch mutig und gerecht ist, und stirbt in dem Glauben an den Sieg der gerechten Sache.
Unter den Klängen eines Festmarsches geht der Vorhang hoch; vor dem Zuschauer steht das Schloss des Königs Lear auf der Bühne - ein braunrotes Gebäude, gestützt auf hölzerne Karyatiden. Die Wände des Schlosses öffnen sich, die Holzskulpturen spalten sich in der Mitte und geben den Blick frei auf den roten Saal des Schlosses, der mit der Hofgesellschaft angefüllt ist. Die Hofleute gehen die Treppe hinab, eine feierliche Prozession bildend.
Die älteste Tochter, Goneril,...