Theater der Zeit

Wie? Die Realitäten der Ausbildung

Kann Filmschauspiel-Ausbildung zukunftsweisend sein?

von Kai Wessel

Erschienen in: Recherchen 105: Wie? Wofür? Wie weiter? – Ausbildung für das Theater von morgen (03/2014)

Assoziationen: Schauspiel

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Schauspiel, Theater, auch Film entwickeln sich in Zyklen weiter. Sie sind auf der Suche, und das muss auch so sein. In einer sich immer schneller entwickelnden Welt suchen sie Erweiterungen und Grenzen. Neue Medien, interaktive Gestaltungsmöglichkeiten, die digitale Welt und Crossover-Projekte sind eine Herausforderung. Je früher und intensiver sich die Studierenden mit audiovisuellen Medien befassen, desto selbstbewusster und kreativer werden sie sich in die Arbeit einbringen können.

Die Filmschauspielausbildung ist dafür die beste Grundlage, denn nur wer seine Wirkung, den Einsatz seiner Mittel in diesem Medium kennt, kann wirklich frei agieren.

Filmschauspiel als Weiter- und Fortbildung ist in Deutschland relativ neu. Erst seit einigen Jahren hat sich das Filmschauspiel auch hier professionalisiert. Meist in privaten Studios, durch Caster, Filmcoaches und Schauspieltrainer, hat sich eine Kultur entwickelt, in der sich vom Absolventen bis zum erfahrenen „Filmstar“ Schauspieler ihre Filmschauspieltechnik professionalisieren lassen. In der staatlichen Ausbildung hat das Filmschauspiel allerdings bisher kaum Nachhall gefunden. Die meisten Schauspielschulen überlassen diese Ausbildung ihren Studenten selbst, nach dem Studium. Die Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg (ADK) geht hier nahezu einzigartige neue Wege und versucht damit, dem Anspruch einer umfassenden Schauspielausbildung auch für die Zukunft gerecht zu werden.

Die Filmschauspiel-Ausbildung

Die Filmschauspielausbildung an der ADK ist keine eigene, abgekoppelte Ausbildung. Sie lehnt sich eng an die generelle Ausbildung der Schauspieler an und adaptiert das bereits Erlernte auf das Medium Film und speziell auf die Arbeit mit der Kamera. Die klassische Bühnenausbildung bleibt die Basis, auf der wir die Filmausbildung aufbauen, denn Schauspiel bleibt Schauspiel, egal, wo es stattfindet.

Allerdings ist der Einsatz der Mittel, sind vor allem die Vorbereitungen und der Dreh- und Probenprozess sehr unterschiedlich.

Unsere Ziele sind: Authentizität und Wahrhaftigkeit, Durchlässigkeit, Freiheit vor und mit der Kamera, entspannte Spannung, Arbeiten im Raum und mit dem Körper, Einsatz der Großaufnahme, Einsatz der Sprache und Stimme, die Arbeit an einem Filmset, Charakter- und Szenenstudium, Kritikfähigkeit, Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit.

Die Module der Filmschauspiel-Ausbildung der ADK im Überblick

Das erste Jahr:

Für ein gutes halbes Jahr bleiben die Schauspieler vom Filmschauspiel unberührt.

Die große Aufmerksamkeit, die Neugier, der Wissens- und Erfahrensdurst werden im Bühnenspiel kanalisiert und gebündelt.

Nach gut einem Semester sammeln dann die Studenten ihre ersten Erfahrungen mit der Kamera. Diese Erfahrungen sollen spielerisch sein und den Studenten die Fähigkeit geben, jederzeit an ersten Kooperationen und Kurzfilmen der benachbarten Filmakademie teilzunehmen, um dort ihren Erfahrungsschatz auch eigenständig erweitern zu können.

Meisner-Training I

Die Meisner-Technik fußt auf einer dezidierten, emotionalen Ausrichtung des Schauspielers nach außen. Dies unterscheidet Sanford Meisners Lehre wesentlich von Lee Strasbergs Method Acting. Ein nach der Meisner-Technik arbeitender Schauspieler generiert seine Impulse für die jeweiligen Spielhandlungen nicht selbst, sondern nimmt diese ausschließlich von seinen Spielpartnern bzw. dem Spielumfeld ab. Sanford Meisner betonte stets „acting means reacting“ („agieren/schauspielen bedeutet reagieren“).

Die Meisner-Technik fußt auf Improvisationen über einen bestimmten Charakter. Anders als die Strasberg-Methode reflektiert sie nicht nur auf das emotionale Gedächtnis eines Schauspielers, sondern nutzt seine eigene Fantasie und sein Vorstellungsvermögen in einer „Was würdest du tun“-Arbeit.

Das Meisner-Training ist, sich immer weiter entwickelnd, eine der Grundsäulen des Studiums und findet in jedem Studienjahr statt.

Ich und die Kamera

Erste Erfahrungen mit sich und der Kamera (Film-Coaching I).

Fast spielerisch lernen die Studenten sich und ihr Verhalten mit und vor der Kamera kennen. Sie filmen sich gegenseitig in kleinen Gruppen. Scheinbar leichte Aufgaben erfordern hohe Konzentration. Die Arbeiten werden sofort analysiert und erweitert wiederholt.

Ziele: Freiheit vor der Kamera, größtmögliche Glaubwürdigkeit durch Offenheit und Wahrhaftigkeit, konzentrierte Entspannung vor der Kamera, strukturiertes Spiel.

Vor dem Dreh – Was tun?

Anhand eines professionellen Drehbuches werden die Rollen und Szenen studiert, ein Drehbuch analysiert, dramaturgische Wendepunkte herausgearbeitet. Unter Anleitung zweier Regisseure lernen die Studenten sich selbstständig auf die Dreharbeiten vorzubereiten.

Der Dreh – Ein Film entsteht

Zusammen mit Kamera- und Schnittstudenten von der Filmakademie finden fünf Tage lang Dreharbeiten statt. In möglichst gleichwertigen Rollen haben die Studenten die Möglichkeit, das Gelernte konkret umzusetzen und die Entstehung eines kurzen Filmes in allen Arbeitsschritten zu begleiten. Der Film wird geschnitten und die Arbeit der Studenten analysiert.

Meilensteine aus 100 Jahren Film

Bedeutende und richtungsweisende Filme der Filmgeschichte werden gezeigt und besprochen. Regisseure, Schauspieler, Autoren, Genres, Schauspielstile, Filmstile – das „who is who“ und why vom expressionistischen Stummfilm, Film Noir, Nouvelle Vague bis heute. Dieses Modul zieht sich durch sechs Semester.

Das zweite Jahr:

Dieses Jahr geht, entsprechend der Gesamtausbildung, in die Tiefe und liefert den Studenten das nötige Handwerkszeug, um ihre Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Die Struktur eines Textes, eines Buches, einer Szene, eines Charakters oder einer Regieanweisung soll durch die erlebte Freiheit gefüllt werden. Die Studenten lernen, die Aufgaben zu ihrer eigenen Sache zu machen. Nicht nur zu erfüllen, was vorgegeben ist, sondern selbstständig denkend ihre Freiheit zu nutzen. Sie sollen die Anforderungen, die an sie gestellt werden, kennenlernen, um frei und selbstständig mit ihnen umzugehen. Sie sollen freie und selbstverantwortliche Schauspieler werden.

Meisner-Training II

Erweiterte Form des ersten Trainings.

Freiheit – Charakter- und Szenenstudium I

In diesem Modul berichtet ein erfahrener Filmschauspieler über seine persönlichen Erfahrungen, Drehvorbereitungen und Dreharbeiten. Anhand eines konkreten Filmprojektes wird der Weg eines Filmes aus Schauspielersicht vom ersten Casting über die Dreharbeiten bis zum fertigen Film beleuchtet.

Augenblick

Der gesetzte, bewusste Moment im Film. Jeder Mensch hat vor der Kamera eine andere Wirkung. Bisher waren Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Transparenz der Maßstab der Filmschauspielausbildung. Aber Film kann mehr. Im Film kann man aber bewusst seine Mittel einsetzen, um sogenannte Filmmomente zu erzeugen. Hier lernen die Studenten ihre persönliche Wirkung vor der Kamera kennen und gezielt einzusetzen. Große Szenen werden studiert und dann von den Studenten interpretiert und beurteilt, teilweise wiederholt.

Filmcoaching – Charakter- und Szenenstudium II

Hier wird anhand der langjährigen Erfahrungen des Coaching-Studios Betzelt (Berlin) gelehrt, wie aus einer papierenen Figur des Drehbuchs ein lebendiger Mensch entsteht. Hier lernt der Schauspieler anhand von Fragen, den Charakter eines Menschen zu begreifen und zu verinnerlichen. Schauspieler haben oft erst nach einigen Drehtagen das Gefühl, den Charakter ihrer Figur langsam besser zu verstehen. Anhand eines Fragenkataloges, manchmal im Austausch mit einem Partner, erlernt der Schauspieler seine Figur selbstständig und vor Drehbeginn zu verinnerlichen. So erlernt er für sich eine Technik, die ihn am Drehort unabhängig macht. Er lernt, selbstständig zu arbeiten und sich auf den Dreh vorzubereiten. Die eigentliche Arbeit des heutigen Filmschauspiels liegt in seiner Vorbereitung auf die Dreharbeiten. Am Set ist es zu spät.

Kurze Szenen

Praktische Dreherfahrung, ein Film entsteht II.

In Kooperation mit der Filmakademie und unter der Leitung erfahrener Regie- und Kameradozenten lernen die Studenten die konkrete Zusammenarbeit unter Gleichen kennen. Hier arbeiten vier Bereiche der beiden Akademien sehr eng zusammen. Die Szenen werden frei gewählt und teilweise für die Schauspielstudenten entwickelt, unter Anleitung besprochen, geprobt, gedreht und geschnitten. Die Zusammenarbeit wird analysiert und kritisiert. Die geschnittenen Szenen werden bewertet.

Casting-Workshop

Gemeinsam mit den Regie-Studierenden der Filmakademie lernen Regisseure und Schauspieler, sich auf ein Casting vorzubereiten und sich in einer Casting-Situation erfolgreich zu präsentieren.

Meilensteine aus 100 Jahren Film

Das dritte Jahr:

In diesem Jahr werden alle gelernten Fähigkeiten vertieft und erweitert. Die Studenten lernen die Komplexität eines professionellen Filmdrehs aus Sicht aller Gewerke kennen, lernen neue Schauspieltechniken kennen und werden auf das konkrete Berufsleben vorbereitet, damit sie sich so schnell wie möglich im schwierigen Berufsalltag zurechtfinden.

Großer Workshop Filmschauspiel

Gemeinsam mit der Filmakademie und freien Schauspielern (mit abgeschlossenem Studium) durchlaufen die Studenten in einem siebenwöchigen Blockseminar alle Stationen des Films.

Dozenten aller Gewerke stellen ihre Arbeit vor: vom Drehbuch, über Casting, den Vorbereitungen zum Dreh, bis zum Dreh selber. Regie- und Kamerastudenten der Filmakademie drehen Szenen auf Filmmaterial. Die Szenen werden geschnitten, analysiert und kritisiert. Dazu Synchronarbeiten und Vorbereitung aufs Berufsleben (Agenturen, Caster, DVD etc.). Zusätzlich sammeln die Studenten zehn Tage Erfahrungen mit der Strasberg-Lehre.

Meisner-Training III

Drittes und abschließendes Training.

Meilensteine aus 100 Jahren Film

Das siebte Semester

Zusammen mit dem Absolventenjahrgang der Filmakademie soll es den Schauspielern ermöglicht werden, an Abschlussfilmen der Regie-Studierenden in entscheidenden, großen Rollen mitzuwirken. Regiestudenten entwickeln Filmprojekte mit und für die Schauspielstudenten der ADK. Hierbei werden die Projekte sowohl inhaltlich als auch finanziell unterstützt.

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