Tanz
Der Kunsttanz von heute
von Kurt Junghanns
Erschienen in: Theater der Zeit: Surrealismus und was man dafür hält (12/1946)
Assoziationen: Theatergeschichte Tanz

Wie in der Kunst überhaupt, ist auch im Reich des Tanzes der Stil heute umstritten. Der Ausdruckstanz, der unter Führung Mary Wigmans in den zwanziger Jahren die Entwicklung in Deutschland beherrschte, sieht sich heute einer sehr starken Strömung zugunsten des klassischen Balletts gegenüber, und schon hören wir Stimmen, die uns in mehr oder weniger verhüllter Form auf sein baldiges Ende vorbereiten.
Der Tanz ist zwar die beweglichste und damit, wie es scheint, die freiste aller Künste. Aber auch er entsteht und vergeht nicht ohne ursächlichen Zusammenhang. Keine Entwicklung ohne Gesetz, kein Tanz ohne bestimmte, klar erkennbare Voraussetzungen. Als der Ausdruckstanz sich als selbständige Kunstform die Bühnen eroberte und das Ballett verdrängte, war die Welt in einem mächtigen Prozeß des Umbruchs begriffen. Damals traten die Grundzüge des modernen Daseins erstmalig klar in Erscheinung, und ein neues Lebensgefühl entstand.
Mit elementarer Gewalt suchte der Mensch seit der Jahrhundertwende schon nach einer natürlichen, gesunden Lebensweise und warf alte, geheiligte Gewohnheiten über Bord. Er reformierte seine Kleidung; er entdeckte die Veranlagung und die Bedürfnisse seines Körpers und ging dazu über, ihn bewußt zu pflegen durch rhythmische Gymnastik, durch Sport, Sonne, Wandern, durch Luft und Bäder. Spielwiesen, Sportanlagen entstanden und veränderten das Bild selbst der...