Theater der Zeit

Thema: Theater in Mecklenburg-Vorpommern

Im freien Fall?

Das Volkstheater Rostock kämpft ums Überleben. Ein Gespräch mit Rolf Hochhuth, Charly Hübner, Sewan Latchinian, Tobias Rausch und Stefan Rosinski

von Ulrich Rausch, Sewan Latchinian, Gunnar Decker, Rolf Hochhuth, Charly Hübner und Stefan Rosinski

Erschienen in: Theater der Zeit: Aleksandar Denic: Realität des Absurden – Bühnen für Castorf in Berlin und Bayreuth (06/2013)

Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Volkstheater Rostock

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Charly Hübner, Sie haben 1991 in Neustrelitz als Schauspieler und Regieassistent angefangen, spielen heute in Köln bei Karin Beier, mit der sie nun auch ans Schauspielhaus Hamburg gehen. Ist es überall leichter, Theater zu machen, als in Mecklenburg- Vorpommern?

Charly Hübner: Köln war vor Karin Beier fast schon eine künstlerische Brache. Sie hat sich daher zum einen Schauspieler geholt, von denen sie künstlerisch überzeugt war, ohne dass das unbedingt Stars waren. Zum anderen verband sie das Theater im Laufe der Jahre mit lebenden Autoren wie Elfriede Jelinek. Mit ihr wurde zum Beispiel über den Einsturz des Stadtarchivs gesprochen: „Haben Sie nicht Lust, dazu etwas zu schreiben?“ Das brachte den großen Durchbruch, der dazu führte, dass Köln Theater des Jahres wurde. Dadurch wurde aber auch das Kölner Publikum auf einmal wach für andere Unternehmungen, wie den „Kirschgarten“, wie „Demokratie in Abendstunden“ – und sogar für so einen Verrückten wie Herbert Fritsch.

 

Sewan Latchinian, Sie haben in den letzten zehn Jahren gezeigt, wie es in Senftenberg, einer Stadt mit wenigen Einwohnern, mit wenig Geld, möglich ist, ein Theater zu machen, für das man gern dorthin fährt. Es gibt andere Beispiele von Aufschwung wie Dresden und Plauen-Zwickau. Lässt sich das auch in Rostock verwirklichen?

Sewan Latchinian: Es ist gerade für Köln beschrieben worden, wie das gehen kann: einfach anfangen, sich nicht von denen, die behaupten, es ginge gar nichts mehr, herunterziehen lassen, auch wenn sie im Detail recht haben mögen, was die Vergangenheit betrifft. Vielleicht einfach sagen: Geht nicht, gibt’s nicht. Manchmal hat man damit Glück und manchmal auch nicht. Das werden wir sehen. Aber ich denke, dass die Lust der Macher und der Zuschauer entscheidend ist für das Theaterklima in einer Stadt. Ich werde versuchen, Frust in Lust zu verwandeln.

 

Rostock hatte ja zu DDR-Zeiten unter seinem berühmt-berüchtigten Intendanten Hanns Anselm Perten eine große Zeit. Rolf Hochhuth, Ihr „Stellvertreter“ kam auf dieser Bühne, auf der wir jetzt sitzen, im Februar 1966 zur Aufführung. Wie erinnern Sie die Arbeit an Pertens Volkstheater?

Rolf Hochhuth: Perten gehörte zu den drei, vier Intendanten, die nach dem Muster Piscators – er fühlte sich auch ein bisschen als ein Schüler Piscators – den Autor schon auf die Proben eingeladen haben. An sich wird gewünscht, dass der Autor schön daheim bleibt und am Tag der Premiere anreist und alles fabelhaft findet. Das hat Perten nie gemacht. Ich habe das in dieser Intensität sehr selten so erlebt wie bei Perten.

 

Tobias Rausch, Sie stehen für eine neue Art von Projekttheater, das nicht weniger den Nerv der Zeit zu treffen versucht wie Rolf Hochhuth mit seinen Stücken in den sechziger und siebziger Jahren. Sind die Recherche-Projekte ein Weg aus der Rostocker Krise?

Tobias Rausch: Die Erfahrung, die ich immer wieder mache, ist, dass die Theater in den letzten Jahren zu Hochleistungsbetrieben geworden sind, die immer mehr mit immer weniger Personal produzieren. Da ist es extrem schwierig für die Theater, noch aktiv am Leben der Stadt teilzuhaben. Und das ist eigentlich das, was wir mit unseren Rechercheprojekten versuchen: raus in die Stadt zu gehen, mit den Leuten zu sprechen, deren Geschichten aufzusammeln, herauszufinden, was hier für Atmosphären herrschen, und die Leute in das Projekt zu integrieren.

 

Und jetzt gehen Sie nach Rostock-Lichtenhagen?

Rausch: Die Frage nach „Alles offen“ war, ob man ein Recherchestück über die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen machen kann. Es gibt allerdings eine gewisse Müdigkeit bei diesem Thema. Der Sinn von dem Projekt kann es ja nicht sein, dass sich das Theater anschließend nur auf die Fahnen schreibt: Seht her, wir gehören zu den Guten. Wir sind derzeit in der Diskussion über die Frage, wie man etwas machen kann, wovon tatsächlich auch dieser Stadtteil profitiert, weg von dieser engen Fokussierung, Lichtenhagen sozusagen als den Ort des Bösen zu präsentieren – und dann das Mikrofon hinzuhalten und zu warten, bis der entscheidende Satz fällt, den man dann zitieren kann.

 

Stefan Rosinski, Sie sind als Geschäftsführer des Volkstheaters eigentlich nur für das Geld zuständig, was hier ja ein entscheidendes, aber eben nicht das einzige Problem ist. Sie streiten wie kein Zweiter für die Zukunft des Hauses. Wie lebt man hier als unverbesserlicher Idealist?

Stefan Rosinski: Als ich im August 2011 hier anfing, erlebte ich tatsächlich eine Art Schock. Ich wusste natürlich, dass die Verhältnisse eng sind, aber was das genau bedeutete, war mir doch neu. Ich kam vom Staatstheater Hannover, bin dann nach Berlin gegangen, an die Opernstiftung, von da an die Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz, also alles vergleichsweise große und sehr große Institutionen. Und landete hier in Rostock mit dem Anreiz – und das war der wesentliche Grund, hierherzukommen –, dass diese Stadt die Idee hat, wirklich ganz ernsthaft ein neues Theater bauen zu wollen. Dann setzte die Ernüchterung darüber ein, wie mit diesem Sachverhalt umgegangen wird.

Ich will Herrn Latchinian überhaupt nicht in seinen Motivationen bremsen, ich finde auch den Hinweis auf Köln interessant – aber es gibt eben eine fundamentale Differenz zu Rostock. Es geht um das Verhältnis zwischen gestaltender Politik und dem Theater als soziokulturelle Funktion innerhalb einer Gesellschaft. Vor allem muss die Politik eine Idee davon haben, was die städtische Gesellschaft braucht. Da hier Dresden erwähnt wurde: Dieses erfolgreiche Stadttheater – wie es Wilfried Schulz auch in Hannover schon betrieben hat – kostet natürlich Geld. Und dieses Geld muss bereitgestellt werden, damit es in dieser Spezifität funktionieren kann. An der Stelle zum Beispiel hakt es in Rostock, und wenn ich dann höre, die Akzeptanz beginne über die Leistung des Theaters, dann meine ich: Sie beginnt noch vorher, nämlich genau damit, diese Leistung ermöglichen zu wollen. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz.

Hochhuth: Wie gut besucht das Haus heute Abend ist! Und ich finde es sehr schön, dieses Gebäude. Muss man denn, wenn man das hat, ein neues bauen? Da müsste man ja vollkommen größenwahnsinnig sein, wenn man schon für dieses angeblich nicht genug Geld hat.

 

Übrigens hat schon Hanns Anselm Perten zwei Anläufe zu einem Theaterneubau in Rostock unternommen. Die Pläne dafür existieren noch. Sogar er ist daran gescheitert, und das unter DDR-Bedingungen, wo er sehr viel Einfluss hatte. Herr Latchinian, brauchen Sie denn unbedingt ein neues Theatergebäude?

Latchinian: Ja, und es ist ganz eindeutig der Wille der Stadt, ein neues schönes Theater zu haben. Es mag im Moment auch etwas täuschen, es macht einen tollen Eindruck von der Bühne aus. Aber die Kolleginnen und Kollegen kennen das Theater hinter den Kulissen. Die Akustikprobleme des Orchesters oder die marode Bühnentechnik im Handbetrieb zum Beispiel, und es sieht von außen freilich wirklich unwürdig aus, wie eine ehemalige Kaufhalle. Aber man kann – davon bin ich überzeugt –, solange es noch dieses Provisorium gibt, in ihm versuchen, gutes Theater zu machen.

Hochhuth: Ich finde es vollkommen kriminell, dieses Haus abreißen zu wollen. Man braucht vielleicht eine neue Oper. Aber dieses alte, wundervolle, traditionsreiche Theater – das reißt man doch nicht ab!

Latchinian: Das ist wohl auch noch offen. Das gebe ich jetzt einfach mal weiter an die Bürgerschaft. Da bin ich zu neu hier am Strand. Aber ich fände es schade, wenn wir freiwillig sagen würden: Das, was hier 25 Jahre geplant und gehofft wurde, das muss nicht mehr sein. Theoretisch reicht immer ein Brett zum Theatermachen, aber ein Neubau wäre besser. Und ich kann nur sagen, klar, lieber Herr Rosinski, vielleicht ist es für Sie noch etwas anderes hier, so wie es für uns etwas anderes ist, wenn wir in die ehemaligen alten Bundesländer kommen und gucken: Wie ticken da die Menschen? Ich persönlich als gebürtiger Leipziger und eben in der DDR geprägt – das Rostocker Bier hat schon mal so schlimm geschmeckt! – habe das Gefühl, dass es vieles gibt, das mich naturgemäß noch etwas mehr mit den meisten Menschen, die hier in Rostock leben, verbindet. Also auch der Umbruch, die Wende, alle Sorgen und Nöte davor, alle Freuden danach, die Identität aus der DDR, die neue, die noch nicht ganz gefunden ist, neue Prägungen, alte Utopien – also das ist sicher interessant, wenn wir uns zusammentun.

 

Es gibt aber wie immer die Mühen der Ebene, und die bestehen aus Zahlen, die ernüchtern. Aktuell sollen weitere 500 000 Euro eingespart werden, wie soll das gehen?

Rosinski: Es ist ja tatsächlich bemerkenswert, dass dieses ein Theater ist, das aus der Perspektive vieler Rostocker Politiker von Jahr zu Jahr günstiger werden soll. Das hab ich bisher in der Form noch nicht kennengelernt. Die Frage muss ja gestattet sein, woher das eigentlich kommt, dass die Politik es hier mehrheitlich als ihren Auftrag wahrnimmt, das Theater immer billiger zu machen – ungeachtet aller haushalterischen Zwänge, die es woanders auch gibt. Dieser Impetus ist in anderen Kommunen tatsächlich anders, dort gilt auch mal der Gedanke, das Theater interessanter oder besser machen zu wollen.

Übrigens begrüße ich es sehr – und darüber sollten wir reden: über die heterogene Geschichte Rostocks, die Ab- und Zuwanderungen und was in diesem Kontext Stadtidentität überhaupt bedeuten kann –, dass hier mit Sewan Latchinian jemand antritt, der im Osten verwurzelt ist. Ich sehe das als große Chance, hiesige Mentalitäten zu verstehen und diesen Prozess anders zu moderieren. Denn das müssen wir dringend tun.

 

Herr Hübner, Stefan Rosinski hatte bei anderer Gelegenheit von einem quasi postsozialistischen Vakuum, einer Art von latentem Unbehagen gesprochen. Ist mit diesem Umbruch, der ja auch ein Abbruch vieler Biografien war, etwas bislang nicht zum Ausdruck gekommen, was wichtig wäre, um hier und heute diese Gesellschaft zu verstehen, sich einzumischen und zu gestalten? Gibt es da eine Form von Kränkung, die sich dann leicht in Selbstgerechtigkeit verwandelt?

Hübner: Ich habe mich selber natürlich auch gefragt: Was hab ich jetzt sozusagen als Neu-Wessi und Alt-Ossi hier zu suchen, als Hobbykommissar in Rostock? Aber ich hab hier fast studiert. Es sollte auch die Schule mal geschlossen werden, und deswegen durfte ich hier nicht studieren. Ich musste nach Berlin, wollte als Mecklenburger natürlich unbedingt in Rostock studieren, und da habe ich hier oft im Theater gesessen und lauter Uraufführungen gesehen.

Ich habe den Eindruck, der Politik dieser Stadt fehlt das Grundverständnis dafür, dass wir in diesem demokratischen System, unter spätkapitalistischem Vorzeichen, das Theater dringend brauchen, und zwar aus psychologisch- philosophischen Bedürfnissen heraus. Es ist der einzige Ort des Diskurses – das schafft kein Rock-konzert und auch kein Event. Da kann einer aufstehen und sagen: „Nö! Wie ihr das Thema angeht, da bin ich dagegen!“ Oder aber: „Danke, Leute.“ So wie jetzt bei einer Aufführung – ich will gar nicht die Stadt und die Aufführung nennen –, Katharsis stattfindet, auf einmal ein Publikum heult, und zwar geschlossen heult. Das gibt es. Das gibt es heute auch unter den Zwängen.

Als Künstler gibt es für mich diesen Punkt, der entscheidend ist, egal, ob im alten oder neuen Osten, im alten oder neuen Westen. Es ist der Moment, in dem wir es auf der Bühne irgendwie schaffen, uns und den Saal zu rocken. Das ist immer eine Mischung aus Energie, Emotion und Inhalt. Schaffe ich das als Künstler? Das ist bei allem, was ich mache, und auch bei den Kollegen, mit denen ich arbeite, immer die erste Frage. Die zweite Frage ist dann die nach der Ökonomie. Schaffe ich es, meine Arbeit zu machen, meine Miete reinzukriegen, ohne dass ich irgendwann von den Knochen falle?

Und da scheint es so, dass die Politiker ihren Fahrplan verloren haben, eher Wirtschaftsbosse für ein Land sein wollen anstatt Volkspolitiker – das ist mein Eindruck. Heute Abend merke ich aber auch: Hier brennt’s! Und ich hab das dringende Bedürfnis, als ständiger Gast hier in dieser Stadt irgendwie ein paar Funken mit auf die Bühne zu werfen, die vielleicht zünden.

 

Es könnte sein, dass in einigen Jahren eine wunderbare Immobilie – wo auch immer – in der Stadt steht, es aber kein festes Ensemble mehr gibt, das darin spielt. Ist das nicht eine naheliegende Horrorvision?

Latchinian: Ja, die permanente Infragestellung von Theatern ist nicht nur unkünstlerisch, sondern zutiefst undemokratisch. Und ich habe dafür keinerlei Verständnis. Denn Theater ist gelebte Demokratie, eine Ergänzung von anderen Foren, in denen demokratische Prozesse stattfinden. Hier, in Rostock, können neben Klassikern der Dramen- und Musikliteratur noch ganz viele spannende, neue Geschichten erzählt werden, die vielleicht nach der Wende etwas zu kurz gekommen sind, weil da in manchem natürlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden ist. Für vieles war zu wenig Zeit, und es gab dann andere Sorgen als Reflexion. Das kann aber hier künftig Hochspannung im Spielplan ausmachen, hat es ja auch zu Teilen schon in der Vergangenheit.

Ich inszeniere in Senftenberg gerade vier Uraufführungen, darunter einen neuen Text von Volker Braun, in dem die Frage gestellt wird, wie heutzutage ein Aufstand in der Bundesrepublik Deutschland denkbar wäre, ausgehend von den Treuhandverbrechen 1992, verlängert in die Gegenwart. Der andere Text von Ingo Schulze, der einfach die Frage stellt: Hat unsere Kanzlerin recht, wenn sie von einer marktkonformen Demokratie träumt? Oder geht es nicht um demokratiekonforme Märkte? Und das alles im Gewand von „Des Kaisers neue Kleider“. Wo sich dann ja die Frage stellt: Wo ist das Kind, das ruft: „Er ist ja nackt!“? Dann machen wir die Bühnenversion des neuen Romans von Christoph Hein: „Weiskerns Nachlass“. Darin wird die Geschichte eines 55-jährigen Wissenschaftlers erzählt, der hoch begabt und sehr beliebt ist in der Leipziger Universität, aber nur eine halbe Stelle hat. Weil er aber Weiskern-Forscher ist – das war ein Librettist von Mozart –, interessiert das irgendwie keinen, ist kein Geld da für so ein Gedächtnis unserer Kultur und auch kein Geld für den Menschen selbst, und so gerät er ständig in prekäre Situationen und hat ständig Schwein, dass es nicht zur Katastrophe kommt. Aber warum muss ein begabter Mensch, der sich mit Kunst und Bildung befasst, Schwein haben, um nicht in die Katastrophe zu geraten, im Jahr 2013 in der BRD?

Das sind alles Stoffe, die, denke ich, auch in Rostock interessieren könnten, die in einem guten Sinne etwas mit einer produktiven Vergangenheitsbewältigung zu tun haben, ohne Nostalgie, ohne Herumgejammere, aber eben mit dem Blick zurück, der dann aus Geschichtsbewusstsein Selbstbewusstsein machen kann.

 

Rolf Hochhuth, gibt es eine Kulturfeindlichkeit der herrschenden Politik?

Hochhuth: Ich kann nur sagen: Zu Zeiten der Monarchie wäre es nicht denkbar gewesen, aus finanziellen Gründen ein Theater zuzumachen. Und diese Republik ist die reichste, die hier auf deutschem Boden je existierte. Und sie schließen Theater. Das ist eine Kulturschande!

 

Ich verstehe das nicht so, dass Sie die Monarchie als Staatsform wiederhaben möchten, sondern als Ruf nach einer Schutzmacht für die Kultur. Wo ist die in diesem Land? Wer von den führenden Politikern geht überhaupt noch ins Theater? Außer in Bayreuth, im Falle von Frau Merkel.

Hochhuth: Seit der Gründung der Bundesrepublik ist es niemals einem Pressefotografen geglückt, einen Kanzler oder einen Präsidenten in einer Uraufführung zu erwischen. Sie fahren nach Bayreuth wie der Führer, aber sie exponieren sich niemals. Und sich exponieren für Kunst heißt, zur gegenwärtigen Kunst zu stehen, zu neuen Autoren. Die Generation der großen Intendanten, wie Piscator oder Gustaf Gründgens oder der Münchner Everding von den Kammerspielen, die hätten sich geschämt, würden sie nicht in jedem Spielplan einem neuen Autor die Chance gegeben haben, da zu sein.

 

Tobias Rausch, Sie dürfen sich von Herrn Hochhuth angesprochen fühlen.

Rausch: Es ist sicherlich richtig, dass es eine Schwierigkeit gibt im Verhältnis von dem, was wir Theatermacher machen, und dem, wie wir von der Politik wahrgenommen werden. Das ist ein Problem. Ich warne nur davor, dass man sich damit begnügt zu sagen: Die Politiker vermasseln es. Das reicht nicht. Ich glaube, wir, die wir im Theater arbeiten, müssen uns auch selbst ändern. Wir können sagen: Früher war es besser. Oder aber: Die Krise ist eigentlich der Beginn, der Anfang von etwas Neuem. Und ich finde es absolut bemerkenswert, dass hier so viele Menschen sind und dass es diese Runde gibt. Das ist nicht selbstverständlich. Und das könnte auch eine Chance sein. In den Theatern werden derzeit viele neue Formate ausprobiert, die über das reine Stückspielen hinausgehen: Man kann mit dem Theater in die Stadt hinausgehen, Bürger beteiligen, Kooperationen mit Universitäten und Institutionen eingehen und so weiter. Das Theater – nicht nur in Rostock, sondern im ganzen deutschsprachigen Raum – befindet sich in einer Umbruchsituation, die mir wie der Wechsel von der Schreibmaschine auf den Computer erscheint. Wir müssen aufpassen, dass wir den Computer nicht einfach so weiter benutzen wie vorher die Schreibmaschine. Viele Städte sind sich gar nicht im Klaren darüber, was für ein Ding sie da stehen haben, was das für Möglichkeiten hat.

Hochhuth: Was haben Sie gemeint mit dem Satz: Das Theater ist jetzt der Computer? Ich verstehe das nicht.

Rausch: Das war eine Metapher.

Hochhuth: Ich will wissen, was das mit dem Theater zu tun hat!

 

Vielleicht, dass es eine neue Vielfalt der Ausdrucksformen, der Möglichkeiten von Theater gibt, so wie die Recherche-Projekte von Tobias Rausch. Ebenso muss sich Theater heute in einem multimedialen Zusammenhang als Einmaliges behaupten. Es kann nicht so tun, als existiere dieser Kontext nicht. Herr Rosinski, ändert sich gerade jetzt das grundlegend, was wir Wirklichkeit nennen?

 

Rosinski: Was man aus den vorherigen Positionen sehr schön herauslesen kann, ist Theater in Transformation. Die junge Generation, die jetzt antritt, Theater zu machen, wählt tatsächlich und immer in Bezugnahme auf die Gesellschaft, auf die Selbstlegitimation von Theater eine andere Strategie. Natürlich muss sich der Schauspieler auf die Bühnenbretter und sein Publikum konzentrieren. Aber auf der anderen Seite wissen wir auch: Theater sind hochkomplexe Unternehmungen, die aus Verwaltungshaushalten kommen, seit jeher, aus der Kameralistik, der fürstlichen Kasse, die administrativ gesteuert ist. Wir stecken in ganz schwierigen Tarifstrukturen, wir sind arbeitsrechtlich verankert.

Ich will damit sagen: Alle hängen mit drin. Und deshalb macht das Politiker-Bashing für mich gar keinen großen Sinn, so sehr es Vergnügen bereiten mag, wenn Rolf Hochhuth hier so kräftig zupackt und seine Schimpfkanonade auf die Politik startet. Das ist erfrischend. Und diese Polemik – wenn nicht im Theater, wo dann? Aber der Diskurs ist eigentlich ein anderer. Denn ich glaube, wir müssen wahrnehmen lernen, dass wir Teil der Gesamtgesellschaft sind, ebenso wie die Politiker, und dass wir an einer gemeinsamen Sprache arbeiten müssen. Wir leben hier nicht auf einer Insel, ganz im Gegenteil: Ein Politiker, dem wir gegenübertreten, ist kein feindliches Gegenüber, sondern wir müssen auch nach diesem Politiker in uns selbst fragen.

 

Andererseits gibt es Verantwortung, und es gibt Entscheidungen, die bei bestimmten Personen liegen, die müssen dann doch auch öffentlich begründen können, warum sie so entschieden haben!

Hübner: Das ist für mich überhaupt kein Widerspruch. Für uns alle heute hier im Raum scheint selbstverständlich: Theater brauchen wir. Aber anderswo ist das gar nicht selbstverständlich. Und zwar nicht in einer sogenannten Unterschicht, in irgendwelchen Ghettos, sondern in der Führungselite! Da ist die entscheidende Frage, hier in Rostock, ob ein freier Fall zu stoppen ist. //

 

Das Gespräch (hier eine gekürzte Version) fand statt am 7. Mai im Rahmen der Veranstaltung „Gegenwart verstehen“ des Volkstheaters Rostock und Theater der Zeit.

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