Der Spracherwerb
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Der Spracherwerb beginnt im Mutterleib. Etwa ab der 22. Schwangerschaftswoche sind die Gehörgänge des ungeborenen Kindes so weit ausgebildet, dass es akustische Eindrücke wie die Körpergeräusche und die Stimme der Mutter wahrnehmen kann. Die Gebärmutter ist kein Ort der Stille. Allein die mütterlichen Darmgeräusche erreichen einen Pegel um 80 Dezibel. Das ist vergleichbar mit Großstadtlärm. Der Beat des mütterlichen Herzschlags, die Phrasierungen des Atemrhythmus und die melodischen Abläufe von Spannung und Lösung im mütterlichen Körper ergeben ein pränatales Concerto grosso. Die Mutterstimme wird über das Gehör, das Gewebe und die knöchernen Strukturen der Wirbelsäule und vor allem des Beckens direkt auf das ungeborene Kind übertragen. Das Hören der mütterlichen Stimme ist ein gesamtkörperliches Ereignis. Andere Stimmen werden nur gedämpft wahrgenommen. Das Gleiche gilt für Musik. Lediglich von außen kommende, sehr tiefe Frequenzen können über die Körperresonanz besser gehört werden. Die körperliche Reaktion der Mutter auf Musik aber nimmt das Ungeborene sehr wohl wahr. Die Mutter überträgt ihre Emotionen und Gefühle beim Hören von Musik auf den Fötus. Eine qualitative Entscheidung darüber, was bei Mutter und Kind gute Gefühle auslöst, trifft allein die Mutter. Die Behauptung, dass Säuglinge beim Hören von Mozart besser einschlafen als bei Rockmusik, hängt dann wohl eher...