Essay
Eine Abfolge lustvoller Störattacken
25 Jahre Unidram in Potsdam
Was als studentische Initiative begann, ist heute zu einer internationalen Festivalgröße in der professionellen Freien Szene gewachsen. In der Jubiläumsausgabe vom 30. Oktober bis 3. November 2018 bespielten 100 Künstler*innen aus Europa, Israel und Russland das gesamte Gelände ums T-Werk in der Schiffbauergasse.
von Almut Wedekind
Erschienen in: double 39: Gewalt spielen (04/2019)
Assoziationen: Freie Szene Europa Asien Puppen-, Figuren- & Objekttheater
Es begann 1993. Die Theatergruppe DeGater’87, die sich aus dem Studienjahrgang 1987 der Fachbereiche Deutsch und Geschichte zusammengefunden hatte, entwickelte die Idee, ein studentisches Festival in Potsdam auszurichten. Professoren halfen mit Einrichtung von Hiwi-Stellen und Erfahrungsberichten ihrer Erlanger Studententheatertage in den 1960er Jahren.
Die Kulturlandschaft in Ostdeutschland bot (noch) viel Platz, zu experimentieren und (wieder-)zu-beleben. Es herrschte legendäre Postwende-Freiheit: Der radikale Bruch mit den DDR-Traditionen hatte überall, wo zuvor staatliche Struktur reglementierte und organisierte, Vakuen hinterlassen. Mit einem Sog, der sich von nicht ausgelebten Sehnsüchten nährte. Im Fall DeGater‘87 nach internationalem Austausch, abseitigen Stoffen, freiem Geist und Widerwillen: Absurdes. Surreales. Dada. – Camus. Fassbinder. Kafka. Körperliches, sehr direktes Theater mit Subtext statt psychologischer Einfühlung. Eine Ästhetik, die die Programmauswahl von Unidram bis heute prägt.
„Erinnerungsfäden […] und Fenster zur Nostalgie“
Zu Beginn dauerte Unidram für alle Eingeladenen zehn Sommertage. In Gesprächsrunden und Workshops setzten sich Akteur*innen und Publikum mit dem (Un-)Sinn von Kunst auseinander. Mit der Zeit nahm der Anteil professioneller freier Gruppen im Programm gegenüber den studentischen Arbeiten zu. Die qualitative Spannbreite wuchs. 1997 polarisierte Akhes Produktion „Die weiße Kabine“ so sehr, dass das Publikumsgespräch in heftigen Streit mündete. Das Kurator*innenteam fühlte sich regelrecht gefunden von Akhes visuellen Einfällen, die mit der starken Emotionalität überraschten, welche in der Rätselhaftigkeit assoziativer Bilder lag. An der kuratorischen Wegscheide habe man sich im Team dafür entschieden, zu zeigen, was einen selbst begeisterte und interessierte, berichten Franka Schwuchow und Jens-Uwe Sprengel.1 Unidram behielt seinen Namen, wurde jedoch vom „osteuropäisch-deutschen Festival für freies und universitäres Theater“ (1998) zum „osteuropäisch-deutschen Festival für Off-Theater“ (1999) und fokussierte sich auf professionelles freies Bilder- und Multimediatheater. Etwa zeitgleich liefen die generierten ABM-Stellen aus, die Finanzierung wurde prekär, einige Mitglieder stiegen aus.
Nach vielen Ortswechseln zog Unidram 2004 mit dem T-Werk dauerhaft auf das Gelände an der Schiffbauergasse. Die Bewerbungen aus den osteuropäischen Ländern hatten mit der Zeit – gemäß der zunehmend eingeschränkten bis unterlassenen Förderung vor Ort – an Originalität verloren, so Schwuchow. Man entschied sich, Osteuropa besonders im Auge zu behalten, nahm aber den Schwerpunkt aus dem Untertitel. Das „Festival für junges Theater in Europa“ (2006) wurde schließlich das „Internationale Theaterfestival Potsdam“ (2007). Die Festivalzeit rutschte in den Herbst und halbierte sich 2011 auf fünf Spieltage. Professionelle freie Gruppen, die zunehmend international organisiert sind, können es sich nicht leisten, lange auf einem Festival zu verweilen. Räumlich, technisch und personell professioneller aufgestellt zu sein, findet Schwuchow angenehm. Den intensiven Austausch über das Programm vermisse sie jedoch. Der Verwaltungsaufwand habe stark zugenommen, Freiräume für künstlerische Experimente schrumpften zusehends. Es klingt etwas Wehmut an, wenn Thomas Pösl feststellt, dass das „Anarchische [der] Anfangsjahre […] hier und da der Professionalisierung zum Opfer [fiel]“.2
„Mischwesen, Travestien und neue Magie“
Unidram 2018 strahlt eine gewisse Nostalgie aus, ohne staubig zu wirken. Im Herzen des Festivalgeländes lädt neben dem Musik-barzelt ein Fuhrpark mit Feuerstelle zum Verweilen ein: Das Technikteam hat eigene Autos zu einer multimedialen Kunstinstallation umgetüftelt. Das gesamte Areal ist übersät mit Zitatschnipseln aus den Ankündigungstexten der 25 Programmhefte (siehe Zwischenüberschriften). Pösl schrieb sie auf Grundlage der eingereichten Bewerbungsunterlagen. Bis heute sei ein Unidram-Prinzip, vorab keine Sichtungen zu veranstalten und dem Gespür des persönlichen Geschmacks zu vertrauen. So habe sich die „Lust auf das Festival und eine gute gemeinsame Zeit“ erhalten, meint Sprengel im Gespräch zwischen all den Erinnerungen, die die vom Techniker Wolf Hinze und der bildenden Künstlerin Heide Schollähn realisierte Ausstellung in diesem Jahr zugänglich macht. Umgeben von Szenenfotos und Momentaufnahmen von Henry Klix und Göran Gnaudschun (ab 1998) kann man auf einem Fahrrad die Vergangenheit erfahren: Über das Pedaltreten treibt man das Projektionsbild der seit 2013 gefilmten Radwege des Technikers Robin Wittkowski zum Unidram-Gelände an. Im ersten Stock künden alte, kunst- und liebevoll gestaltete Reisekoffer langjähriger Mitarbeiter*innen vom Teamgeist. Darunter ein Miniaturtheater mit Anleitung zum Bespielen durch die Betrachterin ...
Und auf den großen Bühnen? Das Festivalprogramm benennt „Körperbilder“ als kuratorische Linie und umfasst wieder alle Sparten, die nicht zentral mit Sprache operieren. Akhe (seit 1997 acht Mal bei Unidram) gehen dieses Jahr gleich drei Mal schonungslos mit ihren Körpern um: Neben der Eifersuchtsgeschichte „Mr. Carmen“ präsentieren sie erstmals außerhalb von St. Petersburg die Performances „Demokratie“ und „Diktatur“. Immer noch entweichen den gewohnten Materialien und Vorgängen3 faszinierend poetische Momente der Eindringlichkeit: Da sind drei Rohölfässer, die die Performer, mit Brot in Ohren und Nase, aufschweißen, um darin abzutauchen. Tiefschwarz übertritt das Öl zähflüssig die Fassränder und überschwemmt unaufhaltsam die Bühne. Beißender Benzingeruch greift um sich, pathetische Musik als sich der Erste schwerfällig am Flaschenzug aus dem eigenen Sumpf emporzieht. Der Mund ist weit nach oben hin aufgerissen, der Körper glitzert gleißend im Spotlight. Ein tödlich schöner aufsteigender Engel der Geschichte im stummen Schrei, verklebt wie verendete Seevögel nach einer Havarie. Die drei kämpfen sich aus den Fässern, um zu den zuvor geschnitzten Brotstempeln über die ölige Bühne zu schlittern und das Wort „Demokratie“ auf Holzrahmen zu stempeln. Das Publikum wird gebeten, den aktuellen Ölpreis zu googeln, die Bilder werden zu Preisen versteigert, die die Materialkosten decken.
Eine Intensität, die sonst nur Simon Mayers „Oh Magic“ erreicht. Ein stummer Tanz zwischen Scheinwerfer- und Mikrofonroboter eröffnet die Bühne. Sie laden Klavier, Schlagzeug und Elektropult dazu und entführen das Publikum in einen Rhythmus. Behutsam, Schritt für Schritt treten die Musiker*innen hinzu. Sie beginnen, sich mit ihren Instrumenten in Trance zu spielen, um schließlich als menschliche Körper in Ekstase überzugehen. Als sie sich nackt, verschwitzt, liebevoll an ihre Instrumente kuscheln, wird es still und wohliger Friede greift um sich. Der Scheinwerfer grüßt ein letztes Mal das Mikrophon. Es dauert einige Momente, bis der Applaus zeigt, dass man dieser Einladung entweder begeistert folgt oder erbost, gar kühl enttäuscht den Raum verlässt.
Das Figurenspiel ist würdig vertreten durch Ariel Dorons „Besuchszeit vorbei“ (besprochen in double 37) und La Pendues „Tria Fata“, das die Lebens- und Liebesgeschichte einer alten Frau erzählt, deren Körper Stück für Stück zerfällt. Die einzelnen Lebensabschnitte bieten Estelle Charlier Gelegenheit, ihr überaus virtuoses Handwerk in sämtlichen genretypischen Spielweisen zu bezeugen: Von klassischer Tod-Handpuppe über Stabpuppe und Marionette bis zum Maskenspiel und Schattentheater bietet sie, begleitet vom Ein-Mann-Gipsyorchester Martin Kaspar Läuchli, dem Publikum leidenschaftlichen Hochgenuss. Selten habe ich so viele Menschen an einem Theaterabend weinen sehen.
„Immer mehr Dämonen, nur Erlösung gibt es nicht“
Bis heute ist das Festivalgelände klein genug, um sich gegenseitig zu sichten und gemeinsam zu essen. Viele der Gastspielgruppen bedankten sich für eine Atmosphäre des Austausches. Das scheine selten geworden und mache Unidram besonders, so Schwuchow.
Und in Zukunft? Pösl erwähnt „Umbruch“ und „Übergabe an den Nachwuchs“. Sprengel glaubt eher an die Schaffung eines neuen Formats, das eine neue Generation kuratieren kann. Was er bis heute schätzt? Dass sich die familiäre Atmosphäre erhalten habe. Und viele immer wieder mit Eigenwillen und -initiative dabei seien bis zur Verausgabung. So wie gestern, als irgendwer aus der Technik ein spontanes Punkkonzert organisiert hat, das kein Ende finden wollte. – www.unidram.de
1 Herzlichen Dank an die beiden Mitbegründer*innen für die aufgeschlossenen Gespräche.
2 Ein resümierendes Gespräch zwischen den Gründer*innen Katja Dietrich-Kröck, Thomas Pösl, Franka Schwuchow und Jens-Uwe Sprengel ist in der Festivalzeitschrift abgedruckt.
3 Zu Akhes Ästhetik siehe auch Gertraud Johne: Realitätsformungen. In: double 35, S. 38-40. Und: Anna Ivanova-Brashinskaya: Akte AXE. In: Annette Dabs, Tim Sandweg (Hrsg.): Der Dinge Stand. Berlin 2018, S. 110-116.