Auftreten: Wege auf die Bühne
von Juliane Vogel und Christopher Wild
Erschienen in: Recherchen 115: Auftreten – Wege auf die Bühne (11/2014)
Assoziationen: Schauspiel Dramaturgie Wissenschaft
Wie ist folgender Satz zu deuten? „Es wurde so hell wie nie zuvor, wenn er auftrat, und dochtlichtfahl, sobald er abging.“1 Welche semantische Dichte und praktische Komplexität birgt die scheinbar simple Regieanweisung „Enter Cesar“? Welche Herausforderungen verbergen sich in einer weiteren Regieanweisung, welche verlangt, dass eine Person „mit jähem Ruck“2 auftritt? Oder wie hat man es zu verstehen, wenn Figuren in Elfriede Jelineks Stück Burgtheater mittels einer „Art Märchenkahn“ oder eines „paradiesischen Gefährtes“ erscheinen, oder wenn sie umgekehrt „verstohlen und gehetzt“ auftreten?3 Schließlich: Welche performative Kraft wohnt einem Satz wie „Incomes I“4 inne, der nichts anderes zu sagen scheint, als dass der Sprecher im Auftreten begriffen ist?
Die hier versammelten Texte handeln von der vielleicht einfachsten und grundlegendsten Operation in Drama und Theater. Als theatralische Handlung erscheint das Auftreten zunächst einmal als selbstverständlich und unscheinbar. Es gehört so offenkundig dazu, dass man es als ein eigenes organisierendes Prinzip gar nicht mehr wahrnimmt. Mit dem Auftreten ist es so wie mit Edgar Allan Poes Purloined Letter, der bekanntlich in „plain sight“ versteckt war. Gerade deshalb aber ist es so schwer zu fassen – und von den Theater-, Literatur- und Kulturwissenschaften weitgehend vernachlässigt worden.5 Dabei steht die scheinbare Simplizität einer so selbstverständlichen Operation im umgekehrten Verhältnis zu ihrer semantischen und strukturellen Überdeterminiertheit, der methodologisch nur schwer beizukommen ist. Zu vielfältig sind die Ausprägungen und performativen Leistungen des Auftretens, als dass es sich einem einzigen perspektivischen oder disziplinären Zugang erschließen würde. Das Bedeutungsspektrum dessen, was es heißt, ‚einen Auftritt zu haben‘, ist innerhalb und außerhalb des Dramas unübersehbar. Von der Castingshow bis zum akademischen Hearing, von der ‚Szene‘ der Diva bis zum diskreten, aber nicht minder ambitionierten Erscheinen einer grauen Eminenz, vom Politikerauftritt bis zum Helikopterauftritt eines James-Bond-Ganoven lässt sich von Auftritten sprechen, insofern Akteure in mehr oder weniger markanten und aufmerksamkeitserregenden Formen sichtbar werden und in den Wahrnehmungsfokus eines Publikums eintreten. Der vorliegende Band macht es sich zur Aufgabe, Drama und Theater aus der Perspektive des In-Erscheinung-Tretens zu erschließen und das Auftreten von Personen an der Bühnengrenze als ein zentrales performatives Prinzip bewusst zu machen.
Aus heuristischen Gründen widmet sich eine Mehrheit der hier versammelten Beiträge Auftritten, die durch ihre Auffälligkeit und erhöhte Merkbarkeit hervorstechen. Von weniger auffälligen Vorgängen heben sie sich dadurch ab, dass sie durch die Ankunft einer Person auf der Szene eine gegebene Situation wahrnehmbar verändern.6 Wenn das ‚Licht‘ einer neuen Person den ‚dochtlichtfahlen Raum‘ erleuchtet, wird ein zeitliches Kontinuum unterbrochen. Im Kleinen wie im Großen sind Auftritte ‚Vorkommnisse‘ im Wortsinn, indem sie durch einen Schritt auf die Bühne ein Ereignis schaffen, eine Situation erneuern und dabei sowohl bei den auf der Bühne Anwesenden wie bei den Zuschauern eine „Umstellung der Orientierung“ erwirken: „Sie verändern den Sinn einer Situation, indem sie geschehen.“7 Der Auftritt des Großinquisitors in Friedrich Schillers Don Carlos kann das ebenso illustrieren wie der Besuch der alten Dame in Dürrenmatts gleichnamigem Stück.
Zugleich entfalten Auftritte beachtenswerte strukturbildende Kräfte. Durch die Reihung von Ankünften werden Szenen gegliedert und dramatische bzw. theatrale Abläufe rhythmisiert. Zugespitzt könnte man sie ein animiertes Gliederungsprinzip nennen, das mittels der körperlichen Bewegungen der Akteure rhythmische Impulse setzt. Deshalb untersuchen die Beiträge des Bandes auch, wie Auftritte soziale Interaktion auf der Bühne takten. Sie behandeln die Verkehrsformen, die zwischen An- und Abwesenheit auf der Bühne vermitteln, und beschreiben ihre Funktionen in dramatischen und theatralen Artefakten, die ihre Figuren nicht nur erscheinen lassen, sondern ihr Erscheinen immer auch sequenzieren. In Schlaglichtern erhellen sie, wie Auftritte das dramatische Tempo erhöhen, wie sie Abstände akzentuieren oder aber eine Verlangsamung der Abläufe erzielen. Aus unterschiedlichen Perspektiven und an Texten unterschiedlicher historischer Herkunft umkreisen sie den Doppelcharakter eines Vorgangs, dessen Bedeutung sich in immer neuen Formen im Spannungsfeld zwischen Ereignis und Struktur, Unterbrechung und Verknüpfung, „Puls und Bruch“8 aufbaut.
Unübersehbar ist dabei im Theater der Ort, an dem Personen nach vorne gehen und in die Sichtbarkeit einer Bühne eintreten. Seine Institutionen schaffen die notwendigen Voraussetzungen für den Auftritt, ebenso wie sie über die Herstellungsbedingungen reflektieren, die das Eintreten eines Auftrittsereignisses und die Strukturierung einer Auftrittssequenz möglich machen. Das „Inszenieren als Erscheinen-Lassen“9 lässt sich hier unter kontrollierten Bedingungen studieren. Indem das Theater Orte freiräumt und Lichtungen schafft, indem es Bahnen anlegt und Schwellen errichtet, bereitet es dem Auftritt den Boden. Aber auch das Drama erschließt sich unter dem hier gewählten Gesichtspunkt als eine Gattung, die sich in Auftritte gliedert, in Auftritten fortschreitet und in seinen szenischen Anordnungen immer auch den kritischen Moment reflektiert, in dem Menschen in die Sichtbarkeit eintreten. Institution und Gattung laden gleichermaßen dazu ein, die performativen und theatralen Vollzüge in den Blick zu nehmen, die der Figuration einer Person in den Augen der Öffentlichkeit dienen.
Nicht zuletzt wird der Auftritt dabei durch ein komplexes mediales Ensemble gestützt, das in seiner theatralen Interferenz gesehen und gewürdigt werden muss. Visuelle, akustische, sprachliche, choreographische und technische Mittel tragen dazu bei, eine Person auf der Bühne zur Geltung zu bringen. In der Regel ergeben sich Evidenzeffekte erst im Zusammenspiel mehrerer medialer Arrangements. Kann man einerseits davon ausgehen, dass sich eine Figur erst dann zur Gänze zeigt, wenn sie zu sprechen beginnt und sich dem Publikum im starken Medium der Sprache einprägt, unterstützen andererseits flankierende Medien deren In-Erscheinung-Treten. Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit hängen beispielsweise weitgehend vom Medium Licht ab, das in ganz unterschiedlichen Stärken und Qualitäten zur Verfügung stehen kann. Auch Bühnenmusiken tragen das ihrige dazu bei, einem Auftritt Nachdruck zu verleihen. So ist die Oper als eine musikdramatische Gattung einzustufen, die dem Erscheinen der Person besondere Aufmerksamkeit zuwendet und die akustischen Implikationen des ‚Schritts nach vorne‘ entfaltet. Der Auftritt von Wolfgang Amadeus Mozarts Königin der Nacht in der Zauberflöte wird akustisch durch Trommelwirbel und großes Crescendo eingeleitet – auf der visuellen Ebene aber teilen sich Berge auseinander, um die Königin einzulassen, und verwandeln sich „in ein prächtiges Gemach“10. Neben den wechselseitigen Modellierungen theatraler und dramatischer Strukturen werden im vorliegenden Band daher auch die Beziehungen von Auftritt und bildender Kunst in den Blick genommen. Dabei zeigt sich, dass jeder Auftretende immer auch in eine abgegrenzte Bildordnung eintritt. Wenn eine Figur den durch die Bühne gesetzten Rahmen überschreitet, um in ihm zu erscheinen, wird die Spannung zwischen dem Geschlossenheitsanspruch eines Bildes und der Dynamik des Auftritts wirksam. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Drama als serielle Abfolge von Tableaus verstanden wird, wie das zum Beispiel bei Diderot zu beobachten ist. Es handelt sich dabei um eine Dramaturgie, die in dem Bemühen, Räume nach außen hin abzuschließen, Auftritte als Störungen von Intimität kennzeichnet. Produktive intermediale Spannungen ergeben sich ebenfalls, wenn Filmauftritte über Theaterauftritte reflektieren und umgekehrt, wenn der Schnitt den Auftritt ersetzt oder wenn die Kamera die verborgene ‚Vorgeschichte‘ des Auftritts in der Backstage in den Blick nimmt.
Insgesamt ist die Frage, in welchem Medium oder in welchen Medien sich ein Auftritt jeweils realisiert, von zentraler Bedeutung. Sie betrifft nicht nur das Spannungsverhältnis von Text und Aufführung, das sich in ganz unterschiedlicher Weise konstituiert – je nachdem, ob sich ein Auftritt auf dem Theater oder in der Schrift, in einem flüchtigen oder einem archivierenden Medium aktualisiert, müssen die Kriterien differenziert werden –, sondern es lassen sich Auftrittstypen und Auftrittswirkungen auch danach unterscheiden, welche Medien bei der Inszenierung dominant gesetzt werden. Stimmauftritte entfalten andere Dynamiken als stumme Auftritte, ebenso wie es einen entscheidenden Unterschied macht, ob eine Figur im Auftritt zuerst gesehen oder gehört wird.
Darüber hinaus erscheinen uns folgende drei Perspektivierungen des Auftretens besonders wichtig.
I. Auftreten als figurative Operation
Wenn Erving Goffman recht hat und wir alle Theater spielen und wir dieses Spiel insbesondere auf dem Theater und im Drama beobachten können, so lenkt das den Blick darauf, dass jeder Auftritt eine figurative Operation darstellt. Diese dient der Herstellung einer persona ficta, bei deren Zustandekommen alle Zwischenstufen der Fiktionsbildung zwischen subtiler Selbsterhöhung, Vorspiegelung oder krassem Täuschungsversuch durchlaufen werden können. Künstlich ist die Persona des Souveräns, die im vollen Ornat auf die Bühne tritt, ebenso wie der Rollenkörper eines Schauspielers, der sich im Zustand der Nüchternheit den Gang eines Betrunkenen zulegt. Künstlich ist aber auch Tartuffe, der nach einer langen Verzögerung in der Maske des Heuchlers auf die Bühne tritt. Demnach umfasst der Auftrittsakt alles, was eine Persona vor den Augen anderer zur Evidenz bringt: ihren Gang, ihr Kleid, ihre Rede, ihre Begleitung – alles, was ihr Anschaulichkeit verleiht und ihre Gegenwart eindrücklich macht. Ihr Erscheinen kann dann als gelungen gelten, wenn ihre Deutlichkeit ebenso gewährleistet ist wie ihre Bühnenpräsenz. Entsprechend verdoppelt sich der Blick, je nachdem ob der Auftritt aus der Perspektive des Auftretenden gesehen wird oder ob die Vorgänge aus der Sicht der Empfänger betrachtet werden. Von vielen Auftritten erfahren wir nur aus der Wahrnehmung eines Beobachters oder Zuschauers, der das Herannahen einer Person registriert, kommentiert und einen Akt des Erkennens, der Anerkennung und der Zuordnung vollzieht.
Aus welcher Perspektive auch immer gesehen – diese Auftrittsformen sind keine freien Erfindungen und Improvisationen. Vielmehr folgen sie Skripten, an denen sich der Vollzug des Auftritts jeweils ausrichtet. Auftrittsprotokolle, so lässt sich vorwegnehmend festhalten, stellen Routinen der symbolischen Bearbeitung zur Verfügung, die Zeit- und Raumstellen des Auftretens festlegen und Gangarten und Abläufe bestimmen. Sie prägen dem Akteur im Moment seines Erscheinens einen Zeichenkörper auf, der die wenigen Auskünfte, die ein natürlicher Körper in der Öffentlichkeit zu geben vermag, überlagert und überformt.11 Diese Protokolle können durch eine Gattung ebenso vorgegeben werden wie durch ein höfisches, politisches, mediales oder religiöses Zeremoniell. Sie lassen enge Wechselwirkungen zwischen Theater und Drama und sozialer Auftrittspraxis erkennen, indem sie das Kommen und Gehen von Akteuren entlang gesellschaftlicher Verhaltensordnungen modellieren. Autoren wie George Kernodle haben beispielsweise die engen Verbindungen nachgewiesen, die zwischen den Zeremonialformen des Royal Entry in Mittelalter und Renaissance und der Entwicklung des neuzeitlichen Theaters bestehen, und Forschungen den Weg gewiesen, die den Zusammenhängen zwischen Königsauftritt und Bühnenauftritt nachgehen.12 Dabei kommt es in der Regel zur Überlagerungen mehrerer Auftrittsprotokolle, die miteinander in Wechselwirkung treten. Das Auftrittsprotokoll eines dramatischen Textes kann von dem der Aufführung selbst abweichen und zu dieser in Widerspruch treten, diese kann wiederum durch ein drittes, etwa einer Fernsehoder Videoaufzeichnung überformt werden.13
Diese Protokolle sind umso wichtiger, als sie den Kontakt einer Gesellschaft mit Fremden ermöglichen und auch dem Unbekannten im Moment seines Auftritts ein Gesicht geben. Sie dienen insbesondere der mehr oder minder reibungslosen Integration eines Gastes in einen Kreis von Anwesenden. Aber auch bekannte Gesichter müssen erst wieder benannt, aufs Neue eingeführt und vertraut gemacht werden. Kurze formelhafte Wendungen wie „Here comes the lady“14 minimieren das Risiko, das mit jeder Ankunft gegeben ist. Dabei ist prinzipiell davon auszugehen, dass jeder Auftretende ein Maskierter oder Fremder ist, der Gefahren mitbringt und dessen Wahrheit erst zu ermitteln ist. Auftreten – und das ist schon seit den Bacchen des Euripides so, der den Gott Dionysos als einen Fremden auf die Bühne entsendet – impliziert ein instantanes Fremd- bzw. ‚Ein-anderer-Werden‘, das sich an der Schwelle zur Bühne herstellt: „Die Welt der Bühne betritt man nicht, ohne sich und anderen fremd zu werden. […]“15
Die Perspektivierung auf die performative Figuration des Auftretens lenkt den Blick fast unausweichlich auf die Formen des Scheiterns, die ihrerseits wieder in neue Auftrittsmodelle eingelassen sind.16 Diese bieten eine Handhabe dafür, die Störungsanfälligkeit des Auftrittsvorgangs zu beobachten. Der Sichtung der Protokolle ist eine Sichtung der Pannen an die Seite zu stellen, die den idealisierenden Tendenzen von Auftrittsformalitäten entgegenwirken und ein Bild des menschlichen In-Erscheinung-Tretens zeichnen, das mehr oder weniger aus Verfehlungen, Unterbietungen und Täuschungen besteht. So komplex und vielfältig wie die Auftrittsprotokolle sind daher auch die Störungen, die sie befallen können. Wie das Beispiel des ‚schwellfüßigen‘ Ödipus andeutet, sind körperliche Gebrechen besonders prominent – wobei alle körperlichen Zustände in Betracht kommen, die der „vollkommenen Dorsalisierung“17, dem idealen Auftritt im aufrechten Gang entgegenwirken. Gerade im Drama finden sich Hinweise, wie regelmäßige Ablaufprotokolle des Auftretens durch Gegenprotokolle untergraben oder durchbrochen werden, die die Fasson der Figur mit der Gebrechlichkeit des Körpers in Konflikt bringen.
II. On/Off: Räumlichkeit des Auftretens
Der Begriff des Auftritts weist über den zeitindifferenten Begriff der sozialen Handlung hinaus und fokussiert den Moment des hic et nunc, in dem ein natürlicher Körper und ein Rollenkörper an einem gegebenen Ort und einem gegebenen Zeitpunkt vor einem bestimmten Publikum zusammentreffen. Zum einen erfordern sie ein bereits existierendes und gekennzeichnetes ,Hier‘, an dem sie erfolgen. In der Regel setzen sie einen eingegrenzten Raum oder einen Durchgang voraus, der den Auftritt architektonisch antizipiert und die Wahrnehmung der Anwesenden auf den Brennpunkt des Erscheinens richtet. An dieser Stelle interessieren die imaginären oder realen Szenographien, die die Funktion der Einfassung und der Schwelle übernehmen. Wesentlich für eine raumbezogene Auftrittsanalyse sind die sprechenden architektonischen Rahmungen, die das Bild eines Ankömmlings einfangen und in spezifischer Weise im Raum hervorheben: die Theaterbauten oder Palastarchitekturen etc.,18 die Türen, Portale und Durchgänge, die Auftrittsmöglichkeiten bieten.
Zum anderen sind es die Auftritte selbst, die dieses ,Hier‘ stiften und damit den Raum überhaupt erst erschaffen und modellieren, in den hinein sie erfolgen. Gerade der erfolgreiche und ungestörte Auftritt zeigt, dass das Off durch den Auftritt wie auch durch das szenische Spiel rückwirkend oder Bezugnahme überhaupt erst evoziert wird. Auftrittsreden und Auftrittsbewegungen stiften Räume und legen Bahnen, die zu bestehenden Raumverhältnissen in Beziehung treten und diese modifizieren. Demnach finden Auftritte nicht nur in gebauten oder bezeichneten Räumen statt, sie übernehmen zugleich raumeröffnende Funktion. Sie tragen wesentlich zur Schaffung „performativer Räume“ bei.19 Vor allem in Stegreifformen müssen Türen und Zugänge erst durch Sprechakte oder durch hinweisende Gesten geschaffen werden, wie an den Komödien des Plautus zu sehen, die die temporären Raumstrukturen selbst herstellen, in denen sie sich bewegen.20
Mit der Formung des ,Hier‘ erschaffen und formen Auftritte jedoch auch ihr ,Dort‘ oder ,Anderswo‘: Beim Überschreiten der Bühnenschwelle erfinden sie angrenzende und anderwärtige, reale und imaginäre Nachbarschaften, die im Akt des Auftretens, wenngleich in absentia, aufgerufen werden und aus dem Hintergrund auf das Spiel einwirken. Hier lassen sich mehrere solcher latenten Raumtypen unterscheiden. Diese angrenzenden Räume können dem Imaginären des Dramas selbst angehören, indem sie Vor- oder Nebenzimmer oder andere, landschaftliche oder urbane Nachbarschaften andeuten, die als unmittelbare räumliche Fortsetzungen der auf der Bühne vorgestellten Schauplätze ausgegeben werden. Henrik Ibsens Dramen zum Beispiel spielen virtuos mit Nebenräumen – den Arbeitszimmern und anderen häuslichen offstages, die abwesend-anwesend die Vorgänge onstage beeinflussen und den szenischen Fokus zerstreuen.
Evokationen der offstage können sich aber auch auf die architektonischen Nachbarschaften des Bühnenraums selbst beziehen: auf die Garderobe oder den Maschinenraum des Theaters, die aus dem Off heraus den Veranstaltungscharakter einer Aufführung kenntlich machen und eine prägnante metatheatrale Perspektive auf das Spiel eröffnen. Dieser Raumkonstellation kommt man in den sogenannten Backstagedramen auf die Spur, die onstage und offstage miteinander vertauschen und infolgedessen auch die reguläre Auftrittsrichtung verkehren. Sie beleuchten den sonst verborgenen Raum, in der sich der Auftritt vorbereitet, der Rollenkörper aufgebaut oder wieder abgebaut wird.
Zuletzt öffnet sich die Bühne als eine ausschließlich von innen her abgesicherte Rahmung hin auf eine Sphäre des Ungestalten oder des „unmarked space“21. In diesem Fall wird an der Kehrseite des Bühnenbezirks eine raum-, zeit- und formlose Sphäre evoziert, die jederzeit in den Bühnenrahmen einzubrechen droht und durch keine Auftrittsregeln zu beherrschen ist. An dieser gestaltlosen Nachbarschaft wird der prekäre Status des theatralen Bedeutungsraums erkennbar, der sich von seiner Grenze her zu dekomponieren droht. Ein geordneter Grenzverkehr zwischen On und Off ist unter diesen Bedingungen nicht denkbar. Das Theater Samuel Becketts gibt hierfür Beispiele. Seine Figuren versuchen sich in beschwerlicher und vergeblicher Zeichenarbeit gegenüber einem jenseits der Bühne gelegenen Nichts zu behaupten, das, wie es bei Niklas Luhmann heißt, weder beobachtet noch bezeichnet werden kann.
III. Kontinuität und Bruch: Zeitlichkeit des Auftretens
Auftritte sind jedoch nicht nur Akte des In-Erscheinung-Tretens und einer damit verbundenen rhetorischen Bildproduktion, sie strukturieren und generieren auch zeitliche Abläufe. Sie können daher auch als ein serielles oder plurales, additives oder komplizierendes Strukturelement dramatischer und theatraler Situationen betrachtet werden. Denn so wie sie sich auf angrenzende Räume beziehen und diese im Zutritt einspielen, so auch auf die angrenzenden Zeiten der Zukunft oder der Vergangenheit. Hier sind einerseits die Zeitstellen zu markieren: das nunc, an denen Auftrittsakte möglich sind, und andererseits ist die spezifische Struktur seines Zeitkerns zu bestimmen. Die Zeitbegriffe der Liminalität, des Übergangs, der Passage, des Impulses, der Frequenz, aber auch der epiphanischen Plötzlichkeit oder der chiliastischen Erwartung können auf den Auftritt bezogen werden.
Dabei macht es einen Unterschied, ob man den Ereignischarakter oder die strukturbildende Kraft des Auftritts ins Zentrum rückt. Als wichtiger Ausgangspunkt für die Analyse der zeitlichen Dimension des Auftretens lässt sich einerseits festhalten, dass dramatische Texte und Aufführungen entscheidend durch wechselnde Auftrittsfrequenzen bestimmt werden. Gerade die neoaristotelischen Poetiken bemerken eine Häufung von Auftritten am Ende eines Dramas, ebenso wie sie eine erhöhte Auftrittshäufigkeit im komischen Genre feststellen. In beiden Gattungen können Beschleunigungen beobachtet werden, welche in Laufchoreographien und Auftrittshäufungen münden. Gerade diesem Zusammenhang zwischen Finalisierung und Auftrittstaktung gilt es nachzugehen und darüber hinaus verschiedene Zeitökonomien des Auftretens (zum Beispiel in offenen Dramenstrukturen) zu untersuchen. Die Perspektivierung der zeitlichen Dimensionen des Auftretens rückt auch die kleinen Auftritte bzw. die Auftrittsroutinen in den Blick, die leicht gegenüber den markierten ,großen‘ Auftritten vernachlässigt werden. Denn gerade auch am kleinen Auftritt zeigt sich, dass die dramatische Situation durch das Hinzutreten von Personen jeweils reflektiert, weiterentwickelt, erneuert und in Frage gestellt werden kann. Mit jedem Auftritt werden neue Informationen eingespeist. Umgekehrt können auch das Ausbleiben und die Verzögerung von Auftritten, wie sie vor allem in der Dramaturgie der Moderne zu beobachten sind, vor diesem Hintergrund wahrgenommen werden.
Betont man jedoch den Ereignischarakter des Auftritts, treten andere Gesichtspunkte in den Vordergrund. Das nunc des Auftritts entfaltet sich hier in seinen epiphanischen und heilsgeschichtlichen Dimensionen. Ein Auftritt kann zur richtigen oder zur falschen Zeit erfolgen, er kann zu früh oder zu spät stattfinden, er kann sehnlichst erwartet werden oder eine unerwartete und nicht immer willkommene Unterbrechung bedeuten, ebenso wie es in seiner Macht steht, eine „völlige Umorientierung“ der Situation zu erreichen.22 Die Kunst des Dramas besteht daher auch darin, Auftritte richtig in der Zeit zu platzieren, die der Akteure, im richtigen Moment zu erscheinen. Dramatische Zeit spannt sich zumindest in einigen ihrer markanten dramatischen Genres und historischen Kontexte auf eine erwartete Ankunft hin aus, der so große Kräfte zugemessen werden, dass sie alle anderen alltäglichen Auftrittsroutinen durchschlägt und das Ende der getakteten Zeit herbeiführt. Die Nähe dramatischer Handlungsmodelle zu religiösen oder heilsgeschichtlichen Konzepten kann, beginnend mit den Bacchen des Euripides, vielfach nachgewiesen werden. Im Überblick über die dominanten dramaturgischen Schemata europäischen Theaters zeigt sich, dass sich dramatische Handlungen vielfach vor einem epiphanischen Erwartungshorizont bewegen. Der alles wendende Theatergott oder Deus ex Machina, der triumphale Auftritt des Dionysos im Horizont der griechischen Tragödie, die solare Autorität des Monarchen im Fluchtpunkt des absolutistischen Theaters, die ödipalen Sonnenaufgänge im Theater des Realismus, das Ausbleiben von Godot im Theater Becketts – sie alle verdeutlichen recto oder verso die Bezogenheit des Dramas auf ein epiphanisches Auftrittsfinale, bei dem eine mit transzendentalen Befugnissen ausgestattete Theatermacht rettend, reinigend und/oder vernichtend eingreift.
Wie diese kurze Skizze zeigt, lassen sich die drei Perspektivierungen nur künstlich trennen, denn jeder Auftritt ereignet sich in Raum und Zeit, die er umgekehrt wiederum modelliert. Die Verkehrsbewegungen auf der Bühne verbinden und trennen nicht nur On und Off, sondern sie brauchen auch Zeit. Sie unterbrechen und verbinden die Handlung, als die sich das Drama seit Aristoteles definiert. Deshalb ist die Gliederung der in diesem Band versammelten Beiträge eher heuristischer denn grundsätzlich konzeptueller Natur. Jeder der Beiträge berührt mehr oder minder alle drei Perspektivierungen.
Der ersten Gruppe von Beiträgen, die sich der Figuration des Auftretens widmet, ist eine Einleitung vorgeschaltet, die in grundsätzlicher Weise Auftritt und Auftreten reflektiert. In ihren Überlegungen zur Krisenstruktur des Auftritts geht Juliane Vogel zunächst den Spuren historischer Auftrittsdiskurse nach. Im Zentrum stehen dabei einerseits die artikulatorischen Funktionen des Auftritts, dessen Aufgabe es ist, einen Akteur im Moment seines Erscheinens von einem Hintergrund abzusondern und zur Evidenz zu bringen, andererseits die Krisen, die dieser im Moment des Vortretens durchläuft. Dabei zeigt sich, dass die im Auftritt versprochene Verdeutlichung und Vergegenwärtigung der Figur niemals erreicht werden kann. Auftritte sind prozesshaft, prinzipiell unvollendbar und bleiben zuletzt die Antwort auf die Frage: „Wer bist du?“ schuldig.
Der Beitrag von Doris Kolesch moniert das Fehlen einer Auftrittstheorie in der Theaterwissenschaft und legt die Grundlinien aus, der eine zukünftige Auftrittsforschung im Rahmen der Performance Studies folgen könnte. Zentral ist dabei der Umstand, dass Auftritte nicht nur performative Vollzüge sind, sondern auch in der Wahrnehmung eines Betrachters stattfinden. Als konstitutiv für das theatrale Auftrittsgeschehen werden außerdem die Verschränkung von Struktur und Ereignis, Puls und Bruch namhaft gemacht.23 Abläufe, die durch Auftritte gegliedert sind, verstetigen in paradoxer Weise die ereignishafte Unterbrechung zeitlicher oder lebensweltlicher Zusammenhänge. Mit Blick auf den ,Stimmauftritt‘ und anhand von Shekhar Kapurs Film Elizabeth und David Lynchs Mullholland Drive werden abschließend die medialen Voraussetzungen erfolgreichen Erscheinens reflektiert und ihre Störungsanfälligkeit dargelegt.
Die folgenden Beiträge, die sich konkreten historischen Auftrittsprotokollen widmen, variieren das für die Gesamtgeschichte des Auftritts maßgebliche Modell des erfolgreichen, bahnbrechenden und raumbeherrschenden Auftritts. Sie umkreisen den Maximalauftritts des souveränen Subjekts, das durch seine entrée dramatische Dominanz erlangt und eine gegebene Szene durch seine festlich überhöhte Ankunft erobert. Dieses für die Geschichte des Auftritts bestimmende und immer wieder neu variierte Festprotokoll wird hier besonders herausgestellt, weil es in der strategischen Übersteigerung der alltäglichen menschlichen Erscheinung ein, wenn auch zumeist verborgenes, Geltungsinteresse hervortreibt. So wie jeder Auftritt einen potentiellen Umsturz aller Verhältnisse mit sich bringt, wohnt ihm auch ein hyperbolisch-expansiver Zug inne, der durch anwesende Repräsentanten einer Gesellschaft gebremst, zerstört oder auch sanktioniert werden kann. Als ein allem Erscheinen zugrundeliegendes Ideal ist er auch in kleinen oder schwachen Auftritten zu bemerken.
So beschäftigt sich der Beitrag von Bernice Kaminskij „Dignus adventu tuo. Die infernale Pervertierung imperialer Festauftritte in Senecas Thyestes“ mit den Auftritten in Senecas Rachedrama und untersucht die Wechselwirkungen zwischen dramatischen und politischen Auftritten vor dem Hintergrund der imperialen Auftrittsprotokolle des neronischen Prinzipats. An ausgewählten Szenen wird dargelegt, dass Seneca vor allem solche Auftrittsprotokolle zitiert, die in der römischen Gesellschaft der frühen Kaiserzeit als Topoi kaiserlicher Repräsentation wie als Praktiken (macht-)politischer Kommunikation präsent sind – insbesondere Zeremonielle, Rituale und Gesten, die das Auftreten des Prinzeps sowie vor dem Prinzeps protokollarisch definieren. Diese werden in der Tragödie aufgerufen, um zugleich konsequent pervertiert zu werden. Ihre ordnungsstiftenden, bildenden Funktionen werden auf den Kopf gestellt, indem sie durch metatheatrale Rahmungen als Verstellung des Tyrannen entlarvt werden und sich letztlich als Instrumente seiner Rache erweisen.
An einem weiteren Text der antiken Dramatik beschäftigt sich Antje Wessels mit der komischen Dekonstruktion des Prunkauftrittes. Am Beispiel des Miles gloriosus des römischen Dichters Plautus diskutiert sie die komplexen Voraussetzungen, die dem Auftritt des in der Struktur der Selbstverkennung gefangenen Subjekts zugrundeliegen. Am parodistischen Dialog eines vom Glanz der Selbsttäuschung geblendeten Herren und eines Parasiten, der die kunstfertige Fabrikation dieser Selbsttäuschung anleitet, werden die Mechanismen abgelesen, die das Begehren nach öffentlicher Anerkennung bestimmen und zugleich der Täuschung anheimfallen lassen. Diesem Vorgang entspricht eine komplexe dramatische Zeitstruktur, die die vorbereitende Phase des Auftritts in die Länge zieht. Durch die Entgrenzung des Prologs werden der Anfang und Auftritt bis auf weiteres aufgeschoben.
Annette Kappeler analysiert das Protokoll des Herrscherauftritts im Kontext des französischen Absolutismus und bezeichnet anhand der Operngeschichte des späten 17. und 18. Jahrhunderts die Umbrüche, die der Auftritt des Souveräns im Kontext der Aufklärung erfuhr. Ausgehend von der musikdramatischen Gattung der Tragédie lyrique werden die tragenden Elemente des absolutistischen Herrscherentrées herausgearbeitet und ihre Anpassung an das Maschinentheater Ludwigs XIV. nachvollzogen. Anhand der Opern Christoph Willibald Glucks wird anschließend gezeigt, wie sich die vertikale Auftrittsachse des absolutistischen Theaters horizontalisiert. An die Stelle der Götterauftritte treten Auftritte der natürlichen Körper, die der newtonschen Ordnung der Schwerkraft unterstellt sind.
In seinem Aufsatz „Szenische Strukturen in den Dramen von Ibsen und Strindberg. Zwischen Häuslichem und Übernatürlichem“ untersucht Freddie RokemDoppelstrukturen des Auftritts im skandinavischen Drama des Realismus. Auf der einen Seite folgen die skandinavischen Dramatiker in ihren Dramen der Spiellogik alltäglicher Auftrittsroutinen, indem sie das Wunschbild des intimen bürgerlichen Raumes durch das Kommen und Gehen der dramatischen Figuren durchkreuzen. Gleichzeitig aber legen sie die Regularien desselben offen und machen die theatrale Voraussetzung des dramatischen Spiels bewusst. Inmitten der realistisch geprägten Verkehrssituation bricht sich jedoch zugleich ein übernatürliches Auftrittsprotokoll Bahn, das die Interventionsform des antiken Deus ex Machina erneuert und den tragischen Verlauf durch ein vernichtendes Auftrittsfinale beendet.
Marion Mang behandelt in ihrer Studie „Schattenspiele. Diskretes Auftreten in Hugo von Hofmannsthals Der Schwierige“ den Umbau höfischer Auftrittsprotokolle in einer Komödie, die sich in eine nicht mehr von den Habsburgern beherrschte, jedoch auch weiterhin von höfischen Choreographien bestimmte Nachkriegsgesellschaft hineinphantasiert. Wie gezeigt wird, manifestieren sich diese jedoch nur in gespenstischen Nachbildern höfischer entrées, in denen sich der Akt des Erscheinens privatisiert und zugleich geisterhaft und rätselhaft gestaltet. Unter diesen modernen Bedingungen sind Auftrittsformen zu beobachten, die sich in einen festen Erscheinungsrahmen nicht mehr einfügen. Auftretende, die auf der Bildfläche erscheinen, gleichen Photographien, da sie statt der Person nur ihr spektrales Abbild zeigen.
Hans-Christian von Herrmann beleuchtet in seinem Text „Der Fremde in der Tür. Bertolt Brechts Theater für Ingenieure“ vergleichend zwischen antiker Tragödie und epischem Theater eine für den Auftritt insgesamt konstitutive Unterbrechung von Abläufen. War das griechische Theater bezogen auf das überwältigende Auftrittsereignis des Gottes Dionysos, so entspringt Bertolt Brechts episches Theater dem Eintritt eines Fremden in die zunächst als unveränderlich erfahrene Gewohnheitswelt. Mit diesem Besuch wechselt die dramatische Ordnung aus dem Modus der Anschaulichkeit in den Modus der Strukturanalyse, aus dem Modus der Epiphanie in den der Montage. Unter dem Blick des Fremden zerlegen sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten und werden zu Bausteinen einer neuen Welt, die der Planungs- und Steuerungshoheit des Menschen untersteht.
David Levins Beitrag untersucht am Beispiel von Peter Konwitschnys Inszenierung von Giuseppe Verdis Don Carlos an der Wiener Staatsoper (2004), wie die klassischen Auftrittsdramaturgien der Oper des 19. Jahrhunderts in der gegenwärtigen Medienkultur gebrochen, reflektiert und neu konfiguriert werden. Indem Konwitschny das Ereignis seiner Inszenierung zum Gegenstand einer Live-Übertragung im Stile des Wiener Opernballes macht, die simultan auf die Bühne projiziert wird, ironisiert er nicht nur die moderne Medienpolitik der Oper, sondern irritiert auch den epistemologischen Rahmen, nämlich die Unterscheidung von On und Off, die den klassischen Herrscherauftritt gelingen lässt. Dabei zeigt sich, dass die Hoheit über das Auftreten von der Kontrolle über die medialen Produktionsmittel abhängig ist: Der ödipale Konflikt zwischen Don Carlos und Philipp II. gerät zu einem Duell der Auftritte, auf der Bühne wie auch im Fernsehen. Auch wenn Philipp II. die Übertragung der Revolution und damit diese selbst abwürgt, ist er in Konwitschnys Inszenierung ohnmächtig, das Bildgedächtnis ihrer Opfer auszulöschen.
Die zweite Gruppe von Beiträgen, die der raum-zeitlichen Dimension des Auftretens nachgehen, wird durch Überlegungen Bettine Menkes eingeleitet. Ihre Überlegungen gelten der Rolle des Auftritts im Grenzverkehr zwischen On und Off. Dieser wird hier als ein Ereignis oder „Vorkommnis“ im Wortsinn gefasst, das eine Relation zwischen der szenischen Sphäre und einer Herkunftssphäre stiftet und dabei die selbstgenügsame Geschlossenheit der Szene aufbricht. Der Auftritt bezieht sich sowohl auf die Szene, die etwas zeigt, als auch auf das „Obscenae“, das konstitutiv Nichtsichtbare und Nichtgestalthafte.
Beate Söntgen umreißt in ihrem Beitrag „Ins Bild kommen, im Bild sein. Versuch über den Auftritt in un-/bewegten Bildern“ ein sowohl im Medium der Malerei wie im Medium des Films aktives Spannungsfeld. Im Zentrum steht auch hier die Funktion des Rahmens, der zum einen als eine Bedingung des Auftretens anzusehen ist und zum anderen das Verständnis einer Bühnenszene als Bild ermöglicht. Dabei wird sichtbar, wie sich die Idee des geschlossenen und gerahmten Bildes zersetzt, wenn die imaginären Bewegungen in den Blick genommen werden, die eine Figur ins Bild einführen. Das geschlossene Szenenbild öffnet sich auf eine Kette von potentiellen Auftritten, die das Szenenbild in sich aufnehmen, seine Geschlossenheit aufbrechen und auf unsichtbare Raum- und Zeiträume hin öffnen. Am Beispiel von Keren Cytters Videodrama The Victim werden die an Fragonard und Denis Diderot gewonnenen Erkenntnisse auf das Zeitmedium Film übertragen.
Armin Schäfer untersucht die für das barocke Trauerspiel maßgeblichen Raumstrukturen in Relation zu den durch diese bedingten Auftrittsformen. Kennzeichnend für die Raumdramaturgie dieser Gattung ist das Verhältnis der sichtbaren Szene zu den „nebenan“ oder „anderswo“ befindlichen Räumen. Die diegetische Welt des barocken Trauerspiels wird demnach durch Lokalitäten bestimmt, die sich den Blicken entziehen und je nach ihrer Lage unterschiedliche Interventions- und Aktionsformen hervorbringen. Gegenkraft zu diesem Draußen ist das Erscheinen des Königs, der, wie am Beispiel von Andreas Gryphius‘ Carolus Stuardus deutlich wird, eine ,Fülle der Präsenz‘ aufbaut, die den gespaltenen und in vielfache Abhängigkeiten verstrickten Akteuren verwehrt bleibt.
In seinem Aufsatz: „Auftritt und Interaktion. Zu Lessings Minna von Barnhelm“ erkundet Joel Lande das Verhältnis von Auftrittsprotokoll und Auftrittskontingenz vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten szenischen Raumkonfiguration: der des Gasthauses, das durch nur unzureichend kontrollierbaren Personenverkehr gekennzeichnet ist. Ausgehend von einem dominanten dramaturgischen Regulativ des klassizistischen Dramas, der liaison des scènes, wird das dramaturgische Feld umrissen, das sich in Lessings Komödie zwischen Zufallsprinzip und Auftrittszeremoniell entfaltet. Im Widerspiel von Wirtshaussaal und ,Frauenzimmer‘ treten kontingenter und geregelter Verkehr in eine spannungsreiche Beziehung.
In ihrem Beitrag „Suspendierung des Auftritts“ diskutiert Bettine Menke komplexe metamediale Anordnungen, die die liminalen Strukturen bewusst machen, die im gewöhnlichen Bühnenverkehr unauffällig bleiben. In einer Analyse von Georg Wilhelm Pabsts Stummfilm Die Büchse der Pandora von 1929 werden aus kinematischer Perspektive die im Auftritt wirksamen Kräfte sichtbar, die die Bühnenschwelle kreuzen und queren. Anhand von Christoph Marthalers Murx den Europäer! wird der symbolische Aufwand aufgezeigt, den der Auftrittsakt erfordert, wenn er Gesicht und Stimme zu einer scheinbar natürlichen Einheit zusammenfügt. Mit René Pollesch rückt abschließend ein Theater in den Blick, das den Auftritt depotenziert, indem es durch eine Videoübertragung einen hinterszenischen Auftrittsraum vergegenwärtigt.
Stefanie Diekmann rekonstruiert anhand von Michael Frayns Noises Off eine im Konfliktfeld von Wiederholung und Differenz angesiedelte Szenenpartitur, in der Auftrittsvorgänge multipliziert, serialisiert und ihrer vertrauten anthropomorphen Dimensionen entkleidet werden. Türen und Requisiten (zum Beispiel Sardinen) werden als die Akteure eines Theaters identifiziert, das sich aus psychologischen Motivationsketten befreit und die geregelte Zirkulation von Objekten zwischen On und Off in Szene setzt. Auftritte entledigen sich auf diesem Weg der Erwartungen, die an das sinnliche Erscheinen eines Akteurs geknüpft werden. Im Zentrum stehen dagegen die Verkehrsformen zwischen zwei zunächst getrennten Sphären, die jedoch im Zuge fortgesetzter Wiederholungen immer intensiver mit dem Off in Verbindung gebracht werden und zuletzt ins On der Szene einbrechen.
Die hier versammelten Beiträge stellen das Ergebnis mehrjähriger intensiver Zusammenarbeit der Beiträger dar, die vom Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen der Integration der Universität Konstanz großzügig unterstützt wurde. Dafür möchten sich die Herausgeber an dieser Stelle ganz herzlich bedanken. Diese Zusammenarbeit kulminierte in einer Konferenz („,They all have their entries and exits‘: Verkehrsformen des europäischen Theaters“), die im Januar 2012 am Institute for Cultural Inquiryin Berlin stattfand. Dem ICI Berlin danken wir für seine Gastfreundschaft und logistische Unterstützung, die einen so produktiven Austausch ermöglicht haben. Christoph Gardian und Lara-Katharina Roszak danken wir sehr herzlich für die sorgfältige Redaktion des Manuskriptes.
1 Kortner, Fritz: Aller Tage Abend, München 1959, S. 26.
2 Tempelthey, Eduard: Klytämnestra, Berlin 1857, S. 3.
3 Jelinek, Elfriede: Burgtheater, hrsg. v. Ute Nyssen, Köln 1984, S. 112 ff. und 127.
4 Zitiert in Weimann, Robert: Shakespeare and the Popular Tradition in the Theater. Studies in the Social Dimension of Dramatic Form and Function, hrsg. v. Robert Schwartz, Baltimore 1978, S. 80 (hier unklare Quellenangabe).
5 Vgl. dazu den Beitrag von Doris Kolesch in diesem Band.
6 Vgl. Seel, Martin: „Ereignis. Eine kleine Phänomenologie“, in: Müller-Schöll, Nikolaus (Hrsg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003, S. 37–48, hier S. 38 ff.
7 Ebd., S. 39. Umgekehrt besitzen jedoch auch Ereignisse eine Auftrittsstruktur: Martin Seel spricht vom „Auftreten“ und vom „Vorkommnis“ von Ereignissen. Seine Formulierungen verweisen auf einen theatralen Kern des Ereignisbegriffs, indem sie den Schritt in die Sichtbarkeit in die Begriffsbestimmung des Ereignisses einbeziehen und mit Blick auf diese Bewegung auch die Theatralität des Ereignisses einfangen. Vgl. den Beitrag von Bettine Menke in diesem Band.
8 Goebbels, Heiner: „Puls und Bruch: Zum Rhythmus in Sprache und Sprechtheater“, in: Sandner, Wolfgang (Hrsg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 99–108.
9 Vgl. Seel: „Inszenieren als Erscheinen-Lassen“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hrsg.): Ästhetik als Inszenierung. Frankfurt a. M. 2001, S. 48–62.
10 Schikaneder, Emanuel: [Die Zauberflöte. Eine deutsche Oper in zwei Aufzügen], in: Mozart, Wolfgang Amadeus: Sämtliche Opernlibretti, hrsg. v. Rudolph Angermüller, Stuttgart 1990, S. 917–994, hier S. 937.
11 Vgl. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, aus dem Amerik. von Peter Weber-Schäfer, 10. Aufl. München 2011, S. 54 ff. und 62 ff.
12 Kernodle, George R.: From Art to Theatre. Form and Convention in the Renaissance. Chicago 1943.
13 Vgl. David Levins Beitrag in diesem Band.
14 Shakespeare, William: Romeo and Juliet, hrsg. v. Brian Gibbon, London/New York 1980 (= The Arden Shakespeare), S. 157 (II/6, V. 16).
15 Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a. M. 2010, S. 245.
16 Analog zu J. L. Austins Ansatz zur Analyse von Sprechakten in „Three Ways of Spilling Ink“, in: The Philosophical Review 75 (1966), H. 4, S. 427–440.
17 Vgl. Wills, David: „Automatisches Leben, also Leben“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 4 (2011), H. 1, S. 15–30, hier S. 22.
18 Vgl. den Beitrag von Beate Söntgen in diesem Band.
19 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 187.
20 Wessels, Antje: „Zur Exposition bei Plautus“, in: Haas, Claude/Polaschegg, Andrea (Hrsg.): Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik, Freiburg i. Br. 2012, S. 59–75.
21 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 22, Frankfurt a. M. 1998, S. 1003: „[U]nmarked space“ bezeichnet „die nicht beobachtete und nicht bezeichnete Welt“.
22 Seel: „Ereignis“, S. 39.
23 Vgl. Goebbels: „Puls und Bruch“, außerdem den Beitrag von Doris Kolesch in diesem Band.