Essay
Was ist Theater?
Richard Sennetts mäandernder Großessay „Der darstellende Mensch“ verbindet Urbanistik und Theaterarchitektur mit Performance-Theorien und politischen Problemen von Öffentlichkeit
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Amerikanisches Theater (11/2024)
Assoziationen: Buchrezensionen Nordamerika Akteure Dossier: USA Richard Sennett
Erwartungsgemäß taucht Donald Trump – neben seinem britischen Cousin Boris Johnson – schon auf der ersten Seite auf. Sie sind „geschickte Darsteller“, deren „bösartige Darbietungen“ als Trigger in Richard Sennetts Vorwort von „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“ kurz angesprochen werden. Wer sich nun eine Analyse dieser Demagogen mit dem Instrumentarium der Theaterwissenschaft erhofft hat, kann das Buch gleich wieder zuklappen.
Und es dann noch einmal mit einem anderen Interesse aufschlagen. Wie haben sich Formen der Darstellung von Gesellschaft entwickelt und wie wurden die konkreten Räume dafür geschaffen und organisiert? Was steht hinter ihren Veränderungen?
Richard Sennett, der wohl bekannteste Soziologe der USA, ist ein Experte für die Stadt als konzentriertes gesellschaftliches Gebilde, für das Leben und die Arbeit in ihr, und wie sich das alles im Wandel der Zeiten in der Architektur manifestiert. Öffentlichkeit als Raum der Gesellschaft, „Der flexible Mensch“ (1998) über die neuen Arbeitswelten und „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ (2005), in der auch Politik zur Ware wird, waren und sind seine Themen. Seine Sachbuchbestseller brachten akademische Forschung in aktuelle Debatten, wurden damit Öffentlichkeit.
Das Theater im engeren Sinn, also Schauspiel und Musiktheater in entsprechend organisierten Institutionen, gehörte bislang nicht zum Feld von Sennetts Untersuchungen. In einem ersten Künstlerleben war er aber an der berühmten Juilliard School in New York ausgebildeter Cellist am Anfang einer Musikerkarriere, die er wegen einer misslungenen Handoperation aufgeben musste. Sennett war also einmal selbst, das ist für dieses auch autobiografisch basierte Buch wichtig, Performer – oder auch wie in der deutschen Übersetzung häufig: Darbietender.
Das ermöglicht Sennett einen stereoskopischen Blick in diesem mit persönlichen Erinnerungen durchsetzten Essay. Einerseits war er abseits der klassischen Musikausbildung Anfang der 1960er auch „Klangkünstler für experimentelle Tanzgruppen“, andererseits erklärt er wie aus einer Weltraumperspektive die historische Entwicklung von Darstellung der Gesellschaft in ihrer jeweils eigenen Kultur, die er neben dem Erzählen und dem Abbilden als eine der drei wesentlichen Arten der „Präsenz der Kunst in der Gesellschaft“ auffasst.
Die große Linie geht dabei vom antiken Theater der Gemeinschaft und der griechischen Agora als einen Ort, an dem sich alle bei verschiedenen Verrichtungen in einem für soziale Zwecke umbauten Platz sehen und erleben können – und eben nicht allein dabei politische Entscheidungen verhandeln –, bis zum von Andrea Palladio entworfenen, 1585 vollendeten Teatro Olimpico in Vicenza, das als erster freistehender und geschlossener Theaterbau in Europa gilt und damit fortan den Raum des Theaters definiert hat als eingekapselt in der städtischen Öffentlichkeit. Was sich darin von nun an vor allem im Zuschauerbereich abspielen kann, interessiert den Soziologen und Urbanisten weit mehr als das, was auf der Bühne stattfindet. Dem auf Sextreffen erpichten adligen Publikum in den mit Vorhängen versehenen Logen der etwa 100 Jahre später eröffneten Comédie-Française in Paris gilt Sennetts Blick wie heute Society-Reporter:innen dem verruchten Berghain, während nicht nur die Publikumssoziologie des Elisabethanischen Theaters Jahrzehnte zuvor trotz vielfacher Shakespeare-Bezüge Sennetts eindeutig zu kurz und für die gesellschaftliche Bedeutung des Theaters jener Zeit auch allzu ungenau ausfällt.
Doch damit sei das Buch abermals nicht zugeklappt. Sennett schafft es, eine Evolution von Performance in der Stadt zu erzählen. Was aus der Antike im Freien der Landschaft in einen abgeschlossenen Raum kam und im bürgerlichen, mithin Industriezeitalter verfeinert wurde, wollte und will heute danach wieder ausbrechen und sich mit den vielfältigen Manifestationen auf der Straße, also wieder mit dem öffentlichen Raum verbinden. Der ist heute gleichzeitig in den endlosen Sphären des Internets erweitert oder findet mit Miniauftritten bei TikTok als Geburt von geistigen Einzellerkulturen statt. Solche Untiefen lässt Sennett wohlwissend und nicht ganz auf der Höhe der Zeit aus, doch sein Buch ist trotzdem ein großer Bogen in all das hinein, ein großer Wurf. Und damit wären wir wieder im Polittheater wie auch im politischen Theater heute angekommen: seinen bösartigen wie auch großartigen Darbietungen. Die Frage, die nicht nur Trump heißt oder anderswo mit Sennetts Format erzählt werden muss.
Richard Sennett: „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“, übersetzt von Michael Bischoff, Hanser Berlin 2024, 284 S., € 32 (Hardcover) / € 24,99 (E-Book) – Hier bestellen