Auftritt
Staatstheater Kassel: Alles ist doppelt
„Milch & Schuld“ (UA) von Sina Ahlers – Regie Sarah Franke, Choreografie Gili Goverman, Bühne und Kostüme Ann-Christine Müller
Assoziationen: Theaterkritiken Hessen Dossier: Neue Dramatik Sina Ahlers Staatstheater Kassel
Treffen sich eine einbeinige Taube und eine hochschwangere Leihmutter am Bahnhof und streiten um ein angebissenes Lachsbrötchen: Das Setting, aus dem heraus Sina Ahlers ihr jüngstes Bühnenwerk entstehen lässt, mag vieles sein. Abgegriffen wird man es kaum nennen können. Doch es muss beruhigt, respektive enttäuscht werden: Was die junge Frankfurter Autorin, geboren 1990, im Auftrag des Kasseler Staatstheaters geschrieben hat, ist kein absurdes Theater. Keine Groteske. Sondern, die Weisheit einer ziemlich abgezockten Taube einmal außen vorgelassen, ganz nah an dem, was man das echte Leben nennt, thematisch jedenfalls. In „Milch & Schuld“ geht es um Mutterschaft. Aber ohne jeden Glorienschein.
Zu den Ärgernissen unserer Gegenwart gehört der rhetorische Trick, die Existenz vermeintlicher Denk- und Sprechverbote zu behaupten, um dann heldenhaft gegen die eigene Erfindung ankämpfen zu können. Insofern ist man gut beraten, nicht leichtfertig von Tabus zu sprechen. Aber dass Mutterwerden und Muttersein nicht immer das größte Glück auf Erden bedeuten, dass sich Mutterschaft nicht auf das reduzieren lässt, was bei Sina Ahlers mit einem satten Schuss Sarkasmus „so eine schöne erzwungene Liebe“ heißt: Das sind zumindest mal keine Themen, die in der Öffentlichkeit gerne rauf und runter diskutiert werden.
Zartie trägt als Leihmutter das Kind eines anderen Paars aus – und hat gerade erfahren, dass das Kind mit einer Behinderung zur Welt kommen wird. Ein Verstoß gegen die Geschäftsbedingungen. Und Grund, sich eine Gewissensfrage zu stellen, die diese Bezeichnung wirklich verdient: den Embryo trotzdem behalten oder doch noch abtreiben? Im ersten Teil von „Milch & Schuld“ diskutiert Zartie mit der Taube über das Geschäft mit dem eigenen Körper („Du bist eine Prostituierte?“, fragt der zum Zynismus neigende Bahnhofsvogel). Im zweiten Teil begegnet sie Holly, der Frau, deren unerfüllten Kinderwunsch sie erfüllen soll. Und die beiden Frauen stellen fest, wie untrennbar sie verbunden sind. Obwohl auch das eigentlich nicht Teil der Geschäftsbedingungen ist.
Dazwischen liegt in der Inszenierung von Sarah Franke, die die Uraufführung auf der Studiobühne besorgt hat, so etwas wie ein wilder Hexentanz. Das vierköpfige, rein weibliche Ensemble springt in langen schwarzen Kleidern und mit spitzen schwarzen Hüten über die Bühne, als gäbe es kein Morgen. Warum auch immer. Es ist nicht die einzige inszenatorische Entscheidung, die schwer zu begreifen ist.
„Milch & Schuld“ erzählt, auch wenn die obige Zusammenfassung das nahelegen mag, keine Geschichte. Nicht eine Handlung steht im Vordergrund, sondern die möglichst facettenreiche Erkundung von Mutterschaft. Der Spezialfall der Leihmutterschaft dient nur der Erhellung von Grundsätzlichem, aus dem Internet geborgene Zitate von Schwangeren, von Müttern und ungewollt Kinderlosen ergänzen das zu einem schonungslos klaren Kaleidoskop. Von Überforderung ist die Rede, von Einsamkeit und Angst, von körperlichen und seelischen Belastungen, von verlorener sexueller Lust. Eine Szene, die das offensichtlich einschlägig erfahrene Premierenpublikum wissend auflachen lässt, ist ein endlos-atemloser Stoßseufzer des Mamaseins: Keyboard, Flöte, Kartoffelbrei. Trinkflasche nicht beschriftet. Leo Lausemaus. Matschemampe. Schoß, Popel, Fieber, Summen, Sorge. Und immer so weiter.
Die Multiperspektivität des Stücks hat Regisseurin Franke so für die Bühne übersetzt, dass alles gedoppelt wird. Das Publikum sitzt auf beiden Seiten, die von Ann-Christine Müller gestaltete Spielfläche hat zweimal zwei Vorhänge (genutzt auch für die Projektion historisierender, doch offenbar KI-generierter Frauenbilder), zwei Sessel, zwei schlafsackartige Riesendecken. Vor allem aber wird jede Rolle von (mindestens) zwei der vier Schauspielerinnen Lisa Natalie Arnold, Annalena Haering, Nora Quest und Emilia Reichenbach gesprochen. Mal gleichzeitig, mal leicht versetzt, mal vollständig in chaotischer Unverständlichkeit versinkend. Text, der zum bloßen Geräusch degradiert wird, nicht viel anders als die elektronischen Sounds, die immerfort wabern, treiben, zudecken.
Das wirkt alles reichlich verkopft und verkünstelt. Ein Eindruck, der noch verstärkt wird durch die Choreografie von Gili Goverman, die wenig Rücksicht nimmt auf das, was gerade gesprochen wird. Da zerrt die gedoppelte Taube die gedoppelte Zartie auf den Daunendecken von der Bühne. Da wird ziellos in Sesseln über die Bühne gerollt. Da zucken die Schauspielerinnen in sinnlosen Gesten, die ein Eigenleben zu führen scheinen. Ja, das lässt sich vielleicht als Ausdruck von Fremdbestimmung lesen. Aber in erster Linie genügt es sich selbst. Etwas weniger l’art pour l’art hätte wohl nicht geschadet.
Am Ende wird im Allerheiligsten in der Bühnenmitte ein großes leuchtendes Ei enthüllt. Es ist das erste Mal, dass es hier etwas bloß einmal gibt.
Erschienen am 9.12.2024