Theater der Zeit

Die Kunst der Helferei

Wie können wir Kunstgleichsetzen mit einer warmen Suppe? Ein Gespräch mit Helferei-Leiter Martin Wigger

von Valeria Heintges und Martin Wigger

Erschienen in: Zwischen Zwingli und Zukunft – Die Helferei in Zürich (09/2022)

Assoziationen: Schweiz

Judith Schlosser
Judith SchlosserFoto: Judith Schlosser

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Martin Wigger, was haben Sie vorgefunden, als Sie in die Helferei kamen?

Ich erinnere mich an einen Geruch, den ich als sehr fremd empfand. Es roch stickig, als wäre länger nicht gelüftet worden. Irritierend war der Tag meines Vorstellungsgesprächs. Lauter Klischees: Unten im Foyer standen Reste eines Dritte-Welt-Ladens und auf dem Weg nach oben las ich im Treppenhaus die Ankündigung eines Dia-Abends über eine gemeinsame Reise nach Jerusalem.

Alles beisammen, womit Sie Mühe ­haben …

Ja, das zeigte mir gleich mein Dilemma. Denn die Ausschreibung war ja ganz anders, man suchte eine Künstlerische Leitung, und ich kam mehr oder weniger direkt vom Ende meiner Co-Intendanz mit Tomas Schweigen am Theater Basel. Kurz: Ich betrat dieses Haus mit seiner Geschichte, sah das alles und fragte mich sofort: Kann ich hier agieren und mich entfalten? Mein erster Satz im Vorstellungsgespräch war – Christoph Sigrist zitiert das heute noch: «Ich weiss gar nicht, ob ich hier richtig bin.» Ich meinte das inhaltlich, aber die Kommission dachte, ich frage nach dem Raum.

Warum waren Sie so ambivalent?

Ich war unsicher, fragte mich: Reizt mich dieses Haus, mit dieser Ausrichtung? Oder ist das ein bisschen zu viel Theologie? Ich bin ein aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts – werde ich da nicht doppelt eingeholt von etwas, gegen das ich mich bis heute eigentlich immer wieder «produktiv» sträube? Doch hat alles, was anders und reizvoll ist, auch einen ungeheuren Reiz und lockt natürlich. Ich bin mit diesen widerspenstigen Gedanken nicht nur in das Vorstellungsgespräch, sondern auch in alle weiteren Gespräche gegangen. Und das hat sich ausbezahlt. Die Kommission hat das im Nachhinein so beschrieben: Ich sei der sperrigste Kandidat, aber deshalb seien auch die Gespräche sehr produktiv gewesen. Der Auftrag an mich war damit auch klar: kein kirch­liches Programm, sondern noch mal eine andere Richtung.

Warum haben Sie sich ursprünglich auf die Stelle als Leiter dieses Hauses beworben? Was hat Sie angesprochen?

Als meine Basler Zeit zu Ende ging, dachte ich, es würde mich nur langweilen, wenn ich in gleicher Weise meine Theaterarbeit fortsetzen würde – da schien mir die Aufgabe des Leiters der Helferei genau zu passen. Dazu kam ein privater Aspekt: Ich war in der Zeit auf mich selbst zurückgeworfen und musste entscheiden, wie es weitergehen sollte. Ich beschloss, noch einmal zu studieren. Das war auch eine sehr luxuriöse Situation, es sprach vieles dafür, aber zum Beispiel keine soziale Komponente dagegen. Ich dachte an Medizin oder Theologie. Für Medizin war ich zu alt, aber die Theologie ist alterslos, im Gegenteil: Sie freuen sich über jeden Kandidaten, jede Kandidatin. Zudem gab es einen sogenannten «Quest», einen Studiengang für Quereinsteiger, ein Pilotprojekt mit einer Klasse von Menschen in meinem Alter, die an ähnlichen Punkten standen. Aber ich musste Geld verdienen – und kaum war ich immatrikuliert, war diese Stelle ausgeschrieben.

Spielte es eine Rolle für Sie, dass der Reformator Ulrich Zwingli im Haus gewohnt hat?

Ich wusste so gut wie nichts über ihn. Luther kannte ich, klar. Zwingli aber nicht und war erstaunt, wie wichtig er für die Schweiz ist. Heute ist er für mich als berühmtester Bewohner dieses Hauses die Schnittstelle und der erste und letzte Revolutionär, den die Schweiz hatte. Das sage ich laut und überzeugt. In erster Linie war er Politiker; aber er musste als Theologe wirken, um im spätmittelalterlichen Staat etwas bewegen zu können. Nur so konnte er sich eine Stimme verschaffen – und Zwingli wurde recht früh laut. Er hat in Zürich sehr, sehr schnell seine Meinung kund­getan, über die der Rat der Stadt nicht hinweghören konnte. Die legendären Disputationes, die er hier hat stattfinden lassen, hatten einen theologischen Kontext, aber sie haben die Schweiz politisch sehr geprägt, bis heute. Die Aspekte, anständig zu leben, zu arbeiten, nichts nach aussen blicken zu lassen, tauchen in seinen Schriften immer wieder auf. Er beschreibt etwas, was heute als typisch schweizerisch, bestimmt jedenfalls als typisch zürcherisch gilt. Auch für die Auseinandersetzung mit einem jungen Publikum ist er wichtig; seine Abhandlung, wie junge Menschen zu erziehen seien, ist eine seiner wichtigsten Schriften.

Können Sie daran für Ihre Arbeit anknüpfen?

Das sind alles Themen, an die ich sehr gut anknüpfen kann. An der Auseinandersetzung mit Gesellschaft, mit einem möglichst direkten Kontakt. Zwinglis Büro war auch offen, wie man aus historischen Quellen weiss. Hier konnte jeder Mann und jede Frau ein- und ausgehen. Hier waren Pestkranke untergebracht, und es gab schon damals diese Küche. Es ist ein Geschenk, ein ­Kulturhaus mit Küche zu haben, die zudem noch so offen und so schön ist. Zwinglis Themen gingen und gehen bis heute durch den Magen. Er hat sich kein gesellschaftliches Konstrukt überlegt, sondern blieb sehr bodenständig, mit ­Bodenhaftung. Und das nehmen wir in unserer Arbeit auf.

Wie das?

Wir gehen nicht an Festivals, sondern sind niederschwellig, tauchen selten in der Zeitung oder in Hochglanzmagazinen auf. Ich komme aus einem anderen Kontext und muss mich da auch manchmal zurückschrauben. Unsere Themen sind aber auch die Themen, die das Haus schon immer umgetrieben haben: Arbeit, Migration – wer gehört zur Zürcher Stadtgesellschaft dazu und wer nicht?
Die Idee der Nachhaltigkeit taucht schon bei Zwingli auf, im Sinne von: Wie können wir erreichen, dass eine Idee nicht verpufft? Und immer wieder natürlich das Thema der sozialen Gerechtigkeit.

Sie haben 2015 begonnen, 2017 bis 2019 feierte Zürich «500 Jahre Reformation». Das sah man deutlich im Programm.

Wir haben Zwinglibilder korrigiert – nicht nur bei uns, sondern auch bei denen, die zum Beispiel zum Zwingli-Talk kamen. Der Zwingli-Talk fand in der Zwingli-Stube statt, in die nicht mehr als zwölf Leute passen. Da haben wir bei einer Flasche Wein über seine Schriften geredet. Aber um dem Gedanken des Hauses treu zu bleiben, blieb es nicht bei der theoretischen Erörterung, sondern ich habe immer einen «Fremdkörper» dazugeholt. Mal war es eine Hebamme, mal eine Schauspielerin, mal ein Zürcher Handwerker. Um zu schauen, was die Auseinandersetzung mit Ulrich Zwingli heute hier in dieser Stadt bedeutet. Ich war jedes Mal erstaunt, wie wenig ich nachhelfen oder konstruieren musste. Denn alle hatten eine Vorstellung, alle hatten schon mal irgendwie von ihm gehört. Wir haben mit Zwingli-Bildern gebrochen und manches Zwingli-Bild bestätigt. Manche finden das Zwinglianische ja gar nicht toll. Müssen wir also dagegen angehen? Nein, müssen wir nicht. Wir sind nicht missionarisch unterwegs, aber wir können den berühmtesten Bewohner des Hauses nicht umgehen.

Wer kann in dieses Haus kommen? Jeder und jede, zum Beispiel auch die marxistische Gruppe aus dem Tessin?

Die ist schon da. Denn zu uns kann wirklich jeder kommen, egal welches Alter, welche Konfession, welche Einstellung. Tatsächlich empfinde ich diesen Ort als viel offener als andere, an denen ich bisher gearbeitet habe. Manchmal ist es fast zu vielfältig. Andererseits müssen wir über so Vieles und Vielfältiges nachdenken, mit ganz Vielen ­reden, um diese Gesellschaft zu beschreiben. Und ja: Wir haben in diesem Haus alle Altersgruppen. Bei «KiK – Kids in der Kapelle» sind die Jüngsten fünf, bei «Das Leben der Ü 55» die Ältesten 86 Jahre alt. In dieser Spannbreite bewegt sich alles.

Wie kirchlich oder christlich ist das Programm?

Wir haben eröffnet mit dem Stück «Islam für Christen» von Antje Schupp. Das war Auftakt und Setzung – das wurde sehr goutiert. Denn wir gehören als Institution zum Altstadtkirchenkreis, aber wir machen kein kirchliches Programm. Das ist die Absprache, und da lässt man uns auch in Ruhe. Mich reizt an der Theologie das Kulturgeschichtliche, das Nachdenken über Götter, die Idee der Kirche als letztem Ort, an den alle kommen können. Es geht nicht um soziale Herkunft, nicht um Konfession. Wir veranstalten regelmässig den Tag des Jüdischen Buches, aber schon meine Vorgängerin hat die Ausstellung «Breaking the Silence» gezeigt, vor der andere Institutionen Angst hatten, weil sie natürlich auch hier zu grossem Aufsehen geführt hat und angefeindet wurde. Dahinter gehe ich nicht zurück.

Womit hat Sie das Haus am meisten überrascht?

Mit seiner Geschichte. Was ich heute beschreibe als eine gute Kombination meiner bisherigen künstlerischen und sozialen Arbeit, lag in diesem Haus eingeschrieben, seit Jahrhunderten. Das war mir nicht klar.

Können Sie das genauer erklären?

Dieses Haus öffnet sich seit Jahrhunderten für Menschen in Not. Sie bekommen hier nicht nur eine Suppe aus der Küche, sondern auch seelsorgerische Begleitung. Das empfinde ich vor allem für unsere künstlerische Arbeit als sehr reizvoll. Wie können wir Kunst gleichsetzen mit einer warmen Suppe? Kulturarbeit mit der diakonischen Arbeit, die hier stattfindet? Diese Einschreibung ist bis in das Team eingeschrieben, in die Erwartung, dass wir da sind für alle, die kommen. Ich kannte es, dass man mit Theaterarbeit reagiert, sechs Wochen mit einer Superregisseurin probt, und dann geht zur Premiere der Vorhang hoch. Aber hier gehen stündlich die Türen auf, ganz wörtlich zu verstehen, und es kommt jemand herein und will etwas. Darauf kann ich mit dem, was ich beruflich mitbringe, wunderbar reagieren. Das ist überraschend reizvoll.

Inwiefern passt das zu Ihrer Biografie?

Weil ich mich immer um Menschen kümmern kann.

Ist das die Theologie?

Nein. Auch meine Erfahrungen in der Theaterarbeit kann ich hier praktisch anwenden. Und mit dem Theologiestudium noch einmal zusätzlich. Aus dem Alltag heraus genauso wie über die Planung des kulturellen Angebots. Ich kann das am besten beschreiben über das grosse Projekt «Schule des Handelns». Das markiert den Übergang von der Anfangszeit zur aktuellen Phase der Konsolidierung. Die Schule des Handelns wurde im Rahmen der Reformationsfeierlichkeiten grosszügig von der Stadt Zürich unterstützt. Wir haben anderthalb Jahre lang einmal monatlich ein Wochenende lang dieses Haus wieder zu einer Schule gemacht – die Helferei hiess ja mal «Schulei». Wir haben Anmeldungen ent­ge­gen­genommen, aber auch einfach die Türen offen stehen lassen, wer neugierig war, konnte sich spontan melden. Es gab in jedem Raum offene Seminare, auch drinnen standen alle Türen offen. Wir haben Themen bearbeitet, die uns alle bewegen: Migration, Arbeit, Wohnen, Ernährung usw. Die haben wir mit Gästen durchgespielt, aus Kunst, Theater, Film, Malerei, Literatur, etwa mit dem Zürcher Schriftsteller Thomas Meyer oder der Rotterdamer Künstlerin Mad Kate. Aber auch sogenannten Alltagsexpert:innen aus aller Welt, die irgendeine Kompetenz hatten. Man konnte sich in eine Liste eintragen und zu unseren ­Themen Seminare anbieten. Jedes dauerte eine bis anderthalb Stunden. Man konnte drei bis vier ­Seminare pro Tag schaffen, dazwischen gab es Essenspausen: Frühstück, Mittag- und Abend­essen. Und eine grosse Abschlussveranstaltung in der Kapelle, wo sich in diesem Haus immer ­alles konzentriert und bündelt. Dort haben sich alle ausgetauscht über das, was sie gemacht und erfahren haben, wo sie Probleme oder Chancen sahen. Und in «Nachhaltigkeitsforen» konnten Leute Adressen austauschen, die weiter in Kontakt bleiben wollten.

Wie unterscheidet sich die Arbeit hier von anderen Orten, an denen Sie gearbeitet haben, wo ist sie gleich?

Diese Offenheit des Hauses war für mich komplett ungewöhnlich. Ich kannte bislang nur Häuser, die man um 19 Uhr aufsperrt, damit um 20 Uhr etwas losgehen kann. Danach hat man sie wieder abgeschlossen, wenn es nicht noch ein Publikums­gespräch oder eine Party gab. Aber hier gibt es auch ein ganz normales Alltagsleben, das dem Haus eingeschrieben ist. Die Helferei stand immer in starkem Austausch mit der Nachbarschaft, der Gemeinde – nicht nur mit der ­Kirche, sondern auch dem Quartier, mit all den Menschen, die von aussen kamen, die auch ­heute noch plötzlich im Foyer stehen. Viele fragen sich: Was ist das für ein Haus? Man kam immer und kommt noch heute sofort ins Gespräch, und etwas ergibt sich jedes Mal. Jeder Tag ist anders und speist sich in erster Linie – wenn es nicht abends Programm gibt – aus Begegnungen mit den Menschen.

Was ergibt sich aus diesen Begegnungen?

Es wird eine Adresse hinterlassen, eine Idee, oder die Menschen nehmen Programme mit, kommen wieder. Im Theater haben wir versucht, aufzunehmen, welche Themen die Stadtgesellschaft umtreiben. Hier bin ich viel mehr über die Leute, die ins Haus kommen, mit der Stadt vernetzt und bekannt, bis in mein Privatleben hinein. Hier werden die Auseinandersetzungen an mich herangetragen. Wer im Theater arbeitet, lebt und arbeitet dort, das ist fast zwangsläufig, man ist einfach immer im Theater. Hier in der Helferei stehen die Türen offen, die Leute kommen und spülen die Themen mit sich. Bis in mein Büro hinein bin ich unmittelbar mit dem konfrontiert, was draussen stattfindet, und muss nur noch sortieren. Während ich als Dramaturg nach Themen gesucht habe, sind sie hier immer da – viel mehr als ich umsetzen kann.

Und wo ähnelt die Arbeit derjenigen des Intendanten oder Dramaturgen?

Im Theater zu arbeiten bedeutet, dass man in jeder Stadt neu herausfinden muss, was die Menschen umtreibt, das ist von Stadt zu Stadt wirklich unterschiedlich. Diese Herausforderung gab es in der Helferei genauso. Hier gab es auch ein Grundpublikum, vergleichbar den Abonnenten. Aber ich musste ein anderes Publikum anziehen als das, das bislang da war. Denn auch der Helferei fehlten die jungen Leute.

Wie haben Sie das Problem gelöst?

Indem ich Programme für junge Menschen angeboten habe. Es gab zwei junge Leute hier im Haus, die schon für Andrea König gearbeitet haben. Sie habe ich zu meinen «persönlichen Assistenten» gemacht und konnte ihnen sogar einen kleinen Lohn bezahlen. Sie waren cool: Sie haben mich ein Jahr lang nicht nur in die Helferei eingeführt, sondern auch in das Zürcher Stadtleben. Wir waren in Bars, Discos und anderen Orten, die ich ohne sie nicht kennengelernt hätte. Das war ein guter Einstieg, darüber hat sich das ganz schnell aufgefächert.

Und wie konnten Sie Ihr Wissen in Programme für junge Menschen umsetzen?

Wir haben relevante Themen benannt und gezielt Veranstaltungen für junge Leute angeboten. Die Zürcher Zukunftsforscherin Elisabeth Michel-Alder hat uns Gesprächspartner vermittelt, und wir haben mit ihr «Das Podium der vier Generationen. Länger leben, anders arbeiten» organisiert. Darüber haben sich viele Türen geöffnet. Viele Vereine haben wir kennengelernt, etwa den Selbsthilfeverein einfach einfach, der Haushaltsgegenstände vermittelt im Internet. Wir haben Foren hier im Haus aufgemacht. Und wir haben die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) angesprochen. Der Leiter des Fachbereichs Schauspiel, Peter Ender, Pfarrersohn, gehört zu denen, die ins Haus gespült wurden; er stand eines ­Tages im Foyer und wollte mich kennenlernen. Wir haben uns an einen Tisch gesetzt, geredet – und gemerkt, dass es viele Themenbereiche gibt, die wir zusammendenken können. Wir haben die ­ersten ein, zwei Jahre sehr intensiv Veranstaltungen mit der ZHdK stattfinden lassen, insgesamt fünf Reihen. Von Diplomarbeiten, die wir hier ­gezeigt haben, bis zur Reihe «Auslese». Da ­haben Dozierende mal wieder selbst gespielt oder gelesen, vor ihren Studierenden. Das hat ein cooles Publikum angelockt.

Muss man sich nicht an allen Theatern um junges Publikum bemühen?

Ich habe noch nie an einem anderen Haus so jung tun müssen wie hier in der ersten Zeit. Auch wenn es eine Erwartung war, dass ich das junge Publikum hole. Man dachte wohl: Wer vom Theater kommt, bringt das junge Publikum automatisch – selbst wenn das ein Trugschluss ist. Wir sind mit der jungen Linie gestartet, und das war toll. Mir war nicht klar, wie viel Support das grundsätzlich gebracht hat. Denn auch die Älteren freuten sich, dass plötzlich so viele Junge da waren. Und die Jungen entdeckten für sich einen neuen Ort des Experimentierens. Wenn sie die Kapelle sehen, wünschen Sie sich einfach, an einem solchen Ort mal auftreten zu können. In dieser gross­artigen Lage, in der Achse zwischen Neumarkt, Schauspielhaus und Kunsthaus, mitten in der Altstadt, das ist schon genial. Wir versuchen, auch für unsere Gäste günstig zu bleiben. Allerdings bin ich mittlerweile nicht mehr so exzessiv auf dem Junge-Leute-Trip, weil ich gemerkt habe, dass die Themen der Älteren sich nicht so sehr von denen der Jüngeren unterscheiden.

Wo würden Sie die Helferei im Zürcher Stadtleben verorten?

Sie liegt an der Schnittstelle zwischen historisch begründeter sozialer Arbeit und Kultur. Mehr noch als die anderen Kulturinstitutionen müssen wir uns fragen, wie eine Kulturarbeit gelingen kann. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass am Abend der Vorhang hochgeht, sondern dass sie nachhaltig ist: in der Form des Produzierens, nicht mehr nur als einmalige Aufführung, und in der Art, wie wir mit dem Publikum in Kontakt bleiben. Das haben wir erreicht, indem wir Formate definiert haben. Sie sind ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit: Wir benennen Formate, in deren Rahmen immer wieder bestimmte Themen in einer bestimmten Form abgehandelt werden. Und erst dann überlegen wir, welche Inszenierungen, Lesungen, Musikveranstaltungen da hineinpassen.

Können Sie das vielleicht anhand von drei Beispielen konkret beschreiben?

Nehmen wir den Dienstleistertag, den Practical Wednesday und die Human Library. In allen drei Formaten bringe ich die soziale Einschreibung des Hauses mit meinen theatralen Kompetenzen in Geschichten zusammen. Der Dienstleistertag ist aus der Zusammenarbeit mit der ZHdK hervorgegangen. Der findet immer donnerstags statt. Schauspielstudierende der ZHdK bieten ab 10 Uhr ihre Dienste an, aber sie verstehen sich immer noch als Künstler:innen. Man kann sie mieten für Dienstleistungen. Da ist alles möglich. Eine Frau kam mit ihrem Pudel; der sei schlecht erzogen, aber sie habe kein Geld für die Hundeschule. Am wichtigsten war ihr, dass er sich auf der Strasse benimmt. Daraufhin haben sich sechs Studierende gemeldet – das sind eben nicht einfach nur sechs junge Menschen, sondern selbstbewusste, ausgebildete Master-Schauspielstudierende, die sich in ihrer jugendlichen Vermessenheit alles zutrauen, inklusive drei Stunden Ausführen eines Pudels. Frauchen ging also einkaufen – und erfuhr drei Stunden später, ihr Hund sei doch topp! Und sie solle doch bald mal wiederkommen. Die Dienstleistungen reichen von der Einkaufshilfe bis zum Vorlesen. Und so gut wie Schauspieler:innen kann wohl niemand vorlesen. Auch der Einkauf wird auf diese Weise amüsant wie sonst nie. Und genau das ist es: Wir fragen uns bei jedem Programmpunkt: Kriegen wir das in den sozialen Kontext? Und wie bringen wir den zusammen mit Kunst- und Kulturarbeit? Beim Dienstleistertag ist beides ganz stark. Denn da sitzen eben keine Hundetrainer oder Handwerkerinnen, sondern ­jemand, der die Kompetenz des Schauspielens hat und eine Hilfestellung im besten Fall vorspielen kann. Das ist sicherlich ein, zwei Stunden amüsant, und vielleicht kommt sogar noch etwas dabei heraus, in dem Fall: für den Pudel und für sein Frauchen.
Der Practical Wednesday: Da folgen wir ein wenig Richard Sennetts Werk «Handwerk». Ist Handwerk nicht, dass wir wieder etwas in die Hand nehmen, uns mit Gegenständen beschäf­tigen können? Am Practical Wednesday haben wir zum Beispiel die Ausbildungstischler der Stadt Zürich mit Kunstschaffenden und Publikum zusammengebracht; dazu konnte jeder, der ­wollte, etwas Ausgefallenes tischlern.
Das dritte Format war die Human Library, da arbeiten wir zusammen mit dem Forum Aussenpolitik (foraus) in Bern und der Operation Libero. Wir hatten drei Jahre lang eine menschliche Bibliothek vor unserer Hol- und Bring­bibliothek. Expert:innen, die «menschlichen Bücher», sassen an runden Tischen und luden je Gast für fünfzehn Minuten zum Gespräch. Zu Themen wie Migration, Arbeit, Wohnen, Geld, Generationenver­änderung. Es geht in keinem Format in keinem Moment um die Perfektion des Produktes, nicht um die perfekte Inszenierung, den Topregisseur, der zusammen mit dem Topensemble mit Topleistung zum Theater­treffen eingeladen wird. Sondern darum, miteinander zu einem schönen Ergebnis zu kommen.

Wie wird das Konzept angenommen, was funktioniert, was nicht?

Es wird besser denn je angenommen. Die ersten zwei, drei Jahre waren hart, aber es wurde immer besser – bis Corona kam. Da haben wir uns der Digitalität komplett verweigert, weil wir dachten: Das passt gar nicht zu diesem Haus. Wir haben nur einen grossen digitalen Abend gemacht, mit der Regisseurin, Autorin, Performerin Antje Schupp zum Thema Solidarität. Sie hat sich vernetzt und versucht, dem Thema Solidarität global auf den Grund zu gehen. Andererseits hatten wir in der Zeit eine neue Chance, denn auch ohne Veranstaltungen hatten wir einfach offen. Wir ­waren gesprächsbereit, waren da. Und die Leute kamen, denn dies ist ein Ort für Austausch, immer. Wir konnten aus diesen Begegnungen ganz viele Ideen generieren, die wir jetzt nach und nach mit den Leuten, die hier aufgeschlagen sind, umsetzen.
Also, es gab eine lange Aufbauarbeit. Die festen Formate, die Wiedergänger, haben mittlerweile ein Publikum, mit dem wir unsere ­Monatsprogramme bestreiten können. Die andere Hälfte sind neue Programmpunkte, von denen wiederum die eine Hälfte funktioniert, die andere nicht so gut. Wir justieren nach, etwa das gleiche Format mit anderen Gästen. Das geht, weil die Helferei ein Gebrauchshaus ist, ein Haus der ­direkten und unmittelbaren Anwendung und Anwendbarkeit. Wir können auch mal Dinge in Ruhe weiterköcheln lassen. Andererseits hatten wir bisher 360 Veranstaltungen in fünf Jahren – das ist viel. Trotzdem kann sich in den nächsten fünf Jahren auch noch einmal alles ganz neu ausrichten. Denn dieses Haus wird nie fertig sein.

Aber im Haus werden immer dieselben Themen abgearbeitet werden.

Ja, sie sind seit dem berühmtesten Bewohner ein bisschen vorgegeben. Doch die Art und Weise wechselt, wie man sie gebrauchsfertig macht für die jeweilige Zeit. Die Plattform bleibt, aber die Folien darüber sind immer wieder andersfarbig. Es gab vor mir die Journalistin, es gab Theologinnen und Ethnologinnen. Und jetzt gibt es eben einen Theatermann. Wer weiss, wer nach mir kommt – wenn man das Haus intelligent fortschreiben wollte, müsste es wieder eine ganz andere Perspektive auf dieselben Themen sein.

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