Die Erkenntnis, dass jede Geschichtsschreibung elementar vom Betrachterstandpunkt abhängt, darf mittlerweile getrost zum wissenschaftlichen Allgemeingut gezählt werden. Was je konkret als Geschichte konstruiert wird, hängt evidentermaßen nicht nur von den Quellen ab, die einem Historiker zur Verfügung stehen, sondern auch von seinem spezifischen Blickwinkel darauf. Bei einem so existentiell transitorischen Gegenstand wie dem Theater, das sich im Moment seines Entstehens immer auch schon wieder verflüchtigt, verschärft sich dieser historiografische Perspektivismus notwendig nochmals. Während sich Kunst- oder Literaturwissenschaftler mit Werken vergangener Epochen als den primären Gegenständen ihrer Forschung in aller Regel selbst noch konfrontieren können, vermag man als Theaterhistoriker die größeren Linien einer historischen Entwicklung hingegen nicht mit eigenen Augen zu überblicken. Auf weiter zurückliegende Aufführungen hat man nur höchst mittelbar analytischen Zugriff, d. h. man ist stets angewiesen auf sekundäre Quellen, die von vergangenen Ereignissen berichten, mithin also immer auf Theatergeschichte, die bereits geschrieben ist.
Wenn ich im Folgenden den Versuch unternehmen möchte, die Musiktheaterarbeit des Regisseurs Peter Konwitschny auf ihr Verhältnis gegenüber der Tradition realistischen Musiktheaters hin zu untersuchen, so geschieht dies im vollen Bewusstsein, dass diese Geschichte aus einer anderen Position auch sehr anders erzählt werden kann, ja wahrscheinlich sogar erzählt werden muss. Mit guten Argumenten etwa ließe...