Theater der Zeit

Auftritt

Schaubühne Berlin: Endzeit-Dating

„Zwei auf einer Bank“ von Alexander Gelman – Regie Amalia Starikow, Bühne Simon Lesemann, Kostüme Maksim Chernykh, Musik Taylor Savvy

von Thomas Irmer

Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Amalia Starikow Schaubühne am Lehniner Platz

Damir Avdic und Julia Schubert in „Zwei auf einer Bank“, in der Regie von Amalia Starikow. Foto Gianmarco Bresadola
Damir Avdic und Julia Schubert in „Zwei auf einer Bank“, in der Regie von Amalia StarikowFoto: Gianmarco Bresadola

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Damir Avdic mustert schon in seiner Rolle als ER das hereinkommende Publikum, insbesondere Frauen hat er im Blick. Dann spricht er sie an: „Im roten Pullover, sind Sie heute allein hier? Nein? Aha! Wie lange sind Sie schon mit Ihrem Freund zusammen?“ Und versucht es nochmal bei einer anderen. Es ist bereits die Situation des Stücks, in der ein Mittvierziger in einem Stadtpark auf Beute lauert. Der Stadtpark ist hier eine Sandwüste mit einer Wand aus abgestorbenen Korallen im Hintergrund. Von der Zivilisation zeugen noch eine alte Badewanne und eine kümmerliche Straßenlampe als Endzeitdekoration, aber die alten Ansprechrituale gelten noch immer. Bis SIE kommt und eines der wendungsreichsten Beziehungsstücke für einen Abend auslöst. Denn beide sind sich schon einmal begegnet – und haben ganz unterschiedliche Erinnerungen daran: ER zunächst keine, SIE als aufkeimende Projektion, was doch noch daraus werden könnte.

Alexander Gelman, der 1933 als Jude in einem Teil des damaligen Rumäniens geboren wurde, das später als moldauische Republik der Sowjetunion zugehörte, schrieb das Stück 1983 für eine Theaterkultur der Phase unmittelbar vor der Perestrojka Michail Gorbatschows. Das knisternd Aufregende war damals, wie die Lebenslügen von Einzelnen zugleich auf das Brüchige des Ganzen zielten. Es gibt kein wahres Leben im Falschen, auf sowjetisch. Die beiden Figuren sind mit ihren Nöten und Wünschen klar in der damaligen Welt situiert: Scheidungsnot mit Wohnungsproblemen zusammen mit miserablen Arbeitswelten und einer freudlosen Freizeitkultur. Und doch, so mischt Gelman die Sache auf, hängen Menschen am großen Glück, auch wenn sie mit Lügen und Tricks verzweifelt darum ringen.

Dass die Regisseurin Amalia Starikow zusammen mit der Dramaturgin Marilena Pütt dieses Stück wiederentdeckte und nur leicht bearbeitet in die Gegenwart der ansonsten ja immer besonders darum bemühten Schaubühne setzte, gleicht einer kleinen Sensation. Selbstverständlich spielt dabei die geringere Rolle, ob der sowjetrussische Dramatiker anderer Herkunft jetzt anders angeguckt werden muss, vielmehr geht es um den eigentlichen Stückwert. Und siehe da! Es funktioniert, und zwar ganz wunderbar. Zum einen läuft der sich hintereinander mit verschiedenen Namen verkleidende und selbst belügende ER von Avdic als großer Loser-Verführer auf, der vom tatschigen Umarmen des noch nicht wiedererkannten One-Night-Stands bis zum wiederholten Versprechen einer garantiert schicksalhaften Ewig-Beziehung alles ins Spiel bringt. Zum anderen lässt Julia Schuberts SIE alle Nöte einer geschiedenen Alleinerziehenden für die Mogelpackung Mann erkennen. Es tut fast weh, wenn sie zu ihm zurück rennt und die erst abweisenden Hände zur Besitzumarmung eines fehlenden Partners um den verstrubbelten Avdic krallt. Ihr seltsamer Kastenrockkittel, der mit dem Sandbeige der Bühne für den baldigen Untergang der Welt in ihrem Verglühen korrespondiert, sagt alles. Als aktuelle Assoziation dieser von der Regie angesagten „heteropessimistischen Ode“ jenseits der Geschichte des Stücks in seinem Sowjetkontext und im Hintergrund einer für diese Inszenierung entbehrlichen Öko-Apokalypse spielt die Identitätserfindung in Datingportalen als aktuelle Referenz die weitaus größere Rolle: als Find-mich-Bezugskultur. Hier ist die Not von Selbstfindungen ein Problem. Zu Gelmans besten Zeiten musste man sich direkt belügen. Und deshalb ist es heute noch besonders.

Erschienen am 22.2.2023

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