Zeitgenössische Theater- und Textproduktionen aus dem globalen Süden
von Grit Köppen
Erschienen in: Recherchen 173: Dekoloniale Ästhetiken im zeitgenössischen Theater (05/2025)
Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich im zeitgenössischen Kunst-, Theater- und Kulturbetrieb die Tendenz ab, dass zunehmend mehr Arbeiten von Künstler:innen sichtbar werden, die entweder dem globalen Süden oder der Diaspora angehören und migrantische, transnationale, kreolische und/oder subalterne Erfahrungen auf der Bühne behandeln. Aufgrund ihrer spezifischen Realitäten und Positionialitäten richten diese Künstler:innen in besonderer Weise oft kritisch-hinterfragend und selbstreflexiv ihren Blick auf die brisanten politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Fragen der Gegenwart. Unter ihnen befinden sich auffällig viele afrikanische und afro-diasporische Künstler:innen, die internationale Erfolge feiern.
Etliche dieser Künstler:innen nehmen im Sprechtheater aufgrund ihrer Theatertexte eine grundlegende Verschiebung hin zur Dekolonialität vor. Sie produzieren in der internationalen Gegenwartsdramatik Formen dekolonialer Ästhetiken. Dabei entwickeln sie sehr unterschiedliche künstlerisch-ästhetische Ansätze, die zugleich gemeinsame Merkmale aufweisen.
Die Dekolonisation begreifen Historiker:innen als eine der größten politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts – nämlich als folgenreiche globale Unabhängigkeitsbewegung aus kolonialer Fremdherrschaft und als Zusammenbruch kolonialer Imperien weltweit.1 Trotz der formalen Unabhängigkeit wird die Idee, dass eine Dekolonisation vollständig stattgefunden habe, stark bezweifelt, was die Fortführung dekolonialer Kunstpraxen nach den 1960er Jahren beförderte, seit den 1980er Jahren umfangreiche postkoloniale Theorieströmungen in den Literatur- und Kulturwissenschaften nach sich zog und seit den 2020er Jahren eine öffentlich und wissenschaftlich...