Theater der Zeit

4.6.1 Black or White?

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: James Scruggs Tamilla Woodard

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Vor dem 3LD Arts and Technology Center in der Greenwich Street, Lower Manhattan. An der Glasscheibe des Eingangs hängt ein selbstgezeichnetes Schild mit der Aufschrift »SupremacyLand« und der Information, dass die Türen 15 Minuten vor Beginn geöffnet werden. Ich muss hier richtig sein. Durch die Scheibe sehe ich bereits eine Schwarze Performerin (Catherine Braxton), die sich am Empfangsschalter einrichtet. Nach Betreten des Gebäudes sehe ich, dass sie einen Blindenstock bei sich hat und eine dunkle Sonnenbrille trägt. Relativ unvermittelt fragt sie mich nach meiner »skin colour«. Ich antworte wahrheitsgemäß »white« und sie zeichnet mir daraufhin einen weißen senkrechten Strich auf die Stirn. Darüber hinaus händigt sie mir sieben Supremacy-Dollar aus und weist mir den Eingang links von ihr – »whites only« – zu. Im Wartebereich dahinter beobachte ich nach und nach immer mehr weiße Zuschauer*innen, die einen schwarzen Strich auf der Stirn haben; ebenso wie eine Schwarze Frau mit weißer Markierung, mit der ich mich kurz unterhalte. Auf die Idee wäre ich ad hoc gar nicht gekommen. Probleme oder Widerstände in Bezug auf diese Einteilung des Publikums kann ich nicht beobachten. Alles läuft reibungslos. Am Ende sind Zuschauer*innen mit schwarz markierter Stirn und solche mit weißer Markierung etwa 50:50 aufgeteilt.

Dann betreten wir alle gemeinsam den schlauchartigen langen weißen Flur, auf dessen rechter Seite, wie in einer Ausstellung, zahlreiche Videotafeln montiert sind. Unter der Kategorie »Great Cartoons« laufen Ausschnitte vom Dschungelbuch oder vom Kleinen Mohr, »American History« versammelt Bilder von Schwarzen Sklav*innen oder vom Ku-Klux-Klan, »Great Commercials« zeigt rassistische Werbung für Rasierschaum oder Lucky Strike und dazwischen erscheinen Nachrichten-Schlagzeilen wie »negro killed white lady«. Ein Soundscape aus Zitaten, Musikpassagen und Werbejingles kommentiert die Bilder auditiv. Wiederum sehr unvermittelt werden wir diesem Bilderrausch rassistischer kultureller Artefakte ausgesetzt, der nun den Hintergrund für die Begrüßungsrede von Miss SupremacyLand bildet, einer weißen Performerin mit blonder Perücke und breitem, aufgesetztem Lächeln (Lauren White). Um die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, wechseln die Screens einheitlich auf die Übertragung der Konföderiertenflagge, dazu Marschmusik. »Ladies and gentlemen I am so very, very pleased and proud to welcome you to SupremacyLand! […] In a moment you will enter The Atrocity Carnival where all manner of entertaining racial superiority is displayed for your interactive enjoyment.« Sie bittet uns, ihr eine geflügelte Phrase wie »Everything that you do and say at SupremacyLand stays at SupremacyLand« chorisch nachzusprechen. Was alle so weit artig machen. Dann führt sie uns entlang der wieder aufflackernden Bilder in die illustrierte Geschichte weißer Vorherrschaft in den USA ein, indem sie weiterhin strahlend auf »great institutions« wie Sklaverei, Lynchjustiz, Racial Profiling und Masseninhaftierung verweist. Dann fragt sie, ob heute Mitglieder der »ersten Vereinigung sozialer Gerechtigkeit Amerikas« unter uns seien – womit sie den Ku-Klux-Klan meint. Keiner regt sich. Findet das hier gerade wirklich statt? Nachdem sie noch kurz stolz auf ihren neuen Präsidenten (Trump) zu sprechen kommt, der wie niemand sonst die Ideale von White Supremacy verkörpere, führt sie uns noch in die Haus- und Parkbesuchsregeln ein: Dazu gehört u. a., dass hier das N-Wort nicht nur erlaubt, sondern erwünscht sei. Die Angestellten trügen Namensschilder mit dem N-Wort und würden erwarten, auch so angesprochen zu werden. »We celebrate everything supreme«. Wie bitte? Meinen sie das ernst? Aus den Gesichtern der anderen Zuschauer*innen lässt sich kaum etwas ablesen. Dann öffnet sich hinter der Wand mit den Videoscreens eine große Tür und ich betrete als eine der Ersten »Supremacy-Land«, einen Indoor-Vergnügungspark mit kreisförmig angeordneten Ständen und »Attraktionen«, an denen einheitlich uniformierte Performer*innen bereits auf ihre Gäste warten.239

Wie man diesem ersten Auszug aus meinem Erinnerungsprotokoll entnehmen kann, gestaltet sich die Involvierung der Zuschauer*innen in 3/Fifths etwas anders als in den bisher betrachteten Aufführungsbeispielen. Mit der Wahl und der entsprechenden Markierung der »skin colour« werden Zuschauer*innen mit Einlass ins Gebäude sofort in zwei – schwarz oder weiß markierte – Gruppen unterteilt. Mit der jeweiligen Markierung ist die prompte Festlegung ungleicher Startbedingungen verbunden: Weiß markierte Zuschauer*innen erhalten sieben und schwarz markierte drei Supremacy-Dollar.240 Wenngleich alle zur Begrüßungsrede zusammenkommen, müssen sie vorher denjenigen Eingang passieren, der ihrer Markierung entspricht. In der Stückfassung von 3/Fifths steht, dass »The blind woman« am Einlass ihre Zuschauer*innen fragt: »Black or White? […] For this experience you must declare your race as Black or White« (Skript 3/Fifths, S. 3). Es geht hier also nicht nur um die Hautfarbe, wie ich das im Protokoll erinnere, sondern um mehr: Es geht um den Akt einer definierenden Selbstbezeichnung innerhalb eines binär gedachten Konstrukts von race241, das nur ›schwarz‹ oder ›weiß‹ vorsieht.242

Das Publikums-Framing bei 3/Fifths ist damit nicht nur ein Framing, das aus Zuschauer*innen Besucher*innen eines fiktiven Themenparks macht und damit ihre Funktion innerhalb der diegetischen Welt festlegt, sondern es handelt sich überdies um einen Akt von Racial Framing. Und die administrative Durchsetzung dieser Einteilung qua Stirnmarkierung wird von einer Frau vorgenommen, die Blindenarmbinde und Sonnenbrille trägt. Dadurch wird einerseits bekräftigt, dass es nicht um die tatsächliche Hautfarbe der Gäste geht, sondern um race als sozial wirkmächtiges Konstrukt. Einlasserin Catherine Braxton trägt die gleiche Uniform wie die Angestellten im Themenpark, innerdiegetisch gehört sie also bereits zum Stab des fiktiven »ethno-themeparc« SupremacyLand. Auf diese Weise wird die blinde Einlasserin andererseits auch als Personifizierung der Ideologie von Colorblindness lesbar, welche der im Park gefeierten Repräsentation Weißer Suprematie zugehörig ist.

Die Rede von Farbenblindheit (Colorblindness) ist in den USA zuvorderst mit Diskursen um eine post-racial era verbunden, hat ihren Ursprung allerdings in der Zeit der Bürgerrechtsbewegung. Aus der Forderung nach Gleichbehandlung und Abschaffung jener Jim-Crow-Gesetze, die seit 1865 eine weitreichende Rassentrennung in den USA möglich machten, wird im colorblind racism die (weiße) Ideologie, dass die immer noch existierenden Ungleichheiten zwischen People of Color und als weiß gelesenen Menschen nicht mit der unterschiedlichen Hautfarbe, sondern mit einem Bündel marktdynamischer, sozialer und kultureller Faktoren erklärt werden könnten (vgl. Bonilla-Silva, 2006, S. 2). Im Mantel des Liberalismus könne so die bestehende race order mit all ihren institutionellen Ungleichheiten nicht mehr wie im Fall der Jim-Crow-Gesetze über biologische, sondern über soziale und kulturelle Argumente begründet und weiße Dominanz aufrechterhalten werden (vgl. ebd., S. 9). Im rassifizierenden System Weißer Suprematie wird – wie in 3/Fifths über die fiktionalisierte sehbehinderte Einlasserin – Farbenblindheit suggeriert, um sich von Rassismusvorwürfen freizumachen, gleichzeitig bleibt das System ungleicher Behandlung aufgrund von race bestehen, was sich im SupremacyLand an der abweichenden Anzahl von Supremacy-Dollars und den zwei unterschiedlichen Eingängen, die unmittelbar an die historische Wirklichkeit der Jim-Crow-Ära anschließen, zeigt. Die Tatsache, dass Zuschauer*innen beim Einlass die Wahl haben, eröffnet die Möglichkeit, den gestalteten Erfahrungsraum gleichsam auch aus einer ›anderen‹ Perspektive wahrzunehmen.

Die Markierung determiniert im Fortgang des Aufführungsbesuchs, wie man von den Angestellten innerdiegetisch adressiert wird. Sie legt Privilegien an den einzelnen Stationen fest und bestimmt auch, welchen Szenenblock man zwischen dem ersten und zweiten Aufführungsteil miterlebt. Die ›blinde‹ Markierung von ›black‹ und ›white‹ legt in der Welt des fiktiven Themenparks Handlungsspielräume der Besucher*innen eindeutig fest. In SupremacyLand gibt es gleichsam nur diejenigen, die vom Rassismus profitieren (nämlich die weiß Markierten), und diejenigen, die durch ihn marginalisiert werden (die schwarz Markierten). Auf diese Weise führt die Produktion nicht nur die Macht der politischen Kategorien Schwarz und Weiß243 vor (vgl. Tsianos/Karakayali, o. J., S. 6), sondern macht auch darauf aufmerksam, dass es sich dabei um zwei einander bedingende, relationale Positionen handelt, die historisch seit der Sklaverei in einer kolonialen Matrix aufs Engste miteinander verflochten sind.244

Die blonde, immer lächelnde Performerin Lauren White, die uns in 3/Fifths willkommen heißt, wird im Skript auch »The docent« – die Dozentin – genannt. Sie lehrt uns nicht nur die Hausregeln des Parks, sondern führt auch in die Geschichte Weißer Suprematie ein. Dabei spricht sie offen rassistisch und lädt die Zuschauer*innen ein, es ihr gleichzutun. Entscheidend ist, dass sie uns mit ihrer einschließenden »we«-Ansprache als Gruppe adressiert, als würden wir uns qua Besuch bereits als Mitglieder ihrer Community qualifizieren. Sie feiert Sklaverei, Lynchjustiz und Massenverhaftungen in den USA seit den siebziger Jahren als »great institutions«, die die weiße Vormachtstellung über Jahrhunderte sicherstellten. Dass ihr Verständnis von race seinen Sitz in jener rassistisch-biologischen Denktradition hat, welche phänotypische Differenzmerkmale als Beweise für die Unterlegenheit des in diesem Falle Schwarzen Körpers naturalisiert und damit das Recht auf Unterjochung (z. B. von Sklav*innen) nachträglich zu legitimieren sucht, offenbart sich nicht zuletzt in ihrer komplementierenden Rede von der »caucasian race«, einer klassifizierenden Bezeichnung für phänotypisch vornehmlich hellhäutige, aus Europa stammende Menschen, die gleichfalls aus der Rassenkunde des 18. Jahrhunderts stammt (vgl. DiAngelo, 2020, S. 47).

Sie lobt den »good ol’ KKK«, den neuen Präsidenten Trump, der »white pride« wieder salonfähig mache, und mokiert sich über die Selbstbezeichnungen nicht-weißer Menschen: »There are several … Ha-Negroes-Colored people – people of color – African-Americans, Black people … whew! It’s hard to keep up with what they want to be called« (Skript, S. 8). Bei diesen Worten adressiert sie im Publikum eine schwarz markierte Zuschauerin und fährt fort: »Here in Supremacy-Land it is OK to say the whole n-word« (ebd.). Das N-Wort bezeichnet Künstlerin, Psychologin und postkoloniale Theoretikerin Grada Kilomba als »a colonial concept invented during European Expansionto designate all sub-Saharan Africans« (Kilomba, 2010, S. 94). Der Begriff hat seinen Sitz in der Geschichte der Sklaverei und ihn zu verwenden, evoziert zugleich die kollektive Erfahrung rassistischer Gewalt, die Brutalität weißer Sklavenhalter*innen und den Schmerz ganzer Generationen ausgebeuteter People of Color. Indem sie uns Zuschauer*innen – schwarz wie weiß markierte – einlädt, die Bezeichnung zu verwenden, ruft sie zu einer Form der Gewaltausübung durch Sprache, zu einer expliziten rassistischen Praxis und Sprechakten der Herabwürdigung auf.

Der zweigeteilte Einlass in die Aufführung von 3/Fifths und den fiktiven Themenpark SupremacyLand involviert seine Zuschauer*innen mit der Einteilung in ›black‹ und ›white‹ und der rassistischen Willkommensrede in die theatrale Realisierung einer Wirklichkeitssimulation. Bei dieser handelt es sich um die theatral verdichtete und überspitzte Wirklichkeit des machtvollen Systems der White Supremacy. Der Begriff der Weißen Suprematie bezeichnet ein übergeordnetes politisches, ökonomisches und gesellschaftliches Herrschaftssystem, in dem von der vermeintlichen Überlegenheit der als weiß definierten oder wahrgenommenen Menschen ausgegangen wird (vgl. DiAngelo, 2020, S. 61). Im System der Weißen Suprematie gilt Weiß-Sein als Ideal und menschliche Norm zugleich (vgl. ebd., S. 67). Es handelt sich dabei also nicht zuletzt um eine Ideologie, die Rassismus als System institutioneller ungleicher Machtverteilung einschließt.

Mit dieser Setzung, als Zuschauer*in einen Themenpark der White Supremacy zu besuchen, ist bereits angezeigt, inwieweit die Publikumsinvolvierung in 3/Fifths von Beginn an vereinnahmend wirkt: Denn die teilnehmenden Besucher*innen werden mit dieser doppelten Einlasssituation von Markierung und fiktionalisiertem Racial Framing zugleich körperlich, diskursiv und affektiv von der spezifisch rassistischen Weltsicht der Akteur*innen Weißer Suprematie vereinnahmt.

239 Aus meinen Erinnerungsprotokoll der Sichtung von 3/Fifths – SupremacyLand am 5.5.2017 in New York; Zitate wurden nach Vorlage des Skripts entsprechend korrigiert und/oder ergänzt.

240 Eine Rezensentin spricht davon abweichend von zehn Supremacy-Dollar für weiß und zwei Supremacy-Dollar für schwarz markierte Zuschauer*innen, vgl. Yong, 2017. Möglicherweise variierte die Startkapital-Aufteilung in den Aufführungen.

241 Da die Produktion englischsprachig ist und ihren Sitz in den Diskursen und der Lebenswelt der US-amerikanischen politischen wie sozialen Realität hat, werde ich viele Begriffe und Konzepte, die sich nicht verlustfrei ins Deutsche übertragen lassen, in diesem Kapitel im englischen Original verwenden. Insbesondere race belasse ich – dabei Natasha A. Kelly folgend – im Englischen, weil »der Begriff im Deutschen ausschließlich als biologische und damit einhergehend als rassistische und nicht als soziale Kategorie verstanden w[e]rd[e]« (Kelly, 2019, S. 13). Mit Bonilla-Silva und vielen anderen Autor*innen der postkolonialen Theorie, der Critical Whiteness oder Black Studies begreife ich race als eine »socially constructed category that (like gender and class) produces real effects on actors racialized as black/white« (Bonilla-Silva, 2006, S. 8f.).

242 Ein Rezensent weist darauf hin, dass er auf die Selbstbeschreibung »other« insistierte, ihm diese Option allerdings verwehrt wurde, vgl. Rodney, 2017. Im Skript steht dazu die Notiz, dass die »blind women« für den Fall, dass ein Gast sich nicht entscheiden wolle oder auf ein Drittes poche, die Autorität habe, ihn*sie in die Gruppe ›black‹ einzuteilen, denn »›Others‹ will be treated as if they were black in SupremacyLand« (Skript 3/Fifths, S. 4).

243 An dieser Stelle markiert die Großschreibung, dass die Dichotomie nicht auf »phänotypische[] Merkmale[] im Sinne biologischer Entitäten« (Wachendorfer, 2006, S. 65), sondern auf soziale Konstruktionen, »Praxen und symbolische Ordnungen in gesellschaftlichen Machtverhältnissen« (ebd.) abhebt.

244 Die Bezeichnung »Weiße*r« kommt im 18. Jahrhundert auf den Antillen auf und ist damit selbst eine historische Kategorie, die mit der Geschichte des kolonialen Menschenhandels verknüpft ist, vgl. Röggla, 2012, S. 66.

 

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