Auftritt
Schauspiel Münster: Spiel des Lebens
„Nachkommen – Ein lautes Schweigen!“ von Emre Akal (UA) – Regie Emre Akal, Bühne und Kostüme Annika Lu, Dramaturgie Tobias Kluge
von Stefan Keim
Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Emre Akal Theater Münster
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Sie sehen fast wie Menschen aus. Aber auch wie Puppen. Die Augen erinnern an Mangafiguren, die Haare – lockig, lang oder aufgetürmt – könnten aus einem Fantasyfilm stammen. Die Fingernägel sind lang und spitz, wie sie Max Schreck in Murnaus „Nosferatu“-Stummfilm trug. Und die Kleidung wirkt wie ein Kostümentwurf, gezeichnet, nicht geschneidert. Sie heißen Horst 2.0, Franz 2, Franzi 2.0 und Nilgün 2.,0. Es sind unsere Nachkommen in einer nicht weiter definierten Zukunft. Sie spielen Mensch.
Der Autor und Regisseur Emre Akal setzt sich seit einigen Jahren mit einem Leben jenseits des Analogen auseinander. Die Uraufführung „Nachkommen – Ein lautes Schweigen“ ist der Abschluss einer Tetralogie. Die vier erkunden, wie ihre Vorfahren, die Menschen, gelebt haben. Indem sie Avatare gemietet haben, virtuelle Körper, mit denen sie in einer künstlichen Welt leben. Die in diesem Fall kein Fantasy-Universum darstellt, sondern das, was die Wesen aus der Zukunft für historische Realität halten. Also unsere Gegenwart.
Ein Avatar erlebt eine Geburt, und plötzlich ist sein Gesicht nass. „Du weinst“, erkennt einer der anderen. Das Kind soll den Namen „Hoffnung tragen“. Dann gebärt Horst 2.0, der im Spiel den Namen Iphigenie trägt, zwei Babys. Die Anspielung auf die antike Mythologie bleibt vage und ist wohl ein Zugeständnis an den Münsteraner Spielplan, in dem sich viele Stücke mit der Atridensage beschäftigen. Die Säuglinge bleiben irgendwo im Unterholz liegen, niemand weiß, was man mit ihnen anfangen könnte. Der Text balanciert zwischen skurrilem Humor und melancholischen Untertönen, zwischen konkreten Spielsituationen und philosophischen Debatten. Alle Spielenden haben etwas Naives, wenn sie den seltsamen Gefühlen der analogen Menschen staunend gegenüberstehen. Aber auch etwas Grausames, weil sie mit diesen Emotionen überhaupt nichts anfangen können.
Die Ausstatterin Annika Lu hat ein faszinierendes Bühnenbild entworfen. Das Publikum schaut durch eine Glasfront in einen Bungalow, dessen Dach schräg in der Luft hängt. Auf der Unterseite befindet sich ein Spiegel, sodass man aus verschiedenen Perspektiven auf das Geschehen schauen kann. Auf dem schmalen Rahmen rund um das Haus sind Naturimpressionen zu sehen, die Bühne ist mit grünen Vorhängen verkleidet. An der Rampe liegt ein verendetes Reh mit aufgerissenem Bauch. Ein Spielraum voller Andeutungen und Rätseln.
Von „Erbschuld“ ist immer wieder die Rede. Die vier Avatare verhandeln die Fragen unserer Zeit. Einer von ihnen bezeichnet sich als Aktivist und will die Zerstörung der Natur aufhalten. Aber er weiß nicht recht, wie er das anstellen soll und wer seine Gegner sind. Es bleibt bei einer heldenhaften Pose. Die „Matrix“-Filme waren laut Programmheft eine wichtige Inspirationsquelle für das Stück. Die Geschichte eines Mannes, der erfährt, dass er in einer Traumwelt lebt und eigentlich an Schläuchen angeschlossen in einer Nährflüssigkeit liegt. Emre Akal blickt in die Zukunft der Metaversen, die gerade entstehen, auf die Auflösung des Analogen und damit einer verlässlichen Wirklichkeit.
Ein hochinteressanter Text, der in der Regie des Autors auch Bühnenwirksamkeit entfaltet. Ein ausgezeichnetes und hoch konzentriertes Ensemble (Clara Kroneck, Regine Andratschke, Alaaeldin Dyab und Julius Janosch Schulte) spielt die vielen Gedanken und Assoziationen durch. Ein bisschen zieht sich der 90-minütige Arbeit in die Länge, denn die vielen Verfremdungen verlangen auch vom Publikum hohe Aufmerksamkeit.
Am Ende legen die Spielenden ihre Avatarkostüme ab und werden als bleiche Gestalten sichtbar, die wie unfertige Menschen aus der Retorte unfertige Menschen aussehen. Eine erzählt mit Berliner Akzent, dass sie erstmal arbeiten gehen müsse, bevor sie sich wieder so einen künstlichen Körper leisten könne. Während um sie herum die Bühne abgebaut wird. Das Spiel ist aus, wer mehr will, muss bezahlen. Die Macht der Konzerne scheint in der digitalen Zukunft nicht kleiner geworden zu sein. Im Gegenteil.
Erschienen am 25.1.2023