Auftritt
Deutsche Oper Berlin: Kreuz auf zarten Schultern
„Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach – Musikalische Leitung Alessandro De Marchi, Inszenierung Benedikt von Peter, Bühne Natascha von Steiger, Kostüme Lene Schwind, Video Bert Zander, Licht Roland Edrich
Assoziationen: Theaterkritiken Musiktheater Berlin Benedikt von Peter Deutsche Oper Berlin

„Keine Opernmusik!“ verlangten die griesgrämigen Stadtoberen Leipzigs von ihrem Kantor an der Thomaskirche, Johann Sebastian Bach, als sie ihn im Jahr 1725 damit beauftragten, eine Musik zur Leidensgeschichte Jesu zu komponieren. Und Bach lieferte sein umfangreichstes Werk, das umfassendste Glaubensbekenntnis, das es je gab, ein Monumentalwerk von fast drei Stunden Dauer, das mit seiner inneren Glut und Leidenschaft nicht nur den gläubigen Christen, sondern ebenso das Herz eines nichtgläubigen Menschen erschüttern kann. „Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium", brachte es Friedrich Nietzsche in Worte. Uraufgeführt wurde die Matthäus-Passion wohl am 15. April 1729, an einem Karfreitag Nachmittag kurz vor 14 Uhr in der Leipziger Thomaskirche innerhalb des Vespergottesdienstes. Große Begeisterung rief sie seinerzeit nicht hervor und nach Bachs Tod geriet sie in Vergessenheit.
Die Stadt Berlin verbindet eine besondere Geschichte mit der Matthäus-Passion. Hier hatte Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahre 1829 die über 100 Jahre vergessene Musik wiederentdeckt und mit ihr nach einer denkwürdigen Aufführung in der Sing-Akademie zu Berlin neben dem Kastanienwäldchen – dem heutigen Maxim Gorki Theater – eine Bach-Renaissance eingeleitet. Fast sieben Kilometer davon entfernt wurde die Matthäus-Passion nun in der Deutschen Oper Berlin unter der Regie von Benedikt von Peter aufgeführt. Es stellt sich von Anfang an die Frage, ob das kontemplative Kirchenwerk Bachs, ein ohnehin hochdramatisches Werk, zusätzlich noch „dramatisiert" werden muss. Bachs ursprünglicher musikalischer Apparat bestand aus zwei alternierenden Chören, zwei Orchestergruppen – ohne Trompeten, für die in einer Passion kein Platz ist – und zwei Orgeln. Dazu die Solisten. In der Inszenierung an der Deutschen Oper gab es nun drei (!) Chöre und vier (!) Orchester, die von der Vor und Hinter-Bühne bis auf die Ränge, den Emporen hinauf links und rechts verteilt wurden und aus der Vogelperspektive wie ein musikalisches Kreuz wirkten. Jedes Orchester bekam auch noch eine eigene Orgel. Dazu acht Sänger:innen auf der Bühne und Mitglieder aus Laienchören im Publikum. Im größten deutschen Opernhaus besetzten also auch die Interpreten die Sitze im Parkett und den Logen. Ob sich das ökonomisch rentiert?
Musikalisch jedenfalls war die Aufführung ein absolutes Ereignis. Absolut faszinierend, wie Dirigent Allessandro de Marchi die Herkulesarbeit bewältigte, sämtliche Klangkörper und Sänger:innen zu koordinieren in diesem ohnehin sehr komplexen Werk, dass sich auf drei Ebenen abspielt. Da sind die dramatischen angelegten Chöre der Volksmenge (Turba-Chöre), welche die Fragen der Jünger, das Toben der erregten Menge, die Aussprüche der Hohenpriester und der Kriegsknechte wiedergeben, aber auch die monumentalen Eingangs- und Schlusschöre und Choräle aus dem überlieferten Liedgut. Da sind die Solisten, Jesu, Petrus und Pilatus und andere, die in ihren meist breit angelegten lyrischen Arien, ihre Empfindungen im Angesicht des Martyriums Christi zum Ausdruck bringen. Und da ist der Evangelist, im Programmheft vom Regisseur „master of ceremony“ genannt, der den Hörer durch den biblischen Text führt, ihn rezitiert und deklamiert. Womit wir bei der Inszenierung von Benedikt von Peter wären, der sich auf ein fantastisches Sängerensemble verlassen konnte. An vorderster Stelle der Tenor Joshua Ellicott als Evangelist, der eindringlich, emphatisch mit betörend schöner Stimme durch die Passionsgeschichte führte. Eine mörderische auch körperlich strapazierende Partie. In Benedikt von Peters leider bieder und sozialpädagogisch aufgezogener Inszenierung aber verließ er seine ihm von Bach zugedachte statische Rolle als biblischer Chronist und mutierte zum überengagierten fast schon aktionistischen Lehrer einer Gruppe meist stummer, in süßliche pastellene Kleider gewandete Kinder, die die Erzählung um Jesu Passion und Kreuzigung in Bildern nachstellten und spielten – inklusive Kreuz auf den zarten Schultern. Dazu penetrant auf die Leinwand oberhalb der Bühne eingeblendete christliche Botschaften, niedliche Stofflämmchen in Kinderarmen (als Symbol für die Unschuld Jesu) und mitgebrachte Ölbäume und Decken. Somit wird man der Spiritualität von Bachs Werk nicht gerecht.
Der sogartigen Stimmung der Chöre aber konnte man sich nicht entziehen, sei es bei den auf Monumental- und Raumwirkung angelegten Turba-Chören oder den auf Innerlichkeit und Demut setzenden Chorälen. Von Weltklasseformat waren auch alle Sänger: vom hinreißenden Alt Annika Schlicht über den berührenden Bassbariton von Padraic Rowan als leidenden, kämpferischen Jesus bis hin zu dem filigran leuchtenden Sopran von Siobhan Stagg und ihrem innigen Gesang. Artur Garbas beeindruckte als kerniger Pilatus und erster Pontifex. In ihren Gebärden aber schossen fast alle Solist:innen, angeleitet wohl von der Regie, über das Ziel hinaus, fielen schluchzend auf die Knie, rutschten wie ein Fred Mercury auf der Bühne hin und her oder übertrieben es mächtig mit heldischen und melodramatischen Gesten, wie etwa der Evangelist. Diderot zufolge ist ein Schauspieler bzw. Opernsänger nur dann „groß“ auf der Bühne, wenn er seine eigenen Empfindungen, sein Innenleben, von sich abspalten kann. Nicht der Interpret soll berührt sein, sondern der Zuschauer es werden.
Ausgerechnet inmitten einer der bewegenden Schlussarien sprang ein Mädchen, Greta Thunberg nicht unähnlich, auf die Bühne und zitierte zornig aus der Apokalypse, wenn „die Bäume und Gräser brennen". Klar, die Klimakatastrophe musste auch noch mit hinein. Schilder wurden hochgehalten mit Begriffen wie „Demut?“ „Opfer?“, „Angst?“. In Anbetracht der aktuellen Attacken auf Kunstgemälde der Last Generation erschien dieser Regie-Einfall nur wie ein billiger Abklatsch der Realität. Kunst auf der Bühne aber sollte, wenn nicht visionär so zumindest sublim und erhaben sein.
Erschienen am 10.5.2023