Theater der Zeit

Gespräch

Was macht das Theater, Yana Ross?

von Yana Ross und Nathalie Eckstein

Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)

Assoziationen: Performance Dossier: Was macht das Theater...?

Yana Ross
Yana RossFoto: Flavio Karrer

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In der Produktion „Kurze Interviews mit fiesen Männern – 22 Arten der Einsamkeit“ haben Sie mit Pornodarsteller:innen gearbeitet. Wie war die Arbeit mit ihnen im Unterschied zu der mit regulären Schauspieler:innen?

Wir müssen bei der Idee der Inszenierung beginnen: Die Idee, Live-Sex auf der Bühne zu erleben, kommt von der Lektüre von David Foster Wallace. Jedes Mal, wenn ich den Text lese, bin ich gleichzeitig fasziniert und abgestoßen, man will aufhören zu lesen, aber kann diesen „literarischen Porno“ nicht weglegen. Und ich dachte, ich brauche etwas, um das Publikum in eine bestimmte Art der Wahrnehmung zu bekommen. Um die Sprache von Wallace zu akzeptieren, muss man durch etwas durch, und man muss eine Wahl haben, ob man weitergehen will oder nicht. Das war der Grund, warum ich mit Pornodarsteller:innen gearbeitet habe. Die stellen natürlich eine Art nicht-normativen Cast dar. Ich habe nicht nach dem perfekten Paar gesucht. Conny Dachs ist 58, und Katie Pears ist in ihren 40ern, sie sind Veteran:innen ihres Feldes und haben viel Erfahrung in ihren Körpern und auf ihrer Haut. Ich wollte bei diesem Experiment zwischen verschiedenen Darstel­ler:in­nen herausfinden, welche Fähigkeiten sie gemeinsam haben. Es war ein sehr besonderer Prozess, und ich bin sehr glücklich, dass wir mit der Intimitätskoordinatorin Katarzyna Szustow gearbeitet haben. Das war wohl das erste Mal im Theater. Es ist ein Beruf beim Film, wenn man Sex simulieren muss. Und es gab Situationen, in denen wir eine bestimmte Sprache entwickeln wollten, wie wir die Kluft zwischen zwei professionellen Gruppen überbrücken können, und ich glaube, wir haben alle davon gelernt.

In der Beschäftigung mit toxischer Maskulinität – wie explizit feministisch haben Sie sich dem Stoff genähert?

Das ist eine Kritiker:innenfrage. (lacht) Ich arbeite sehr praktisch. Und natürlich gibt es Theorie am Anfang der Proben, aber ich will ein einfaches Beispiel geben: Ich habe ein iPhone, und wenn ich es in die Hand nehme, reichen meine Finger nicht um das iPhone herum. Das Smartphone wurde designt von einem amerikanischen Mann für die Hand eines amerikanischen Mannes. Bis die Welt nicht beiden Händen gerecht wird, mache ich feministisches Theater.

Sie bezeichnen sich selbst als „kulturelle Nomadin“. Jetzt sind Sie mit Ihren „Fiesen Männern“ auf der Biennale in Venedig eingeladen. Was bedeutet die Einladung für Sie?

Sie bedeutet vor allem Stress und schlaflose Nächte und wahrscheinlich Magenprobleme. Aber es bedeutet auch die Aufregung, eine sehr spezielle Arbeit teilen zu können. Ich trug David Foster Wallace zehn Jahre mit mir herum und bot es immer wieder Theatern an, aber niemand war interessiert. Und ich denke, alles passiert aus einem bestimmten Grund. Das Stück kam schließlich in Zürich zur Premiere, in einem Haus, in dem ich mich zu Hause fühle, und die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, sind meine Familie geworden. Das war eine besondere Atmosphäre von völliger Freiheit und gegenseitigem Verständnis. Und eine bestimmte Laissez-faire-Haltung gegenüber dem Publikum. Dass sie glauben, alles schon gesehen zu haben, sie nicht mehr überraschen oder schockieren zu können, war auch sehr befreiend. Ich konnte mich einfach auf meine Arbeit konzentrieren, darauf, was ich zu sagen hatte. Ich bin sehr dankbar, dass es zu so einem besonderen Zeitpunkt an einem so besonderen Ort passiert ist. Jetzt ist es hoffentlich die erste Begegnung mit einem internationalen Publikum.

Bemerken Sie im Zuge des russischen Angriffskrieges Reaktionen auf Ihren biografischen ­Hintergrund?

Meine ewige Identitätskrise und meine Fähigkeit, mich anzupassen, lässt mich oft fühlen wie ein Chamäleon oder ein Oktopus. Wie sie absorbiere ich die Farbe meines natürlichen Umfeldes. Und ich habe das Geschenk, einen Teil meines Lebens im Osten verbracht zu haben und den Großteil meines Lebens im Westen, man kann das als böse oppositionelle Empires einander gegenüberstellen. Die USA und die Sowjetunion … Die Mythologie, die Legendenbildung, die großen kulturellen Brüche in beiden Geschichten. Und diese Erfahrung in meiner Erinnerung zu haben, in meiner Haut zu haben, unterfüttert meine Arbeit. Aber ich frage mich immer, wenn ich anfange zu arbeiten, nach meiner eigenen Identität im Verhältnis zur kulturellen Landschaft, die ich durchquere. Auf eine Art ist es Teil meiner Arbeitsmethode.

Schauen wir in die Zukunft: Sie werden am ­Berliner Ensemble arbeiten. Was passiert da?

Ich arbeite quantitativ nicht so viel, es ist mir wichtig, mir Zeit zu nehmen, um etwas zu erarbeiten. Ich habe diese Woche schon angefangen, einen Workshop im Gespräch mit einer Gruppe von Schauspieler:innen zu entwickeln, die eine neue Version von Tschechows „Iwanow“ erarbeiten werden. Es ist ein Ensemblestück, ich bin immer interessiert an der Geschichte eines Hauses, und der Titel des Hauses ist „Berliner Ensemble“, also nehme ich es sehr ernst. Ich frage, wie kann ein Ensemble die Last gemeinsam tragen? Wie kann man etwas entwickeln aus dem Fokus einer Gruppe heraus? Und ich kontextualisiere auch die heutige Welt. Die deutsche Geschichte. Ich würde sagen, der Großteil meiner Arbeiten mit Klassikern beschäftigte sich mit der jeweiligen lokalen Geschichte. Wir sprechen darüber, was passiert, wenn die Handlung in der Mitte von Deutschland passieren würde. Und das bedeutet auch, die Geschichte der letzten Jahre in den Blick zu nehmen und uns zu fragen, wie uns das beeinflusst hat und wie wir an den Punkt gekommen sind, an dem wir heute stehen. Welche Rolle spielt die intellektuelle Elite in dieser Situ­ation? //

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