Magazin
Der Ermöglicher
Der Intendantenlegende Gerhard Wolfram zum 100.
von Thomas Wieck
Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)
Assoziationen: Akteure Theatergeschichte

Die Erinnerung an Gerhard Wolfram, fünfundzwanzig Jahre Intendant in der DDR, ist eine Erinnerung an ein Lebenswerk, das Möglichkeiten und Grenzen vernünftigen Handelns in unfreien Zeiten aufweist.
Jenseits aller taktischen Schachzüge und trotz vieler schmerzhafter Kompromisse meisterte er sein Amt dank seines unerschütterlichen Vermögens, sich offenherzig über fremdes Gelingen freuen und diese Freude ungetrübt mitteilen zu können, im gelassenen Wissen darum, das fremde Werk auf die ihm gemäße Weise ermöglicht zu haben.
Trotz aller zentralistischen Kaderpolitik prägte sich im Theatersystem der DDR eine viergliedrige Funktionstypologie des Intendanten aus: der gestaltende, der ermöglichende, der verwaltende und der verhindernde Intendant. Gerhard Wolfram zählte zu den Ermöglichern (Thomas Langhoff). Seit 1953 Chefdramaturg des Maxim-Gorki-Theaters Berlin, adaptierte er damals schon das Goethe-Wort „Die Bühne und der Saal, die Schauspieler und die Zuschauer machen erst ein Ganzes“ und passte es den Erfordernissen der fünfziger Jahre an, um die „große Kollektivität von Zuschauerraum und Bühne“ durchzusetzen.
Seitdem hielt er fest am Ideal eines „sozialistischen Volkstheaters, der demokratischen Spielstätte einer Gesellschaft“, die, so hoffte er, „zutiefst demokratisch ist und sich in einem gewaltigen Entwicklungsprozess vorwärtsbewegt.“ 1961 entdeckte er im Théâtre de la Cité de Villeurbanne das Theaterspiel, das ihm vorschwebte. „Ein aktives, kräftiges Volkstheater, dessen naive Vorgänge lebenswahr, optimistisch und siegesgewiss sind. Ein ansteckendes, mutmachendes und überlegenes Theater. Ein Theater, das durch seine dargestellten Inhalte an der Befreiung des Volkes von Unterdrückung und Ausbeutung teilhaben will.“
Emphatisch schrieb er „Wie nahe liegt Villeurbanne bei Bitterfeld!“ Und so versuchte er in seiner ersten Intendanz am Landestheater Halle zusammen mit seinem „ewigen“ Chefregisseur Horst Schönemann, den kulturpolitisch vorgeschriebenen „Bitterfelder Weg“ unter dem Eindruck dieser Volkstheater auf eine sehr eigenständige Weise zu interpretieren: „Angestrebt wird eine Theaterarbeit, die von der historisch gewachsenen Souveränität der Behandlung unserer Lebensprobleme bestimmt ist“, um den Konflikten und Widersprüchen der unmittelbaren Gegenwart mit einem freien komödiantischen Spiel zur Freude des Publikums auf den Leib zu rücken.
Zwei Uraufführungen, die Bühnenfassung des Romans „Die Aula“ von Hermann Kant und Heiner Müllers „Der Bau“ sollten das Konzept praktisch bestätigen. Doch weit gefehlt, allein die affirmative Bühnenfassung „Die Aula“ kam, und der ideologisch beargwöhnte „Bau“ wurde verworfen. Hinter der Maske der scheinbaren Komik der „Aula“ begann sich die historische Selbstüberschätzung der „Sieger der Geschichte“ zu spreizen, die Geschichte war nicht zu übertölpeln, und der Sozialismus wurde zur Utopie. 1968 brachte es an den Tag. Das Hallenser Theatermodell, damals hochgelobt, war schnell verschlissen. Wolfram trennte sich schwer von der Illusion, gesellschaftskonformes und ästhetisch anspruchsvolles Theater zu vereinen. Sozialistisches Volkstheater musste sich wandeln, und wollte es sich ästhetisch behaupten, gegen die Gesellschaft in ihrem So- Sein wenden. Das war die Hallenser Lehre. Während seiner elfjährigen Intendanz am Deutschen Theater verfocht er den künstlerischen und politischen Anspruch des Theaters, „eine Tribüne unserer sozialistischen Gesellschaft und somit Teil der sozialistischen Demokratie zu sein“. Diese Maxime Wolframs aus dem Jahre 1974 wurde von der Berliner Parteibürokratie als Kampfansage gegen die ideologische Prädominanz der Partei verstanden. Wolfram war spätestens seit 1978 Intendant auf Abruf, aber die umfänglichen und komplizierten Sanierungen der Kammerspiele und des Deutschen Theaters verlangten nach einem eingespielten Leitungsteam, und Wolfram hatte noch eine Schonfrist, die er glänzend nutzte, indem er Alexander Lang zum Regiedurchbruch verhalf und dem Deutschen Theater einen neuen stilbestimmenden Regisseur bescherte.
Anfang 1982 schlug die Partei zu:„Der Leitungszustand befindet sich in einem liberalen Aufweichen und nicht in einer straffen Hand, die – wie seit Jahren bekannt – Genosse Wolfram als Person und der Partei gegenüber sowieso nicht garantieren kann.“ Wolfram wird nicht in die Wüste geschickt, sondern 1983 wundersamerweise Intendant des Dresdner Staatsschauspiels.
Auch auf dem Intendantenkarussell in der DDR ging nichts ohne persönliche Fürsprecher, und Wolfram hatte in Hans Modrow, dem SEDChef von Dresden, einen solchen zur rechten Zeit an der rechten Stelle: Das Dresdner Mehrspartentheater 1983 entflochten, und so wurde Wolfram der erste Intendant des selbstständigen Dresdner Staatsschauspiels. Doch nun band Wolfram das Theater konzeptionell längst nicht mehr an parteigenehme Ideologeme und abstrakte Sozialismusvorstellungen. „Immer deutlicher wird das Problem eines neuen zeitgenössischen Funktionsverständnisses unserer Theaterarbeit. Bewegung entsteht überall dort, wo die Theaterleute den enorm gewachsenen subjektiven Faktor im Zuschauer oder beim potentiellen Zuschauer ernst nehmen, wo Theater aus der Information in die schöpferische Phase der Kommunikation tritt, das künstlerische Grunderlebnis immer vorausgesetzt.“ In diese schöpferische Phase führte Wolfram sein Ensemble, befreite sich das Dresdner Schauspiel aus jahrelanger Erstarrung und avancierte zum kreativsten Theater der letzten DDR-Jahre.
Folgerichtig wird dieses Theater im Oktober 1989 zur unmittelbaren politischen Tribüne mit dem legendär gewordenen Aufruf des Schauspielensembles im Anschluss an die Vorstellung am 6.10.1989: „Wir treten aus unseren Rollen heraus“. Die Straße wurde wieder die angestammte Tribüne des Volkes, und das Theater wurde kenntlich, als das, was es war und sein wird: „Eine Insel, geprägt durch Hoffnung und Verzweiflung.“ (Gerhard Wolfram 1990) Mit stehenden Ovationen verabschiedete ihn sein Ensemble im Oktober 1990. Gerhard Wolfram gab altershalber die Intendanz an seinen Chefdramaturgen Dieter Görne guten Gewissens ab. Am 15. Juni 2022 würde er 100 Jahre alt werden. //