Theater der Zeit

Kolumne

Mmh, Widersprüche

Frank Mario Castorf soll ja jetzt siebzig sein

von Ralph Hammerthaler

Erschienen in: Theater der Zeit: Es ist ein Kreuz – Ein Schwerpunkt zur Bundestagswahl mit Luna Ali, Annekatrin Klepsch und Aladin El-Mafaalani (09/2021)

Assoziationen: Debatte

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Als ich mich das erste Mal mit Frank Castorf verabredete, war er kurz davor, die Berliner Volksbühne zu eröffnen. Es war im August 1992. Durch den Bühneneingang betrat ich das Gebäude, es roch nach Farbe, und ich stellte mich so blöd an, dass ich mit einem Schritt auf einen frischen Estrich trat. Erschrocken zog ich das Bein zurück und erblickte meinen Schuhabdruck auf dem Boden. In den folgenden Jahren wollte ich immer mal wieder überprüfen, ob es diesen Abdruck noch gab, aber wahrscheinlich hatten sie ihn noch am selben Tag entfernt. Dass sie ein Warnschild aufgestellt hätten mit Vorsicht!, darauf wären sie damals nicht gekommen. Man musste halt schauen, dass man sich in diesem Theater zurechtfand.

Auch das Intendantenbüro wurde renoviert, und so saß Castorf woanders. Vor seinem Zimmer hockten sechs oder sieben Leute und warteten auf Einlass. Hier setzte ich mich dazu. In jener Zeit schrieb ich an meinem Buch „Theater in der DDR“, und ich wollte mit Castorf über Anklam reden, wo ja tatsächlich ein anderes, gefährlich lustvolles Theater entstanden war. „Ich dachte, man müsste von vielen Punkten aus diesen psychischen Zustand der Gesellschaft durch­löchern“, sollte ich ihn später zitieren, „so lange, bis es kein Hirn mehr gibt, das sagt: so oder so.“ Nach einer Weile kam ein Assistent und sagte, Castorf schaffe es heute nicht mehr, aber ich könne morgen Vormittag zu ihm nach Hause kommen, in die Varnhagenstraße.

Na gut, dann eben zum Frühstück. Um nicht mit leeren Händen dazustehen, besorgte ich an der Ecke eine Tüte mit Schrippen und klingelte dann bei ihm. Er öffnete und wirkte irritiert, an eine Verabredung konnte er sich nicht erinnern, aber er ließ mich ohne zu zögern herein. Das Grundprinzip ist die Irritation, sagte er kurz darauf über sein Theater, der Versuch, mit Widersprüchen zu leben, was ein Genuss sein kann, ohne dass man sofort eine Erkenntnis daraus zieht. Weil er im Kühlschrank nicht fand, was er suchte, nuschelte er was von: keine Frau im Haus. Die ganze Zeit schon lief ein Fußballspiel im Fernseher, er stellte den Ton ab, starrte aber weiter aufs Bild – und formulierte wie nebenbei seine gestochen scharfen Sätze.

Neun Jahre später durfte ich mit nach Rom, zu einem Gastspiel von „Endstation Amerika“. Castorf war zum ersten Mal in der Stadt, und er sagte, dass ihn bereits das Mezzogiorno-Gefühl plage, nachts zum Beispiel, wenn er auf der Suche nach einem Lokal erfolglos um den Block streife und immer wieder auf dieselbe Nutte stoße. Die hat mich angesehen wie: Haste wohl auch noch nichts gefunden? Am zweiten Abend aber, jetzt mit dem Ensemble in einem Lokal, riskierte Castorf sein Outing, denn er heiße mit zweitem Vornamen Mario, also im Grunde ein Italiener. Henry Hübchen und er stichelten aneinander herum, wenn sie sich nicht überhaupt ignorierten. So war das schon früher gewesen. Einmal fragte Castorf: Hast du mal nachgedacht, was wir hier tun? Und Hübchen: Nö, wieso? Darauf Castorf: Na, solltest du vielleicht mal!

In einer Stasi-Akte steht über Anklam, die beiden hätten eine Inszenierung verschärft: „So z. B. die Szene, bei der drei Schauspielerinnen immer nur ,Scheiße‘ rufen, da ist deutlich erkennbar, dass das ans Publikum gerichtet ist, Publikumsadresse kann man auch dazu sagen.“

Tagsüber lief ich mit Henry durch Rom, vor allem wollten wir zur Fontana di Trevi, weil er an der Volksbühne Marcello Mastroianni in „Stadt der Frauen“ gespielt hatte. Die Fontana beschwor zwar einen anderen Film herauf, aber Hauptsache Mastroianni. Felliniadresse kann man auch dazu sagen. Vor dem Brunnen fotografierten wir uns gegenseitig, und danach kauften wir uns ein Eis auf der Piazza Navona. Henry sagte: Castorf, die Brillenschlange, musste ja erst berühmt werden und durch seine Intelligenz bestechen, ehe die Frauen auf ihn aufmerksam geworden sind. Jetzt hat er zu tun.

Wieder neun Jahre später stellte ich im Roten Salon der Volksbühne, begleitet von Anne Ratte Polle, meinen Roman „Der Sturz des Friedrich Voss“ vor. Dramaturgin Sabine Zielke hatte die Idee, das Buch Castorf auf den Tisch zu legen, weil das ein Stoff für ihn sei und er eh lieber Romane als fleischlose Stücke inszeniere. In jener Zeit hatte ich eine Frau Spitzel, die mir ein ums andere Mal bestätigte, ja, das Buch liege nach wie vor auf Castorfs Tisch. Wenn er es nur gelesen hätte …

Nicht neun, sondern sieben Jahre später stand ich nach der „Faust“-Nacht mit einem Becher geschenkten Kaffees vor der Volksbühne und blinzelte in die Sonne. Von 23 Uhr bis sechs Uhr morgens war noch einmal alles Glück zu erleben, der Spaß, der Lärm und die Nerverei, der Moment, in dem der ganze Castorf gespenstisch zusammenschnurrt, wie in fast jeder seiner Inszenierungen, nur Leere und Verzweiflung, so existenziell, dass ­einem die Luft wegbleibt.

Vergessen, dass er mir eine versprochene Hospitanz in den 90ern verwehrte und sich am Telefon verstellte. Vergessen auch, dass er meinen „Voss“ auf dem Schreibtisch und also links liegen ließ. Einen zweiten wie ihn haben wir nicht. Er soll jetzt siebzig geworden sein. Buon compleanno, Mario! //

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