Magazin
kirsch kontexte: Vom Tanz der Atome
Beim Lesen des Lukrez
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Glanz und Elend – Shenja Lacher und das Ensemble-Netzwerk über die Zustände am Stadttheater (10/2016)
Das Lehrgedicht „De rerum natura“ des römischen Dichters Lukrez ist einer der faszinierendsten Texte der Antike: eine hochpoetische Darstellung der epikureischen Lehre, die eine physikalische Theorie über den atomistischen Bau des Universums mit einer durch und durch pluralistischen, erstaunlich heutig anmutenden Glücksethik verbindet. „War Lukrez ein Hippie?“, fragte der Spiegel vor Kurzem sogar – und selbst in der reißerischen Schlagzeile im Bild-Stil spürt man noch echtes Erstaunen über die Modernität dieses Gedichtes. So hat nicht nur die Physik seit dem 20. Jahrhundert diverse Spekulationen bestätigt, die „De rerum natura“ über die „Welt aus Atomen“ aufstellte; auch in wichtigen ästhetischen Neuerungen des 20. Jahrhunderts haben die über 2000 Jahre alten Verse Spuren hinterlassen. Lukrez war ein Kronzeuge Bertolt Brechts, und noch immer hat man nicht genügend herausgearbeitet, wie sehr die produktivsten Momente der Brecht’schen Poetik Grundfiguren der lukrezianischen Physik aktualisieren: Lukrez sieht die Atome auf ewig durch einen unendlichen leeren Raum stürzen; dabei würden sie für immer in parallelen Sturzbewegungen gefangen bleiben und sich niemals verbinden (oder auch abstoßen), wenn nicht in jedem Atom von Anfang an eine nicht messbare Minimalabweichung – das ominöse „Clinamen“ – wirksam wäre. Dieses ähnelt einem unergründlichen Eigensinn, der jedes Atom anfänglich von seiner Sturzbahn...