Editorial
Editorial
von Meike Wagner, Christina Röfer und Kathi Loch
Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)
Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater
Überall herrscht Materialknappheit: Holz fehlt auf dem Bau, Chips in der Automobilindustrie. Überall? Nein! Im Figurentheater ist Material vorhanden – immer schon und in größter Vielfalt! Nicht nur, wenn es sich um „Materialtheater“ im engen Sinne handelt, bildet das Material die physische Grundlage jeder Inszenierung. Es wird ausgewählt, bearbeitet, mit anderen Materialien kombiniert und schließlich bespielt. Es wird vom Publikum wahrgenommen, das dann seine eigenen Materialerfahrungen im Rezeptions-Gepäck hat. Und nachdem es „abgespielt“ ist, muss es irgendwo hin. Das Material des Figurentheaters ist also ständig in Bewegung – auf der Bühne sowieso – aber auch davor und danach durchläuft es zahlreiche Transformationen. Die vorliegenden Texte nehmen diese immer wieder in den Blick (von roh zu bearbeitet, von intakt zu kaputt, von unbenutzt zu benutzt, von analog zu digital …) und illustrieren damit, wie reich die Lust am Material und seiner Erkundung das Figurentheater macht.
Kathi Loch startet mit den Grundlagen der Grundlagen, indem sie auf das Enstehen, Sein und Vergehen des Materials im Figurentheater schaut. Dazu passend liefert Astrid Schenka mit der Unterscheidung der Begriffe „Material“ und „Materialität“ ein wertvolles Analyse-Werkzeug – auch um die eigene Materialwahrnehmung im Theater zu schärfen. Von der Theorie zur Praxis führt ein Fragebogen, in dem die Puppenbauer Rainer Schicktanz und Florian Loycke ihre – äußerst unterschiedlichen – Lieblingswerkstoffe vor- und gegenüberstellen: Holz und Schaumstoff. Über ein auf der (Figurentheater-)Bühne eher ungewöhnliches Material – nämlich Glas – berichtet Annika Gloystein anhand gleich zweier Projekte und kommt dabei den Unterschieden und Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Fragilität auf die Spur. Weitere sehr besondere Materialien lernen wir aus Künstler*innen-Perspektive kennen: das Eis, mit dem Élise Vigneron sich immer wieder auseinandersetzt, und den Lehm, an dem Simon Wauters sich in einer Inszenierung intensiv abarbeitete. Dass die Erforschung des Materials gerade für die allerkleinsten Zuschauer*innen einen spannenden Zugang zum Theater birgt, belegt Christiane Plank-Baldauf durch einen Workshop-Bericht. Und natürlich darf auch der Aspekt des Digitalen nicht fehlen: Alice Therese Gottschalk verrät, wie sich Figuren (per 3D-Drucker) aus dem Digitalen heraus materialisieren, Mario Kliewer, wie analoge Materialien zum Zwecke der (musealen) Vermittlung digitalisiert werden. Zwei Beiträge, die sich mit dem „Nachleben“ des Materials befassen, kommen von Frank Soehnle, der beweist, dass benutztes Material mit viel Erkenntnisgewinn reaktiviert und -animiert werden kann, sowie von den drei Expertinnen, die sich mit Meike Wagner zum Gespräch trafen: Sie erzählen aus den Lübecker, Münchner und Dresdner Puppentheatersammlungen, wie dort um die Konservierung des Materials gerungen wird.
Der zweite Teil des Hefts startet mit zwei Texten im französischen Original, in denen Pierre Meunier seine herausfordernde Arbeit mit einem Steinhaufen poetisch reflektiert. Bei der Tagung „PuppetPlays" bildeten Puppenspieltexte das Diskussionsmaterial, während bei der dezentralen Konferenz „Extend it!“ mit Online-Formaten experimentiert wurde. Darüber hinaus führen uns die Autor*innen ins Spielzeugmuseum nach Deventer, denken über die paradoxe Animation von Tierpräparaten nach und schauen auf Rafi Martins gewichtvolle neue Soloperformance, die jüngst in Stuttgart Premiere hatte. Es werden verschiedene Dimensionen eines nachhaltigen Figurentheaters diskutiert, und das Schweizer Fenster überwindet erstmals den „Röstigraben“. Das Heft enthält außerdem einen Nachruf auf den nach schwerer Krankheit verstorbenen Künstler Joachim Torbahn, dessen visuell-fantasievolle „Maltheater“-Arbeiten in Erinnerung bleiben werden.
Einen anregenden Blick auf die handfesten „Basics“ des Figurentheaters wünschen
Kathi Loch, Christina Röfer und Meike Wagner
The physical basis of every puppet theatre production is its material. It is selected, processed, combined with other materials and finally performed. During the performance, an audience perceives it and has its own material experiences in its receptive baggage. And after it has been "played", it has to go somewhere. The material of puppet theatre is therefore constantly in motion – on stage at any rate – but even before and after, it often undergoes numerous transformations. The texts in this issue repeatedly reveal these transformations (from unworked to processed, from intact to broken, from unused to used, from analogue to digital, ...) and thus illustrate the extent to which the desire for material and its exploration enriches puppet theatre.