Rezension
Plaudereien mit Biss
Der Theatertotalingenieur Jürgen Flimm erzählt „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“
von Stefan Keim
Erschienen in: Theater der Zeit: ¡Adelante! – Theater aus Iberoamerika (02/2024)
Assoziationen: Musiktheater Buchrezensionen Jürgen Flimm
Genervt kam das Publikum aus der Vorpremiere. Und Jürgen Flimm ging die Düse. Wenn dieses aufwändige Stück kein Erfolg würde, drohte dem Thalia Theater ein Millionendefizit. Kurz vor der Premiere des Musicals „The Black Rider“ von Tom Waits, William S. Burroughs und Robert Wilson wurden noch zwei Songs geschrieben. Die Spannung stieg, das Publikum saß im Saal. Und als die Türen schon geschlossen werden sollten, war Flimm im Foyer. Junge Leute riefen nach ihm, fragten, ob sie nicht irgendwie noch rein könnten, sie seien Fans von Tom Waits. „Ihr geht jetzt rein“, sagte der Thalia-Intendant, „und hockt euch auf die Treppen oder sonst wo, und wenn ihr nicht sofort einen enormen Radau macht, ziehe ich euch einzeln an den Ohren wieder raus.“
Die Jugend gehorchte, der „Black Rider“ wurde ein Welterfolg. Dass der im Februar 2023 verstorbene Intendant und Regisseur Jürgen Flimm voller Anekdoten steckte, wusste jeder, der ihn kannte. In seinen Erinnerungen öffnet er die Schleusen, erzählt, räsoniert, lobt und liebt Weggefährten, findet auch kritische Worte. Die Struktur ist chronologisch. Von der Kindheit, dem Puppentheater als seinem ersten Ensemble, geht es über die Stationen München, Köln, Hamburg, Bayreuth, Salzburg, das Ruhrgebiet nach Berlin, quer durch fünfzig Jahre Theatergeschichte. Innerhalb der Kapitel springt Flimm mal in die Zukunft, dann wieder zurück, lässt seinen Gedanken freien Lauf. Dabei setzt er voraus, dass seine Leser:innen die bekannten Namen der Theaterszene drauf haben. Sonst wäre Flimm wohl nie auf dreihundertfünfzig Seiten fertig geworden.
Auch so lässt er sich für die meisten Begegnungen höchstens ein paar Seiten Platz. Die Dirigenten Daniel Barenboim und Nikolaus Harnoncourt, die Architekten Norman Foster und Frank Gehry, das Who’s Who an Opern- und Schauspielstars schaut in diesem Buch vorbei. Besonders interessant sind die von Flimm skizzierten Projekte, die aus unterschiedlichen Gründen nie zustande gekommen sind. Radikal subjektiv beschreibt er die Treffen und Diskussionen. Flimm analysiert nicht, stellt keine großen Zusammenhänge her. Die Stärke seines Buches liegt in der Vitalität. Das Theaterschaffen ist ein ständiger Kampf gegen das Chaos. Widrige Umstände fordern alle Beteiligten bis zum Äußersten. Und danach ist der Triumph besonders groß oder der Frust besonders bitter. Doch meistens kommt doch noch der Funke, der das Feuerwerk entzündet – wie beim „Black Rider“.
Sehr kritische Worte findet Jürgen Flimm über die Salzburger Festspiele. Seine Entscheidung, nach der Ruhrtriennale 2006 als Intendant an die Salzach zu wechseln, bezeichnet er als „Fehler, der größte in meiner langen Laufbahn“. Flimm erzählt von Intrigen und Missgunst, davon, dass seine Lieblingsprojekte nicht unterstützt, sondern hinterrücks torpediert wurden. Und nennt seinen Nachfolger Markus Hinterhäuser ein „Chamäleon“, einen „Ober-Strippenzieher“, und muss sich sehr zu einem versöhnlichen Fazit durchringen: „Letztlich war es doch eine lange und gute Zeit mit Freundinnen und Freunden.“
Auch sich selbst gegenüber ist Jürgen Flimm immer wieder kritisch. Er beschreibt seinen Hang zum Jähzorn, der ihn auch als Intendant der Staatsoper Unter den Linden nicht verlässt. Aber auch die Fähigkeit, sich zu entschuldigen. Wer ihn erlebt hat, erkennt ihn wieder, den jovialen Plauderer, in dessen Geschichten sich plötzlich Abgründe auftaten. Flimm konnte überraschend schwermütig sein, er war verletzlicher als es bei so einem mächtigen Intendanten den Anschein hatte. Das spiegelt sich in seinen unterhaltsamen und auch manchmal kantigen Erinnerungen, deren Titel „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“ eine Bach-Kantate zitiert.
Jürgen Flimm: Mit Herz und Mund und Tat und Leben. Erinnerungen. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2024, 352 S., Hardcover € 26 / E-Book € 22,99