Theater der Zeit

Bericht

Befragung der Welt

Festivalbericht von der FIDENA 2022

Nachdem die FIDENA 2020 pandemiebedingt ausfallen musste, konnte sie im Mai 2022 wieder live in Bochum und den Nachbarstädten Hattingen, Marl und Recklinghausen stattfinden. Die Erfahrung des Bruchs, die Suche nach alternativen Formen der Vernetzung und das Ausloten von Digitalität nicht nur als Instrument des Austauschs, sondern auch als Modus künstlerischer Produktivität spiegeln sich im Motto der diesjährigen FIDENA. Unter der Überschrift „Befragung der Welt“ reflektierte eine vielfältige internationale Puppen-, Figuren-, Objekt- und Materialtheaterszene ihre Position, lotete Möglichkeiten der Vernetzung aus und befragte Aufgaben, Probleme und Potenziale der eigenen künstlerischen Tätigkeit. Jessica Hölzl (Bericht Auftaktwochenende) und Mathilde Chagot-Mansuy (Festivalbericht)

von Mathilde Chagot-Mansuy und Jessica Hölzl

Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Puppen-, Figuren- & Objekttheater

La Compagnie S’Appelle Reviens, Pinocchio (Live) #2. Foto: Daniel Sadrowski
La Compagnie S’Appelle Reviens, Pinocchio (Live) #2Foto: Daniel Sadrowski

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Den Auftakt der FIDENA bildete eine publikumswirksame Eröffnungsparade: Eine große Stelzenpuppe mit bunten Flügelarmen führte den Zug zur Musik von „Rabatz“ durch die sommerliche Bochumer Innenstadt, gefolgt von drei Damen mit hochgeschlossenen Kitteln, die eine riesige Nadel mit dickem rotem Faden durch die Menschenmenge fädelten. Ein freches Krokodil foppte die Begleitpolizei, seltsame Wesen huschten durch die Schaulustigen, und auch die Gäste hatten eine Vielzahl von Handpuppen, Masken und Verkleidungen mitgebracht.

Produktionsprozesse und kollektive Rituale

Offiziell eröffnet wurde das Festival mit der deutschsprachigen Erstaufführung von „Pinocchio (LIVE) #2“ der Compagnie S’Appelle Reviens. Mit Tanzschüler*innen des Centre Choréographique de Strasbourg und Performer*innen der Schauspielklasse des Conservatoire de Colmar führt die bildende Künstlerin und Regisseurin Alice Laloy in einem faszinierend-verstörenden Prozess voller Rhythmus und (A)Synchronizität die Produktion von zehn Pinocchio-Puppen vor. Mit großem Können den eigenen Körper als Objekt zur Verfügung stellend, provozieren die jungen Akteur*innen ein Unbehagen, das Zuschreibungen kindlicher Naivität und die Unzulänglichkeit ihrer (Selbst-)Wahrnehmung gleichermaßen in Anschlag bringt. Zugleich verweist die Performance über den konkreten Stoff hinaus auf Fragen der Animation und Materialität, die nicht nur klassische theatertheoretische Reflexionen miteinbeziehen, sondern in der spezifischen Ausgestaltung zugleich auf Fragen nach Souveränität und Autonomie, Machtverhältnis und Vormundschaft verweisen.

In anderer Weise vermeintliche Setzungen normativer Weltanschauungen befragend, verwebt der kanadische ‚Master of Puppetry‘ Ronnie Burkett in der europäischen Erstaufführung „Forget me not“ Animation und Spiritualität. Vor dem Hintergrund der imposanten Turbinenhalle entführt der Spieler als Guru und allmächtige Erzählinstanz das Publikum in eine ebenso varietéhafte wie archaische Welt ‚a long time ago‘ und verwickelt die Zuschauer*innen in ein berührendes kollektives Ritual.

Dagegen kommen die heutigen Mechanismen einer globalisierten Welt den Besucher*innen der Videoarbeit „Guilty Landscapes“ von Studio Dries Verhoeven schmerzhaft nahe. Während die vorbeifahrende S-Bahn die regelmäßig getakteten Verbindungen der Ruhrmetropolen hör- und fühlbar werden lässt, entführt die begehbare Installation im früheren Festivalzentrum Kunstverein Rottstraße jeweils eine Person für ca. 10 Minuten in die ferne und zugleich spürbar nahe Wirklichkeit industrieller Textilproduktion.

Ein solches Festival in Raum und Zeit bringt nicht nur das haptische Erleben von Bühnenkunst, partizipativen Formaten und begehbaren Installationen mit sich, sondern auch einen speziellen Rahmen: Ein Festivalzentrum im Pumpenhaus der Jahrhunderthalle, deren Industriepark mit Birken und Patina eine beeindruckende Kulisse abgibt, Diskussions- und Austauschformate und jede Menge zufälliger Begegnungen, spontaner Gespräche und neuer Vernetzungen.

Welten in Bewegung

Die weit auseinanderliegenden Spielorte in Bochum und den benachbarten Festivalstädten erforderten von den Besucher*innen eine große Bereitschaft zur Mobilität. Zu spüren war dabei, wie die Tatsache, ins Theater zu gehen, dem Körper selbst eine bestimmte Haltung gibt, eine besondere Weise, die Welt wahrzunehmen – und sie zu befragen. Auch in den einzelnen Inszenierungen der diesjährigen Ausgabe drückte sich dieses Motiv aus – sei es thematisch, als dramaturgisches Prinzip oder als Bewegungsmodus des Publikums.

In „Shell Game – Lost in Paranoialand“, einer „Mischung aus theatralem Abend und Live Game“ vom Bochumer Kollektiv Anna Kpok, mussten sich die Teilnehmenden nach der Notlandung ihres intergalaktischen Raumschiffs auf einem unbekannten Planeten zurechtfinden. Während wir, die Reisenden, zunächst den Anweisungen unserer androiden Flugbegleiterin voller Vertrauen folgten, fingen wir nach kurzer Zeit zu zweifeln an. Da allen Teilnehmenden zusätzlich eine geheime Rolle zugeschrieben worden war, fiel es besonders schwer zu wissen, auf wen man sich verlassen konnte, um „gerettet“ zu werden. Durch das Kombinieren von Indizien und (womöglich falschen) Informationen galt es, sich in futuristischen Landschaften aus bunt beleuchteten Stoffquallen, pilzartigen Riesenkissen und zart leuchtenden Papierfelsen zu orientieren, wobei es keine „gute“ oder „schlechte“ Lösung gab. Am Ende teilten sich die 32 Reisenden spontan in drei Gruppen auf – und es stellte sich die Frage: Sollten wir lieber ins Raumschiff zurückkehren? Auf dem Planeten bleiben, auf dem wir gelandet waren? Oder einen Schritt nach vorne, ins Unbekannte, wagen?

Wo wäre man gelandet? Vielleicht in einer Welt voller skurriler Mensch-Objekt-Hybride, wie sie in der Performance „After all Springville“ der belgischen Künstlerin Miet Warlop, einem Remake des 2009 entstandenen Klassikers „Springville“, zu erleben war. Da versuchen ein nervöser Sicherungskasten, ein Tisch mit langen Beinen und hohen Absätzen, ein ebenso neugieriger wie schüchterner Karton und weitere Figuren auf zugleich ungeschickte und zärtliche Weise in Berührung zu kommen. Im Laufe der Aufführung wird es immer chaotischer, aber durch die absurde Logik der Situationen entsteht ein tief prägendes Gefühl des Zusammenseins, das in unkontrollierbarem, kollektivem Lachen gipfelt.

Vom Festhalten und Entgleiten

In „Dimanche“, einer in Kooperation mit den Ruhrfestspielen präsentierten Inszenierung der belgischen Kompanien Focus und Chaliwaté, erweist sich die Fortbewegung als ein Kennzeichen jener Welt, die ins Verderben rennt und in der der Mensch vergeblich versucht, die Illusion der Normalität zu behalten – so wie das Paar, dessen vier Wände kurz vor dem Sonntagsessen von einem Sturm erschüttert werden. Umgeben von fliegendem Geschirr und zerbrochenem Glas halten sich die beiden mit aller Kraft am Tisch fest und versuchen, in einer unbewohnbar gewordenen Welt ihre Gewohnheiten wie Rituale ad absurdum weiterzuführen. Den Tisch decken, eine Kerze anzünden (und sie erneut anzünden, sobald sie erlischt), das Geflügel zerlegen: In all diesen sinnlosen Widerstandsversuchen der Körper auf der Bühne zeigen sich der Immobilismus und die Realitätsverweigerung der Menschheit gegenüber der Katastrophe, die sie selbst in Gang gesetzt hat.

Könnte die Illusion, sich am vermeintlich Vertrauten festhalten zu können, auch die misslungene Rückkehr eines Kaspers erklären? Eine solche erlebt dieser jedenfalls in „Croc Fiction – Jerk of All Trades“, einer Uraufführung des Pangalaktischen Theaters und des Bochumer Kollektivs impulskontrolle. Aufgefordert vom alten Freund und Kollegen Kroko erklärt sich Kasper bereit, an einem neuen Projekt teilzunehmen, bei dem er sich in einem videospielartigen Haus bewegen muss. Trotz des Einsatzes hochmoderner digitaler Medien gelingt es ihm nicht sich zu erneuern, und er erlebt ein unfreiwillig tragisches Ende.

Das Motiv der Mobilität fungiert auch als thematischer Leitfaden in „The Hills are Alive“, der ersten Zusammenarbeit von Neville Tranter und Nikolaus Habjan, in der sie die Emigrationsgeschichte der österreichischen Musiker*innenfamilie von Trapp – die hier von Trüb heißt – in die Gegenwart verlängern. Die Rückkehr des Paares 50 Jahre nach seiner Flucht aus Österreich nach Amerika gibt den Figurenspielern die Gelegenheit, sich mit dem zeitgenössischen Österreich und seiner nicht aufgearbeiteten Geschichte zu befassen. Besonders beeindruckend ist es, wie beide von einer Puppe zur anderen übergehen, so dass vielfältige Stimmen entstehen, von denen es bald unmöglich ist zu wissen, woher sie kommen. Mit bitterbösem Humor zeigen Habjan und Tranter auf, wie die Mobilität der Menschen Grundwerte unserer Gesellschaft ins Wanken bringt, so dass am Ende die Frage steht: Gibt es eigentlich gute und schlechte Flüchtlinge?

 In einem Festival, das so sehr auffordert, die vielfältigen Wege auszuloten, sich in der Welt zu situieren, ist es bestimmt nicht erstaunlich, dass sich bei der Abschlussparty sowohl Zuschauer*innen als auch Künstler*innen und Organisationsteam auf dem dancefloor der Stachanow-Bar mischten und stundenlang, dank der begabten DJ Death (aka Pia Alena Wagner), alle zusammen tanzten. Denn letztendlich ging es den Menschen im Festival wie den Dingen auf der Bühne: Um die unermüdliche und freudige Suche nach neuen Vernetzungen. – www.fidena.de

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