Theater der Zeit

Essay

Neue Dramatik, alte Geschichten, neue Welten

Neue Texte im Verhältnis zu einer neuen Realität

von Iven Yorick Fenker

Erschienen in: Theater der Zeit: Neue Dramatik (03/2023)

Assoziationen: Dramatik Dossier: Neue Dramatik

„Pirsch“ von Ivana Sokola in der Regie von Christina Gegenbauer am Deutschen Theater Göttingen
„Pirsch“ von Ivana Sokola in der Regie von Christina Gegenbauer am Deutschen Theater GöttingenFoto: Lenja Kempf

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Eine Generation folgt auf die nächste, auf die nächste, auf die nächste. Das ist der Lauf der Dinge. Zeit vergeht unaufhörlich und so verändert sich die Welt. Den Blick auf diese hat eine neue Generation Dramatiker:innen gerichtet, deren Texte immer präsenter auf den Bühnen des deutschsprachigen Raumes werden. Ist sie also dabei, die Alten abzulösen? Kommen nun die Jungen? Oder sind es vielmehr einfach die neuen Stücke, die neue Sprachen, neue Themen und neue Akteur:innen auftreten lassen und so eine neue Realität abbilden, im besten Falle diese sogar selbst bilden? Das hätte dann weniger mit dem Alter der Körper zu tun, aus dem diese neuen Texte entstehen, als mit der Art, wie diese Autor:innen die Welt wahrnehmen, die immer eine andere sein wird als gerade gesehen, gerade beschrieben, immer schon geschehen. Es ist sicher lohnender, die Neuerungen der Formen zu betrachten, als Generationen zu formen. Dieses Abarbeiten an der vorherigen Generation ist 2023 allerspätestens aber schon länger out. Referenz, Verfremdung, Pop, Popliteratur, Diskurstheater, Postdramatik. Das ist irgendwie alles over and out und irgendwie halt auch nicht. Einen konservativen Backlash zur Dramatik gab es nicht, ebenso wenig wie das postdramatische Theater abgelöst wurde, hat das „Dagegen“ seine Ambition verloren. Das „Gegen“ ist sogar sehr präsent in der Gegenwartsdramatik. Es geht einfach nur nicht mehr nur gegen die Vergangenheit, es geht gegen die Gegenwart und in die Zukunft. Die Ironie, die breitbeinige, das selbstgenügsame Stück, das überhebliche, ist mit dem empfundenen politischem Vakuum gegangen, das sich spätestens 2015 als illusorisch erwiesen hat. Es geht wieder um etwas, es ist immer um alles gegangen. Es handelt sich hier um eine neue Dramatik, die alte Geschichten in einer neuen Welt für eine bessere erzählt.

Die Begrifft des Anthropozäns, des Kapitalozäns, Formen des Digitalen, alles hat schon längst Eingang gefunden in die Matrix der Texte. Liest man die Textnachverweise, die Zeichen der Intertextualität, finden sich (feministische) Autor:innen, die das Verhältnis von Welt und Wahrnehmung nicht-anthropozentrisch verhandeln.

Einer dieser neuen Dramatiker:innen ist Giorgio Ferretti, der in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut studiert und 2022 mit seinem Stück „America“ den exil-DramatikerInnenpreis erhielt, welcher mit einer Uraufführung in der Spielzeit 2023/24 am Schauspiel Leipzig verbunden ist. In „America“ erzählt eine Figur, ein Mensch aus Südeuropa, von einer alten Welt und der Suche nach einer möglichen neuen. Der Erzähler erzählt aus seinem Leben, aus der Vergangenheit, die Erzählung ist im epischem Präteritum. Diese Episierung schafft eine narrative Dramatik, die ihr dramatisches Potenzial im Gestus des Erzählens ausschöpft. Es kann ja auch erst erzählt werden, was vergangen ist. Hier geht es rein ins Geschehen, die Geschichte beginnt im Badezimmer, die Figur ist da gerade fünfzehn Jahre alt und entdeckt „America“, in einem Magazin, dort abgebildet Menschen, oberkörperfrei, Männer. „America“ tritt hier als Begierde auf, wird bald zur Lust, Masturbation weicht bald der Melancholie. „America“ wird zum ­Synonym für Freiheit oder der Suche danach, wird zur Metapher für Identitäts­entwurf, Lebenskonstrukt. Ferretti gelingt ein Coming-of-Age-Drama, eine abgeklärte Erzählung, dessen Setzung, dessen Versform den Rhythmus einer ­Suche nach Sinn vorgibt, einer Suche im Erzählen, im Erinnern, bei gleichzeitigem Erleben. Grammatikalische Verschiebungen sowie syntaktische Eigenheiten werden nicht als sprachlicher Mangel kaschiert, sondern werden zur angeeigneten eigenen Sprache, die ihre eigene melodische Kraft freisetzt. Der Text ist komprimiert, kurz und von einer fragilen Schönheit.

Geschichten in Metastücken

Elisabeth Pape hat an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben studiert und in diesem Jahr den Kleistförderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker für ihr Stück „Extra Zero“ erhalten, der mit einer Uraufführung im Juli diesen Jahres am Staatstheater Augsburg einhergeht, in der Regie von Blanka Rádóczy. Pape ist ebenfalls eine dieser neuen Dramatiker:innen, die eine Geschichte erzählt. In „Extra Zero“ treffen verschiedene Figuren und Figurenkonstellationen mit eigenen Logiken und (Erzähl-)Strategien aufeinander. Die psychiatrische katholische Klinik, in der sich die Hauptfigur, „DIE MIT DER PRINGELS DOSE“ zur Behandlung ihrer Essstörung und Depression aufhält, tritt selbst als Figur, als „INSTITUTION“ auf. Und obwohl „DIE MIT DER PRINGELS DOSE“ in der Haltung der Erzählerin des Textes auftritt und auch über ein Vorwissen verfügt, aus der Vergangenheit erzählt, wird sie doch immer wieder in die akuten Szenen gedrängt, eingerahmt vom Chor, aus dem wiederum immer wieder einzelne Stimmen hervortreten, angetrieben von der Institution, besungen von den katholischen Liedern, die den Text und, man könnte meinen, das Mark der Figuren, durchdringen. Auf einmal singen alle, unisono, creepy. „Extra Zero“ ist eine einfühlsame Recherche, ein komplexes Gebilde, ein aufwühlender Erlebnisbericht, und auch dieser Text operiert mit epischen Elementen, die jedoch durch ihre szenische Anlage klar in der dramatischen Form verbleiben.

Und dann ist da Sarah Kilter. Sie studierte ebenfalls Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. (Diese Formulierung wird sich hier wieder­holen, was natürlich mit der Auswahl für diesen Text, aber auch mit dem Ausbildungssystem zu tun hat. Die Ausbildung ist institutionalisiert, die Netzwerke sind geknüpft.) Ihr Text „White Passing“ war eines der Gewinnerstücke bei den Berliner Autor:innentheatertagen 2021, wurde von ­Thirza Bruncken am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt und ist nun immer noch im Repertoire des Schauspiel Leipzig. 2022 war sie mit demselben Text für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert und wurde von Theater heute zur Nachwuchsdramatikerin gewählt. Von ihr liegen drei Dramen vor. Da ist „Daddy“ (zusammen mit Lars Werner), eine Dystopie im Jahre 2035, nach der Klimakatastrophe, ein Abgesang an die Heilsversprechen durch Familie, Heim und Vaterfigur. Daddy ist hier schon metaabwesend, ist nur noch als Chatbot präsent, agiert nicht als aktiver Akteur, sondern als distanzierte Instanz. Eine Anlage an die Figurenkonstellation, die fast so deprimierend wie trügerisch ist. So trügerisch wie das verhandelte Versprechen der Erlösung aus der Krise durch Innovationen, wie sie die Neoliberalen der Jetztzeit propagieren. Es ist eigentlich ein Wunder, dass dieses Endzeitdrama, in dem Berlin zum Luftkurort geworden ist, noch auf seine Uraufführung wartet. Eine derartig kluge Analyse und Prognose des Anthropozäns sowie der ideologischen Verwerfungen, der Versprechen der Wege aus und Umgänge mit der nahenden Klima­katastrophe ist gerade äußerst wichtig. Wenn Dramatik etwas kann, dann den Blick richten, Gegensätze offenlegen und Widersprüche hinterlassen, mit denen noch nichts gewonnen ist. (s. Stückabdruck TdZ 02/23). Neben dem vielprämierten und zu Recht gelobten Stück „White Passing“, der amüsanten Meta­reflexion über Repräsentation, Migration, Kunst und Konsum, liegt mit „Mädchenliegestütze“ ein weiteres meisterhaftes ­Metastück vor, das zwar als Hörspielversion beim Deutschlandfunk zu hören ist, aber auch noch auf seine Uraufführung wartet. Sarah Kilter schafft es hier, das Schreiben selbst auszustellen. Das hat einen Auftritt auf der Bühne verdient.

Auch Selma Matter studiert an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben. Das Stück „Grelle Tage“ wurde 2022 mit dem Hans-Gratzer-Preis ausgezeichnet und im Januar 2023 am Schauspielhaus Wien von Charlotte Lorenz urauf­geführt. „Grelle Tage“ ist ein auf formaler, kompositorischer und inhaltlicher Ebene avantgardistischer Text. Wirklich ein großer Wurf, ein Abriss des Anthropozäns, der Lücken durch die Zeit, durch die Welt und durch den Text aufmacht und Verbindungen herstellt, wo wir Brüche fürchten sollten. Matter wagt eine Prognose der nahenden Ano­malien der Klimakatastrophe, sie werden hier zur akzeptierten Realität. Nur „Jo“, ein menschliche:r Jugendliche:r wacht noch über den ausgetrockneten See in Brandenburg, nimmt wahr, wie das Wasser in den Boden sickert, während parallel dazu in Sibirien ganze Städte in den Boden sacken und parallel dazu das Matterhorn in der Schweiz zusammenfällt. Als der „ZERFLEDDERTE HUND“ auftaucht beginnt eine Reise durch die Risse die sich immer weiter, immer breiter durch die Welt ziehen. Sie reisen durch die Welt, der Hund durch die Zeit, versuchen mit Kiessplittern aus dem Baumarkt das Loch im Matterhorn zu stopfen, während gleichzeitig in Sibirien die aus dem Eis freigeschmolzenen Mammutleichen geplündert werden für faires Elfenbein. In einem Roadmovie through late capitalism geht es durch die Gleich­zeitigkeit der Ereignisse und der Sprache, bis zum Schluss alles, wirklich alles nebeneinander liegt. Ein Text, der herausragt.

Neue Welten

Matter schreibt seit 2020 mit Marie Lucienne Verse, die am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert. Zusammen bilden die beiden das Autor:innenduo Matter*Verse. Im Rahmen des Thomas-Bernhard-Stipendiums entstand das Stück „Alice verschwindet“, das 2022 dann im Landestheater Linz von Valerie Voigt-­Firon uraufgeführt wurde. „Alice verschwindet“ ist die Suche dreier Töchter nach der verschwundenen Mutter, Alice ist verschwunden. Sie ist nicht mehr im Heim, zuhause war sie schon länger nicht mehr. Die Suche richtet sich in die Vergangenheit. Die Spuren versuchen die Töchter in ihren Erinnerungen zu finden. Aktuell und in der Gegenwart sind nur das Heim und die Schneiderin auf der Suche nach Alice. Von beiden dringen immer wieder Nachrichtenfragmente als Push-Benachrichtigung in den Text. Alice und die Schneiderin verbindet eine innige Liebe. Eine, in der immer geheim gehandelt, versteckt, aber die nie als geheim behandelt wurde. Dieses Geheimnis war offen. Und doch ergeben sich dort viele Geheimnisse, wo das große nun so offenliegt. Hätte diese Liebe anders sich entfalten können, wenn ... Die Fragen treiben den Text an und hinterlassen so viele Lücken, bis die Welt nicht mehr aus festen Dingen besteht. Eine Erzählung in einem eingängig eintönigen Ton, der eine Melodik entstehen lässt, die berührt.

Die Premiere des neuen Stücks „Alias Anastasius“ wird im März am Berliner Ensemble stattfinden.

Ivana Sokola, studierte ebenfalls an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben. Für ihr Stück „Kill Baby“ erhielt sie 2021 den Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker. 2022 bekam sie für „Pirsch“ den Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts.

„Kill Baby“ wurde 2021 im Nationaltheater Mannheim unter der Regie von Sapir Heller uraufgeführt. Auch dieses Stück ist eine Erzählung, nachdem das Handlungstreibende schon passiert ist. Kitti ist siebzehn und schwanger. Sie wohnt in einem Hochhaus, zusammen mit zwei Generationen, ihrer Mutter Viki und ihrer Großmutter Sugar. Die beiden wissen, was das Leben bereithält, aber auch, was es einem vorenthalten kann. Dieser Text ist eine klassenkämpferische Auflehnung, die Entscheidung einer jungen Frau gegen oder für das Baby, gegen oder für dieses Leben oder dieses oder dieses. Sokola schenkt ihren Figuren eine souveräne Sprache, ein Selbstbewusstsein und einen poetischen Ton, der zu Poetik des Textes wird, bei aller dringlichen und ungeschönten, notwendigen Härte. Eine außerordentliche Leistung und eine Beschreibung der Verfahrensweise, die sich ebenso gut auf ihr zweites Stück anwenden lässt. „Pirsch“, 2023 am Deutschen Theater Göttingen von Christina Gegenbauer uraufgeführt, ist ein Text über das Verschweigen, über den Missbrauch von Macht, über sexualisierten Übergriff, über Rache. Die Sprache ist brutal und kompromisslos. In einer ungeheurem poetischen Gnadenlosigkeit geht die Protagonistin auf die Hetzjagd und durchforstet die Dorfgesellschaft, macht keinen Halt vor der staatlichen Gewalt, die, wie auf dem Land üblich, eher mit Personen aus der Gemeinschaft zusammenfällt. Die Geschichte ist komplex gebaut, zu komplex für moralische Schlüsse und einen eindeutigen Schluss (s. auch die Kritik auf tdz.de)

Sokola bildet mit Jona Spreter, der auch an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben studierte, das Autor:innenduo Sokola//Spreter. Zusammen entstanden bisher drei Stücke. „Tierversuch“ ist ein radikaler Text über bedingungslose Beziehungen unter den Bedingungen der Methodik und Sprache der Wissenschaft, die konfrontiert werden mit sanfteren Sprachen der Liebe. Ein Ringen um Erkenntnis, eine Geschichte einer Versuchsanordnung, die kein Glück zulässt, aber Befriedigung verspricht. Mit „Polar“ gewannen die beiden den Nachwuchswettbewerb „Einfach Radikal“ am Theater Drachengasse in Wien, im Januar 2023 fand dort die Uraufführung in der Regie von Pablo Lawall statt. Ein philosophischer Exkurs, die Geschichte eines Gefängnisausbruchs und der Suche nach Erlösung, Freiheit, Bedeutung im existenziellen Whiteout. Radikal, rücksichtslos und voller Weitsicht. Im Mai wird „Farn Farn Away“ am Theater Münster von Tobias Dömer uraufgeführt werden. Ein Stück, das so weit in die Zukunft des Zusammenlebens mit künstlichen Intelligenzen schaut, dass es nach der Veröffentlichung von ChatGPT nicht aktueller sein kann.

Was diese neuen Dramatiker:innen eint, ist der Drang danach, etwas zu erzählen, neu zu erzählen, mitunter alte Geschichten, allgemeingültige, aber es sind neue Welten die sich in diesen abbilden, manifestieren oder erahnen lassen. Näher an die Realität rücken diese Texte damit allemal.

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