Auftritt
Leipzig: Die Erinnyen kreisen
Schauspiel Leipzig: „vendetta vendetta (a bunch of opfersongs)“ von Thomas Köck (UA). Regie Thomas Köck, Bühne Martin Miotk
von Lara Wenzel
Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Sachsen Schauspiel Leipzig

Eine Frauenleiche begründete die Römische Republik, erzählen die schreitenden Rachepriester. Nachdem die sittliche Lucretia vom Tyrannen Tarquinius vergewaltigt wurde, wählte sie den Selbstmord, obwohl Vater und Ehemann die Schuld ganz dem Täter gaben. Die geschändete Frau, die doch ohne Schande ist, wählte den Tod, gegen den Rechtsspruch des Pater familias. Ihr Opfer soll den Übertritt von der Tyrannenherrschaft in die rechtsstaatliche Republik markieren. So beginne die Geschichte der Blutrache mit ihrem Ende und wiederholt sich dennoch ständig. „Die sollen sich mal einen anderen Körper suchen, den sie rächen können“, meinen die Spielenden. Auch Maries Tod durch Woyzecks Hand steht in derselben blutigen Reihe, wie Talisa und Catelyn Starks Ende, die der Red Wedding in „Game of Thrones“ zum Opfer fallen. Amal Keller, Dirk Lange und Denis Petković steigen in grünen Samtroben über die Treppen, die an Rafaels Schule der Athener Philosophen erinnern, und rekapitulieren die rachsüchtige Historie. Ihre Überlegungen kreisen nebeneinander, ohne sich gegenseitig voranzutreiben. Die elliptischen, wiederkehrenden Sätze scheinen wie der beschriebene Mechanismus kein Ende zu nehmen.
In der ersten Regiearbeit des Autors Thomas Köck steht ein Chor Leipziger Sängerinnen den drei Ensemblemitgliedern gegenüber. Sein diskursiver Text „vendetta vendetta (a bunch of opfersongs)“ reflektiert über kollektive Rache und individuelle Wut, die Revanche der Natur und der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Die singende Menge bildet den Gegenpart zu den vereinzelten Darstellerinnen und Darstellern. In schwarzen, barocken Kleidern, royalen Kopfbedeckungen und ausgestattet mit einem Maschinengewehr-Gehstock stellt sich die Gruppe im Bühnenbild von Martin Miotk, hinter der eine antike Kulisse nach oben und unten gezogen wird, auf, um die musikalischen Collagen von Andreas Spechtl erklingen zu lassen. Opernzeilen wie „Der Rache Hölle brennt in meinem Herzen“ schlagen um in einen diffusen Sprechchor, der zur Projektionsfläche für die Wutbürger-Kollektive der letzten Jahre wird. Ob als rasender Mob, der das Kapitol stürmt, oder Netzwerk rassistischer Einzeltäter, die Rächenden von heute kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Aber wo ist dieses oft beschworene Zentrum? Köcks bedeutungsschwangerer Text versucht, sich dem ideologischen Phantasma anzunähern und verknüpft es mit dem heute der Rache anhaftenden Ohnmachtsgefühl.
Während die emotional getriebene Revanche als irrationale Bedrohung dem modernen Rechtsstaat gegenübergestellt sei, nahm sie in mythischen Zeiten auf der Schwelle zur festgeschriebenen Gerichtsbarkeit eben jene Funktion der Strafe und Sühne ein. Im antiken Theater ist dieser Übergang in einer unendlichen Schleife gefangen. Der Tod des antiken Heros bleibt ein ambivalentes Opfer, das sich auf keine Seite schlagen lässt und als einmaliges wiederholt werden muss. Es ist „[e]in letztes im Sinne des Sühnopfers, das Göttern, die ein altes Recht behüten, fällt; ein erstes im Sinn der stellvertretenden Handlung, in welcher neue Inhalte des Volkslebens sich ankündigen“, beschrieb es Walter Benjamin im „Ursprung des deutschen Trauerspiels“. Im Schauspiel Leipzig wird das auf der Bühne nicht enden wollende „Herumlaufen um den Altar“ zum komisch übersteigernden Todesreigen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler stürzen sich vom Podest hinab, um den Opferwahnsinn zu Ende zu führen, nur um wiederaufzuerstehen und laut schreiend abermals Suizid zu begehen.
Statisch und diskursiv nimmt sich die Inszenierung der Vendetta als gesellschaftliches Paradigma an. Die Gedanken bleiben bruchstückhaft, wie die eingespielten Bilder und Referenzen, die selten weiterverfolgt werden. Ein Ende der Rache verspricht der Abend nicht, doch zeichnet sich sein qualitativer Umschlag ab. Befreit vom Schicksalhaften des tragischen Helden sind die Rächer, Internettrolle und Tempelritter unserer Tage zwar vereinzelte Individuen, aber verstehen sich zu organisieren. //