Theater der Zeit

Abschied

Ich werde nicht besetzt, weil ich ein netter Kerl bin

Zum Tod von Peter Radtke – Schauspieler und Aktivist avant la lettre

von Gerd Hartmann

Erschienen in: Theater der Zeit: Das Lachen der Medusa – Feminismus Theater Performance u. a. mit Barbara Vinken (01/2021)

Assoziationen: Akteure Schauspielhaus Zürich Burgtheater Wien

Foto: Sabine Eckert
Begriff Behinderung nicht als Leiden, sondern als Bestandteil seines Seins – Peter Radtke (1943–2020)Foto: Sabine Eckert

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„Brigitte Bardot wurde nicht wegen ihrer Intelligenz besetzt, sondern wegen anderer Qualitäten. Und auch ich werde nicht besetzt, weil ich ein netter Kerl bin, sondern wegen meiner Körperlichkeit. Damit muss ich leben.“ Klingt in Zeiten hoher Sprachsensibilität ein bisschen anrüchig. Aber die Aussage stammt von Peter Radtke. 1943 mit Glas­knochenkrankheit geboren, Schauspieler, ­Regisseur, Autor, Rollstuhlfahrer, Aktivist zu Zeiten, als es das Wort noch gar nicht gab. Da kriegen die Sätze eine andere Dimension. 1995 diktierte er sie mir in den Block. Ich habe sie später oft zitiert – als Theatermacher beim inklusiven Berliner Theater Thikwa, wenn Publikumsdiskussionen mal wieder in ­mitfühlend nivellierende Groß­umarmungen mündeten mit dem Tenor, dass wir doch alle ein bisschen behindert seien.

Peter Radtke war nicht provokativ, er war klar. Was manchmal dasselbe sein kann. Er lebte Selbstbestimmung vor, als Menschen mit Behinderung außerhalb der TV-­Lotterieshows der ­„Aktion Sorgenkind“ (so hieß die „Aktion Mensch“ noch bis ins Jahr 2000) im öffent­lichen Leben nicht vorkamen. Nicht als ernst zu nehmende Diskurspartner und noch viel weniger als Künst­lerinnen und Künstler. Peter Radtke hat beides geändert. Kämpferisch und beharrlich. Er studierte Romanistik und Germanistik, beileibe keine Selbstverständlichkeit für einen schwerbehinderten Menschen in den 1970ern. Immer unterstützt von seinen Eltern – der Vater Schauspieler, die Mutter Krankenschwester. Das hat er immer wieder erzählt. Sie gaben ihm wohl sein Selbstvertrauen mit. Und sein Selbstbewusstsein, auf einer Bühne zu (be-)stehen. Gleich in seiner ersten Arbeitsstelle, als er für die Münchner Volkshochschule ein Behindertenprogramm aufbauen sollte, installierte er einen Theaterkurs, an dem er selbst teilnahm. Das Ergebnis war das Stück „Licht am Ende des Tunnels“, in dem wohl zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte reale Menschen mit Behinderung auf einer staatlichen Bühne standen, im kleinen Theater der Jugend in München zwar und wenig beachtet, aber immerhin. Program­matisch souverän, schon im Namen, ­danach das Münchner Crüppel Cabaret: ­Radtkes ­erstes Theaterstück Nachricht vom Grottenolm, das ­exemplarisch einen Tag im Leben eines ­Rollstuhlfahrers beschreibt, ­erregte 1981 im Jahr der Behinderten wohlwollende Aufmerksamkeit.

Vier Jahre später dann keine Spur mehr von Wohlwollen: George Tabori hatte es in ­seiner „Medea“-Version an den Münchner Kammerspielen gewagt, die Rolle eines behinderten Kindes einzubauen und sie mit Radtke zu besetzen. In einer Szene ­beschreibt er eine umgekehrte Welt: Was wäre, wenn die „Krüppel“ normal wären und die Nichtbehinderten die Exoten? Mit Fingern würde man auf sie zeigen, weil der Zufall sie ausgespart hätte. Die Nichtbehinderten würden sich vor Scham verkriechen.

Ein faustdicker Skandal! Die Feuilletons schäumten pseudo-­beschützend über die angebliche „Ausbeutung eines behinderten Menschen“ und gingen der Frage nach, ob es legitim sei, im ­Theater – einem Medium, das per definitionem das So-tun-als- ob zum Gegenstand habe – je­manden auf die Bühne stellen ­dürfe, der wirklich ist, was er verkörpert. „Freakshow“ und „Ge­schmack­losigkeit“ waren noch die harmloseren Kommentare. Großkritiker Gerhard Stadelmaier resümierte: „Theater darf vieles. Das darf es nicht.“

Darf es schon! Der Schritt in die Sichtbarkeit war gemacht. Die Debatten um die Gleichberech­tigung von Schein und Sein im Theater blieben noch für mehr als eine De­kade, später kam noch die Diskussion über die „Kunst­fähigkeit“ von Künstlerinnen und Künstlern mit geistiger Behin­derung dazu. ­Peter Radtke war die ersten Jahre der ebenso nüchterne wie beharrliche Protagonist. Mit ­seiner „Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien“ stellte er Öffentlichkeit her, forderte die Schaffung von Aus­bildungsmöglichkeiten für behinderte Künstlerinnen und Künstler.

Radtke begriff Behinderung nicht als Leiden, sondern als Bestandteil seines Seins. Deshalb ist es wohl zwangsläufig, dass er Theater wieder zu einem Ort der Katharsis machen wollte, weg von der bequemen Kulinarik, die nicht mehr bewegt. Theater sei ein Medium der Sichtbarmachung, hat er mir damals freundlich und bestimmt gesagt, und behinderte Menschen auf der Bühne machten auf gesellschaftliche Defizite aufmerksam. Er tat das mit Vorträgen und als Mitglied im Nationalen Ethikrat, mit Theaterstücken und in Rollen. Zum Beispiel als motziges Energiebündel im „Bericht für eine Akademie“ über die Menschwerdung schwadronierend oder als absurd autoritärer Hauptmann im „Woyzeck“. Im Wiener Burgtheater oder am Schauspielhaus Zürich, immer in etablierten Häusern. Mit der freien Szene fremdelte er, da sah er die Gefahr einer wirkungslosen Subkultur, das war nicht seine ­Generation.

Vieles, wofür er kämpfte, gehört heute zum Mainstream-Diskurs. Gut so! Inklusion ist immer noch eine Riesenbaustelle. Peter Radtke war einer der Ersten, der sie aufmachte. Jetzt ist er mit 77 Jahren gestorben. //

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