DISKURSE DER AKTEURE ZUM THEATER DER REGION
Kraftwerk der Zivilgesellschaft
Henning Fülle im Gespräch mit Reinhard Simon und André Nicke von den Uckermärkischen Bühnen Schwedt
von Reinhard Simon, Henning Fülle und André Nicke
Erschienen in: Recherchen 146: Theater in der Provinz – Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm (05/2019)
Assoziationen: Brandenburg Uckermärkische Bühnen Schwedt
Eine Stadt am äußersten östlichen Rand der Republik an der Oder-Grenze, die von ihrem historischen Bezugspunkt – der Großstadt Stettin, heute Szczecin in Polen – seit dem Zweiten Weltkrieg abgeschnitten ist. Der nächste Autobahnanschluss ist mehr als dreißig Kilometer entfernt, die Regionalbahn, die die Stadt auch mit Berlin verbindet, endet hier. Bis 1788 war sie Residenzstadt der Markgrafen von Brandenburg-Schwedt, einer Nebenlinie der Hohenzollern, und gehörte zu Brandenburg-Preußen. Die Geschichte der Stadt und der uckermärkischen Region ist von der Aufklärung und religiösen Toleranz der märkischen Kurfürsten im 17. und 18. Jahrhundert geprägt: Die Ansiedlung von hugenottischen Glaubensflüchtlingen und die Etablierung des Tabakanbaus bildeten eine gewichtige Traditionslinie, auf die sich der scheidende Intendant Simon und sein Nachfolger Nicke explizit beziehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Randlage an der Oder-Neiße-Grenze im Zuge der Industriepolitik der DDR gewissermaßen „kompensiert“: Aus der Retorte wird ein bedeutsames Zentrum der Grundstoffindustrie, das Petrolchemische Kombinat (PCK) aus dem Boden gestampft. Bis auf über 50 000 wuchs damit explosionsartig die Zahl der Einwohner, die nach dem Krieg bei etwa 6000 gelegen hatte.
Der massenhaften Ansiedlung von Industriearbeitern folgte der Ausbau der kulturellen Infrastruktur einigermaßen erratisch: Anfang der 1970er Jahre wurde mit der Projektierung jenes Kulturhauses auf der nach der Sprengung der Schlossruine verbliebenen Brache begonnen, das heute die Uckermärkischen Bühnen (ubs) beherbergt. Wie in anderen neuen Industriezentren auch setzten die örtlichen Autoritäten dieses Projekt gegen die Absichten der zentralen Staatsführung durch, die sich in jenen Jahren auf die Errichtung des Berliner Palastes der Republik konzentrierte. 1972 also quasi als „Schwarzbau“ begonnen1, wurde der Komplex im Oktober 1978 eingeweiht: ein großer Saal mit knapp 800 Plätzen, ein Kleines Haus für bis zu 140 Besucher sowie ein umfangreiches Raumprogramm für das in der DDR gepflegte „Zirkelwesen“ der Volkskultur und -bildung2.
In dieses Haus wurde mit der Eröffnung das bis dahin in Prenzlau bestehende Ensemble als Theater der Stadt Schwedt verpflanzt – was zu einem stetigen und lähmenden Konfliktfeld zwischen der Kulturhausmannschaft und dem im Intimen Theater ansässigen Theaterensemble führte, das als eigene Organisationseinheit und mit dem Anspruch und Auftrag eines Stadttheaters betrieben wurde. Erst nach dem Ende der DDR wurden diese „Doppelherrschaft“ und die damit verbundenen heftigen Konkurrenzkämpfe um Aufmerksamkeit und finanzielle sowie technische Ressourcen nach hartnäckiger Überzeugungsarbeit durch Reinhard Simon überwunden, der sich in der Wendezeit mit dem Konzept der Vereinigung der beiden Häuser zu den Uckermärkischen Bühnen durchsetzen konnte.3
Simon, in Rostock ausgebildet, der das Haus in den 1980er Jahren als Schauspieler kennengelernt hatte, wurde zunächst – noch von der SED-Bezirksleitung, wie er berichtet4 – die Leitung des Theaters angeboten. Aber er setzte sich schon beim Runden Tisch der Übergangszeit für die Fusion des Theaters mit dem Kulturhaus ein. Diese wurde dann am 18. Oktober 1990 von der seit dem Frühsommer 1990 bestehenden neuen Stadtverwaltung – am 6. Mai 1990 hatten in der Noch-DDR Kommunalwahlen stattgefunden – beschlossen.
Im Gespräch mit ihm und seinem designierten Nachfolger, André Nicke, der seit 2013 Schauspieldirektor des Hauses ist, wird rasch deutlich, dass aus der Selbstbeauftragung zur Verknüpfung der historischen und kulturellen Traditionslinien mit der Annahme der spezifischen gesellschaftspolitischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen der Stadt und der Region eine Konzeption entstanden ist, für die die Abwertung als „provinziell“ nur als ein denkfaules Missverständnis zu betrachten ist.
Ja zur Provinz!
Henning Fülle: Wie mutet das für Sie an, als „Theater in der Provinz“ angesprochen zu werden?
Reinhard Simon: Das ist vollkommen richtig so. Es kommt ja immer darauf an, von welcher Seite man das sieht. Provinz wird häufig abwertend gebraucht, „ganz weit draußen“. Stimmt auch: Das sind Randgebiete und zwar Randgebiete mit ihren Besonderheiten. Wir selbst leben in einer stark industriell geprägten Region mit dem ehemaligen Petrolchemischen Kombinat (PCK), das bestimmt, ob in Berlin ein Flugzeug abhebt, weil hier das gesamte Flugbenzin hergestellt wird, das in Berlin gebraucht wird. Deshalb existieren wir überhaupt als Theater, wegen dieser industriellen Prägung mit dem PCK und zwei Papierfabriken.
Daneben ist die Gegend hier – die Uckermark – sehr stark ländlich geprägt, kuppige Endmoräne, viel Landschaft, wenig Leute und deshalb sind wir, die wir hier leben und arbeiten, darauf angewiesen, von außen Leute ranzuschaffen. Das betrifft nicht nur uns, im Sinne von Theaterzuschauern, sondern das gesamte Fachkräftepotenzial. Wenn man sich für die Provinz entscheidet, muss man mit der Provinz leben. Wenn man sich darauf einlässt und die Leute versteht und mit ihnen arbeitet – wir arbeiten mit ganz vielen, die hier wohnen und leben –, dann macht Provinz Spaß.
Uckermärkische Bühnen Schwedt. Foto: Henning Fülle
Was heißt das konkret?
RS: Wir haben ein brachliegendes Kulturhaus und ein brachliegendes Theater genommen und daraus die Uckermärkischen Bühnen gemacht, wo ja schon im Namen das Bekenntnis zur Provinz steckt. Es war eine klare Entscheidung, hier für die Provinz etwas zu tun – es gab ja noch nicht einmal den Landkreis Uckermark –, indem wir die Uckermark in unseren Namen mit aufnehmen.
Und wer ist „wir“?
RS: Das ist mein Team gewesen. Dabei war der Start ganz schwierig, z. B. Schauspieler aus der DDR zu bekommen. Denn die wollten alle in den Westen. Wir sind dann in die (West-)Berliner Hochschule der Künste gegangen und haben mit denjenigen, die nicht in den Westen sind, das erste deutsche pari-pari (Ost-West-)Ensemble aufgebaut, ohne dass dahinter eine richtige Absicht bestand. Das hat erstmal viele Reibereien gegeben, weil die Worte im Osten und Westen nicht das gleiche bedeuten. Das haben wir zwei Jahre lang gelernt und dann trennte sich die Spreu vom Weizen. So entstand eine neue Truppe. Dann sind wir weitergegangen, über die Uckermark hinaus, Polen kam dazu, und wir haben angefangen, uns hier einzunisten. Die Leute vor Ort haben wir gefragt: Was haben wir gemeinsam? Da sind wir sehr schnell auf die Musik gekommen als Grenze und Barrieren überschreitendes Element.
Woher kommt das Motiv dafür?
RS: Meine Haltung hat etwas damit zu tun, dass ich diese Arbeit als Familienbetrieb betrachte, was wir auch so aufrechterhalten haben. Über alle Querelen hinweg. Es ist ein Haus, an dem man sich grundsätzlich wohlfühlen kann – natürlich auch streiten kann –, aber immer als Familie. Man muss sich auch um die Sorgen außerhalb des Berufs kümmern, unbedingt auch eine Kantine haben, am besten eine Raucherkantine … Also Kommunikationsfreude und Menschen zusammenführen – das ist mein Motiv gewesen.
Sie haben gar nicht vom Theater und der Kunst gesprochen.
RS: Das ist natürlich mein Mittel.
Eher ein Medium?
RS: Ja, ich würde es eher als Medium sehen. Ich liebe das Ensemble und bin auch Verfechter des Stadttheaters, das hier aber auch die Aufgabe hat, mit Laien zusammenzuarbeiten, semi-professionellen Leuten, die wir seit vielen Jahren unterstützen. Wir haben hier seit 25 Jahren Schultheater. Das hat klein angefangen; inzwischen ist es ein Riesenunternehmen geworden und reicht bis nach Berlin, Polen … Will man in der Provinz Theater machen, braucht man viele Leute und dazu gehören nicht nur Professionelle. Letzten Endes haben wir sowas wie Bürgertheater.
Sie haben also eine Bürgerbühne am Haus? Ist das eine eigene Sparte?
RS: Nein, die sind sehr selbstständig, haben einen Verein gegründet und wir haben einen Vertrag mit diesem Verein, in dem wir uns verpflichten, sie zu unterstützen, regiemäßig, textbuchmäßig usw. Eine gewisse Selbstständigkeit sollte erhalten bleiben und ich mache schon Unterschiede zwischen professioneller Kunst und Hobby von Laiendarstellern.
(André Nicke kommt dazu.)
Versorgung der Region
Sie haben mal gesagt, Stettin ist Ihnen näher als die Landeshauptstadt Potsdam. Hat sich das auch darin ausgedrückt, dass die ubs bei dem vom Land initiierten Zusammenschluss zwischen Potsdam, Brandenburg, Cottbus und Frankfurt/Oder zum Brandenburgischen Theaterverbund nicht dabei waren, nicht einmal als fünftes Rad am Wagen?
RS: Der Verbund war ja damals nur für Theater und Orchester, die „abgewickelt“ werden sollten. Unabhängig davon haben wir in Frankfurt gespielt, auch noch ein halbes Jahr später mit Restgeldern, im Verbund waren wir jedoch nicht. Jetzt sind wir dabei mit Bedingungen, die wir erkämpft haben.
Mit der Funktion als Landestheater?
RS: Landestheater ist noch eine andere Schiene. Das betreiben wir seit vier Jahren gemeinsam mit Senftenberg und wir konnten jetzt die Politik davon überzeugen, diese Landestheateraufgaben an uns zu übertragen. Dass wir das angestrebt haben, haben viele nicht verstanden, sondern haben gefragt: „Warum wollt ihr da jetzt rumfahren, warum wollt ihr euch das aufhalsen?“ Ich sehe das völlig anders! Wir sind auch im letzten Mai mit Freuden in den Verband der Landesbühnen eingetreten und haben auch gleich gesagt: „Wir richten die nächsten Landestheatertage aus.“ Wir sind da also gleich mit vollen Segeln reingerasselt, das aber auch ganz bewusst. Wir machen ja sowieso Abstecher und wenn man die besser disponieren kann, das finanziell geregelt wird und man Verträge mit Städten abschließt, wo man mit Sicherheit fünf Mal im Jahr spielen kann, dann können wir viel besser planen. Mit den Städten sind wir schon ganz schön weit gekommen, aber das dauert noch drei, vier Jahre, bis Strukturen aufgebaut sind, die in den alten Bundesländern ja eigentlich selbstverständlich sind. Das ist der Hintergrund: politisches Bewusstsein von der Bedeutung eines Landestheaters als kulturelle Landesaufgabe.
André Nicke: Wir sind ja in einer demografisch schwierigen Region. Die Einwohnerdichte ist die geringste in Deutschland; und dann sind wir noch – jedenfalls sprachlich – abgeschnitten vom Hinterland, das ist ja Polen. Da muss man einfach überlegen, was man macht, um das Publikum auch auf der polnischen Seite zu erreichen.
Mussten Sie da Druck ausüben auf die Landespolitik?
RS: Druck ist da vielleicht zu freundlich ausgedrückt: Gekämpft haben wir!
Grenzüberschreitende Vernetzung
Bekommen Sie eine finanzielle Beteiligung aus Polen?
RS: Es sind EU-Fördermittel, die ausgeschüttet werden, in diesem Fall speziell für die deutsch-polnische Grenzregion. Auf polnischer Seite ist es in unserem Fall die Pomerania. Wir haben vor etlichen Jahren die Idee gehabt und die Partner gewonnen. Wir sind dann der Lead-Partner geworden. Um uns kompatibel für Gastspiele zu machen, haben wir eine anständige Summe bekommen – und bekommen sie immer noch, um unsere Theatermaschinerien auszubauen. Es geht dabei um eine Gesamtsumme von 2,6 Millionen Euro, die unter den Netzwerk-Partnern aufgeteilt wird.
AN: Mit der Hoffnung, dass man, wenn man Gastspiele austauscht, nicht immer mit den Vierzig-Tonnern vorfahren, sondern einfach nur einen Stick mitbringen muss. Wenn die Häuser das gleiche Lichtpult haben, die gleiche Tontechnik, ist das möglich.
Wie sind Sie hierhergekommen, Herr Nicke? Und jetzt sagen Sie mir nicht, Sie stammen von hier, sind hier geboren und aufgewachsen, Uckermärker mit Fleisch und Blut.
AN: Nein, aber trotzdem fühle ich mich als Teil der Community dieser Stadt. Die Stadt ist ja auch bunt zusammengewürfelt wegen ihrer Industriegeschichte. Und als Sachse fühle ich mich hier schon ganz gut verstanden und aufgehoben.
Sie sind Schauspieler?
AN: Ja, ausgebildet von 1987 bis 1991 an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Mehrere Jahre war ich Leiter des Stadttheaters Köpenick in Berlin. Nach Schwedt komme ich, weil man hier Theater machen kann! Vor dem Hintergrund, dass wir Landestheater werden, war es wiederum gut, dass ich davor vier Jahre in Detmold am Landestheater war, die größte Abstecherbühne in der Bundesrepublik, und ich die Strukturen richtig kennenlernen und durchschauen durfte – und musste. Mein Weg ist es jetzt Verhältnisse zu erreichen, dass die Schauspieler sich nicht zwischen Kühlschrank und Waschmaschine umziehen müssen.
Das ist also ein echter Kulturauftrag, in seinem kompletten Umfang.
AN: Das ist wirklich Dienstleistung in der Fläche vor Ort. Zugangsermöglichung für Kunst verschiedener Couleur und wir arbeiten ja nicht nur in Richtung Schauspiel! Das Haus hat sich unter Simons Leitung sehr musikalisch entwickelt, bis hin zur Aufführung ganzer Musicals. Perspektivisch denke ich für meine Intendanz darüber nach, dass wir, da wir jetzt zwei Landestheater haben, in Schwedt eine regelrechte zweite Sparte entwickeln könnten: Musiktheater für die ganzen Mittelzentren, die wir bespielen.
Das bringt mich zur Frage nach Ihrem Auftrag.
RS: Das sagt einem ja keiner. Wir sind schon der kulturelle Mittelpunkt hier in dieser Stadt, in dieser Region. Ein Ort der Begegnung, ein Ort der Auseinandersetzung, ein Ort des Vergnügens und auch ein politischer Ort, an dem Fragen des Alltags geklärt werden, die nicht nur was mit Theater zu tun haben.
Wie machen Sie das?
RS: Wir haben einigen Einfluss durch das, was wir anbieten, z. B. über diese ganze Schultheaterecke. Wir finden, dass Theater eine ganz wichtige Kommunikationsform ist, die unbedingt in die Schulen gehört. Man kann Konflikte viel besser lösen, wenn man Theater kennt und kann. Das ist was ganz Entscheidendes: spielerische Konfliktlösung. Deshalb haben wir auch einen Erziehungsauftrag. Deswegen diese ganzen Kontakte zu den Schulen, ein weit verzweigtes Netz, nicht nur in der Uckermark. Da haben wir beispielsweise eine Theaterpädagogin und jetzt, wo wir Landestheater werden, eine weitere. Also Gespräche, Kontakte zu Lehrern, Kontakte zu Gruppierungen, vom Seniorenheim bis hin zu Tourismusvereinen, wo wir überall Mitglied sind. Überall, wo Menschen eine Gruppe bilden, haben wir unseren Fuß mit drin. Es gibt nichts, worin wir uns nicht einmischen.
Ein Netzknoten der Zivilgesellschaft in der Region?
RS: Könnte man so sagen.
Wenn wir uns vorstellen, hier wäre jetzt Chemnitz – bieten Sie sich da an? Nach dem Motto: „Wir müssen reden!“?
RS: Ja. In der ersten Phase dieser ganzen Flüchtlings-Chaos-Zeit haben wir Angebote gemacht, z. B. junge Leute als Laiendarsteller im Kindermärchen mitwirken lassen. Wir sind in verschiedenen Gruppierungen tätig, wo es um konkrete Unterstützung geht bei den elementaren Bedürfnissen, Essen, Kleidung. Unsere Schneiderei wird jemanden ausbilden, der aus Afghanistan kommt. Das ist vielleicht ziemlich kleinteilig, aber unsere Mitarbeiter wirken da als Multiplikatoren.
Uckermärkische Bühnen Schwedt: Tamara. Foto: Udo Krause
Ziel: Zivilisation
AN: Das ist eine Möglichkeit. Es gibt ja auch ganz viele unterschiedliche Verständnisse, was Kunst soll und speziell Theater. Ich selbst setze da ganz auf die Langzeitwirkung. Friedrich Schorlemmer wurde mal gefragt: „Was ist dem Menschen näher, Faschismus oder Sozialismus?“ Und wie aus der Pistole geschossen, hat er gesagt: „Faschismus!“ Das hat mich erschüttert. Das heißt: An der Zivilisation müssen wir noch immer wieder arbeiten. Den Firnis der Zivilisation in jeder Generation neu auftragen. Da setzt für mich Theater an. Als ästhetische Alphabetisierung.
RS: Ich versuche das mal zu ergänzen und fange bei den Kindern an, mit dem Weihnachtsmärchen. Da sind wir einzigartig: Wir machen seit 15 Jahren unser Weihnachtsmärchen zweisprachig. Wir haben zum selben Zeitpunkt deutsche und polnische Figuren und eine „Zaubersprache“, das ist ein Erzähler, der eine Übersetzungsfunktion innehat. Inzwischen kommen jedes Jahr etwa 6000 polnische Kinder von etwa 16 000 Kindern insgesamt. Dazu noch die Eltern und Erzieher aus Polen. Ich habe der Industrie angeboten: „Passt auf, setzt doch da mal an. Wir haben doch Fachkräftemangel. Geht doch in die Kindergärten, kommt doch hierher, schon vom Kindergartenalter an, bis in die ersten Klassen, macht euch da sympathisch. Denn ihr werdet diese Lehrlinge brauchen. Ihr braucht polnische Jugendliche als Nachwuchs.“ Das ist aber ein langer Prozess. Im Moment hat das keiner noch so richtig aufgegriffen, aber wir arbeiten ganz zäh daran, dass sie das verstehen.
AN: Und wir kämpfen hier noch mehr um unser Publikum. Da kommt man dann auf die Idee, sich Verbündete zu suchen. Das aktuelle Klassenzimmerstück machen wir deutsch-polnisch, damit es nicht nur an deutsche Schulen geht. Wir haben in unserem Ensemble drei Darsteller, die entweder muttersprachlich Polnisch oder beide Sprachen akzentfrei sprechen. Im kommenden Jahr werden wir mit den Stadtwerken zusammenarbeiten, um gemeinsam über die Zukunft nachzudenken. Was ist möglich in Sachen grüner Energie? Damit erschließen wir auch unsere Ressourcen im Sinne von Sponsoring, damit ich mal eine andere Ausstattung auf Reisen schicken kann.
Die Frage habe ich die ganze Zeit auf der Zunge: Welche Rolle spielt dabei die Literatur, der Kanon des Theaters?
RS (ironisch): Machen wir überhaupt noch Theater?
AN: Was ist Kunst, was zählen wir alles dazu? Wir haben beide einen sehr ähnlichen Begriff von Theater und von Handwerk. Wo sich unsere Generationen vielleicht ein bisschen trennen, sind die ästhetischen Entwürfe, die da vorkommen dürfen. Und das sollte ja auch so sein. Das Angebot muss sich auch modifizieren. Man muss sich anders darstellen für die unterschiedlichen Zielgruppen. Für die Nachwachsenden, für die Zugezogenen, die es in den anderen Stadtgesellschaften zu aktivieren gilt, in den Mittelzentren, von denen ich vorhin sprach.
Immer wieder Aufbauarbeit
AN: Wir, die Theaterleute, entwickeln uns ja in unserer täglichen Arbeit immer weiter. Aber beim Zuschauer fangen wir, wenn er neu kommt, immer wieder von vorne an. Es ist immer wieder Aufbauarbeit. Und den überfordern wir total, wenn wir ihn mit unserem Verständnis, bei dem wir jetzt stehen, konfrontieren würden. Sowas gönnen wir uns vielleicht ein- oder zweimal pro Spielzeit. Und da gilt der schöne Satz von Benno Besson: „der hohe Preis bringt hohen Gewinn, freilich jenseits des Profits: Leben lernt man im Theater“. Den müsste man hier draußen ranschreiben.
Als wir in Memmingen waren, haben wir am Abend Theater gesehen, da ging es um eine Anstalt der Euthanasie in der Region während der Nazizeit; politische Regionalgeschichte, die dort in einem eher performativen als dramatischen Text aufgegriffen wurde. Spielen solche Themen wie das PCK oder das Militärgefängnis Schwedt eine Rolle für den Spielplan?
RS: Ja, das ist ja logisch. Wir haben das Bewusstsein geweckt, dass wir als Stadt so ein Kainsmal vor uns hertragen: Schwedt ist stinkende Chemie, der Militärknast und dann kommt lange nix. Einöde, keine Menschen. Dann haben wir uns selber mit diesem Knast beschäftigt, haben Opfer und Täter zusammengebracht, haben hier Lesungen gemacht, Begegnungen, und sind selbst im Knast gewesen. Inzwischen ist es soweit – das war ein unbeliebtes Thema für die Stadt, nicht besonders werbewirksam –, dass es eine Gedenkstätte gibt. Wir haben also den Anstoß gegeben und haben uns dann sachte zurückgezogen.
Das machen wir übrigens relativ oft: Anstoß geben – z. B. zur Hugenotteneinwanderung. Warum heißt unser Park Hugenotten-Park? Das hat etwas damit zu tun, dass mit dem Edikt des Großen Kurfürsten vor 368 Jahren Hugenotten angesiedelt wurden. Deshalb haben wir diesen Park hier „Europäischen Hugenotten-Park“ genannt – wegen der Ansiedlung von Glaubensflüchtlingen und der Notwendigkeit, Fachkräfte herzuholen. Das ist also schon ein ganz altes Thema bei uns, gegen das es auch Widerstand gegeben hat. Das ist so einer unserer politischen Aufträge.
AN: Und wir wissen daher auch, dass so eine Integration hundert Jahre dauern kann. Auch das muss man wieder deutlich machen. Es gab ja auch ein Hoftheater in Schwedt. Und es gab in Deutschland fünf Trauerfeiern zum Tode Lessings – eine davon war in Schwedt. Soviel zur Provinz hier. Das sind die Traditionslinien, in die wir uns natürlich auch gerne mal stellen.
RS: Aber wir überprüfen unsere Programmatik auch immer wieder, um sie kompatibel mit den Schulen zu machen. Wir würden nichts machen in dieser Hinsicht, bei dem wir nicht wüssten, der Lehrer steht dahinter. Der Schüler kauft sich doch nicht die Karte und wenn er das nicht im Unterricht hat, geht er nicht ins Theater. Das ist eine Art leichter bürgerlicher Zwang. Beim Märchen hat der Erziehungsprozess schon Früchte getragen: Wir verkaufen unsere Märchenkarten zu einem Stichtag an die Schulen und dann gehen an einem Tag 12 000 Karten über den Ladentisch. Insgesamt kommen wir auf 16 000. Das sind 22 Vorstellungen à 800 und paar zerquetschte Plätze – und das muss man erstmal schaffen! Das ist unser Kernstück der Entwicklung für Kinder- und Jugendarbeit.
AN: Nächstes Jahr machen wir Theater im und Theater aus dem sozialen Raum, z. B. mit der Bürgerstiftung Barnim, zu der das Kanal-Theater in Eberswalde gehört. Das ist ein Doppelpass-Projekt (von der Bundeskulturstiftung gefördert). Dabei geht es darum, dass beide Seiten voneinander lernen. Und das merken wir jetzt schon: Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen, was vielleicht ein Stadttheater alles im Übermaß hätte. Wir sagen dann: „Lernt mal kennen, wie wir mit den Ressourcen haushalten müssen.“ Trotzdem ist es spannend, sich darauf einzulassen, auch auf den ästhetischen Entwurf, der uns erstmal staunen lässt.
RS: Das war jetzt auch mit dem Theater am Rand so. Dort herrschen völlig andere Strukturen. Das ist ein Annäherungsprozess, der auch nicht ganz reibungslos verläuft. Aber Theater ist sowieso Reibung.
AN: Mit Staunen und Lernen.
Kunstanspruch und Unterhaltungsangebot
Noch eine Frage zum Spielplan: Kunst und Unterhaltung. Wie verhält sich das bei Ihnen?
AN: Das Ideal wäre doch, „werteorientiertes“ und „erfolgsorientiertes“ Programm unter einen Hut zu kriegen. Trotzdem haben wir ein paar Zahlen, die wir erfüllen wollen und müssen. Also schielt man natürlich auch in den Bereich der Unterhaltung.
Wieso „schielt“ man da? Ist das vielleicht doch ein ganz klares Hinschauen?
AN: Stimmt, die Scham ist da fehl am Platz.
RS: Ich finde, die Frage ist ein bisschen komplexer, weil das negativ besetzt ist. Aber wenn uns das Thema passt, dann nehmen wir uns das, auch wenn es für uns erstmal nicht passgerecht ist.
Darf ich das kurz festhalten: Das Thema ist wichtiger als die Literatur?
RS: Das kann man so sagen. Dabei kann aber auch gute Literatur vorkommen.
Es gibt zu vielen Themen gute Texte …
RS: Die sind aber nicht in jedem Fall theatergeeignet oder für die Region geeignet. Unterhaltung gegen Ernsthaftigkeit zu stellen, ist für mich nicht fassbar. Ich kenne ja diese Diskussionen, ich habe ja nicht umsonst Theaterwissenschaft studiert. Aber ich finde, alles darf Unterhaltung sein! Wenn es allerdings nur um der Unterhaltung willen ist, dann ist es falsch. Man muss mit der Unterhaltung etwas mehr meinen. Es ist die Aufgabe des Theaters, die Leute zu unterhalten mit Dingen, die das Leben betreffen.
AN: Und jetzt holen wir gerade Cindy Reller her, der Aschenputtel-Stoff in der Version des Hamburger Schmidt Theaters als Schlagermusical.
RS: Ja, was ist das? Das ist einfach ein modernes Märchen.
AN: Aber als Parodie, das ist für mich Kunst. Wenn es nur der triviale Schlager wäre – aber in dem Moment, wo ich es parodiere, geht es durch einen Filter durch und wird trotzdem im höchsten Maße unterhaltend. Wenn jemand verändert rausgeht, ist es vielleicht schon Kunst. Deswegen sind wir ja auch so breit aufgestellt. Wir sind ja ein Haus mit drei Säulen: neben Theater auch Kulturhaus und Veranstaltungsort.
RS: Wir sind ja auch Messeveranstalter. Die Ausbildungsmesse haben wir hier seit 15 Jahren. Da sind wir wieder Begegnungsstätte, ein völlig anderer Bereich. Schüler, die sich informieren, und die Betriebe, die sich interessant machen, damit sie die Schüler als Lehrlinge hier behalten, damit sie nicht weggehen. Da sind wir auch ein Mittelpunkt. Und dann gibt es seit vielen Jahren eine deutsch-polnische Messe, die nennt sich INKONTAKT, eine Wirtschaftsmesse. Das hat die Unternehmensvereinigung viele Jahre gemacht und die Stadt wollte das beibehalten und hat uns gefragt, ob wir die ausrichten. Dafür haben wir auch eine Abteilung bei uns im Theater, die es sonst in gar keinem Theater gibt, unser Veranstaltungsmanagement. Die haben mit der Vermietung und dem Einkauf zu tun und auch mit Messen. Dadurch, dass wir das alles managen, hat es auch immer was mit uns zu tun. Auf diesem Weg verbindet sich der Messegedanke mit dem, was wir als Künstler können.
Provinz?
Es mag das Zusammentreffen der örtlichen Gegebenheiten sein und erscheint damit fast auch wie ein spätes Gelingen der besten kulturpolitischen Visionen des untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaates, das so vielleicht wegen der absurden Lage am äußersten Rand der Republik möglich wurde: das bestehende Kulturhaus nach dem Konzept der Kulturpolitik der DDR und das Stadttheater mit Ensemble und Repertoire im selben Haus auf historischem Grund, die der Intendant in den Wirren der Wendezeit entschlossen zusammengeführt und entwickelt hat. Was daraus entstanden ist, ist ein Theater als Ort der Begegnung, als Forum für die Menschen der Stadt und die Region und als Ort der Kunst, der Erbauung und der Selbstvergewisserung. Dieses Gelingen zeigt, dass das Verhältnis von „Metropole“, zu „Provinz“, der von ersterer beispielgebend vorgemacht wird, was „Kultur“ zu sein habe, ein Verhältnis von gestern ist.
1Bruck, Birgit: Ein Theaterwunder in der Provinz oder Im Osten geht die Sonne auf. 25 Jahre Uckermärkische Bühnen Schwedt, Schwedt/Oder 2015, S. 15f.
2Hain, Simone; Schroedter, Michael; Stroux, Stephan: Die Salons der Sozialisten. Kulturhäuser in der DDR, Berlin 1996.
3Vgl. Bruck, S. 22f.
4Ebd., S. 23.