Protagonisten
Der Komet
Andreas Kleinerts Film „Lieber Thomas“ erzählt das Leben von Thomas Brasch wie einen Fiebertraum in Schwarz-Weiß
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)

Der Film leistet sich den Luxus von gleich drei Anfängen, was im Grunde auch die Ansage ist, dass weniger bei diesem Leben nicht geht und auch zu einfach wäre. Im Vorspann sieht man den Dichter einen nackten Frauenkörper buchstäblich beschreiben: Die erotische Buchstabenskulptur lebt für den erregenden Zustand zwischen Liebe und Literatur. Dann wacht ein kleiner Junge im Bett seiner Eltern auf und geht raus auf die Straße, wo die Welt plötzlich menschenleer ist. Die Schriftstellerin Annett Gröschner hat in einer der ersten Rezensionen des Films zu Recht auf Jens Sigsgaards Kinderbuchklassiker „Paul allein auf der Welt“ aus dem Jahr 1942 hingewiesen, das wohl auch von Thomas Brasch gern gelesen und später immer wieder von ihm erinnert wurde. Und dann kommt noch der Anfang, der auch in der kürzesten Brasch-Biografie nie fehlt: Wie ihn sein Vater 1956 in die NVA-Kadettenanstalt bei Naumburg bringt, einer Hölle für sozialistische Kindersoldaten.
Der erste Anfang enthält auch die Überschriften für den dann nach Verszeilen gegliederten Film aus einem seiner bekanntesten Texte: „Was ich habe, will ich nicht verlieren, / aber wo ich bin, will ich nicht bleiben, / aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, / aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, / aber wo ich lebe, will ich nicht sterben, / aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: / Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ Diese Zeilen, die sich zu einem von Braschs Gedichten quasi als eine Selbstauskunft verselbständigt haben, stammen ursprünglich aus dem Performance-Text „Der Papiertiger“. Dieses noch in der DDR entstandene und heute vor allem dem Theater nicht mehr so bekannte Werk gehört eigentlich in die Gedenkbibliothek früher Post-Dramatik, gleich neben die ersten Stücke von Peter Handke.
Die drei Anfänge und sieben Zeilen bilden für den Regisseur Andreas Kleinert und Drehbuchautor Thomas Wendrich das Sprungbrett für ein in rasanten Episoden erzähltes Dichterleben, das von der Kadettenanstalt in mehreren markanten Umschlagpunkten bis an den einsamen Tod in der Wohnung überm Restaurant Ganymed neben dem Berliner Ensemble reicht. Da ist Thomas, für die letzte Szene von Peter Kremer mit verstörender physiognomischer Ähnlichkeit gespielt, tatsächlich wieder allein auf der Welt.
Der Film, der bewusst kein Biopic sein will, stürzt sich mit Albrecht Schuch als hinreißend fiebrigen Stürmer und Dränger zunächst in die Jahre des Studenten Brasch an der Filmhochschule Babelsberg, der nach der Flugblattaktion gegen den Einmarsch in Prag 1968 ins Gefängnis kommt und schließlich auf Bewährung in die Produktion geschickt wird. Als düsteres Bild der DDR voller glühendem Bohème-Leben nimmt der Film das Paradox von Thomas Brasch auf, dem das Land, das ihn verstieß, bitter fehlte. Der Knast wird nicht gezeigt, aber mit den Szenen in der Fabrik wird knapp erzählt, dass das Elend der Arbeiter wie auch der Zwang in der Kadettenanstalt durchaus vergleichbar sein könnte. Was sicher noch den Unmut einfach gestrickter Ostalgiker hervorrufen mag und zugleich auch das Werk der an diesen Stellen ganz besonders wirkenden Bilder der Kamera von Johann Feindt ist. Dazwischen Szenen in der Familie: Jörg Schüttauf als schon leicht gebrochener Funktionär Horst Brasch, der sich wohl zusammen mit der von Anja Schneider gespielten besorgten Mutter in ein kleines Neubaurefugium zurückziehen würde, wenn da dieser renitente Sohn nicht wäre, mit dem er nicht fertig wird.
Zu den grandiosen Ideen von Wendrich und Kleinert gehört zweifellos, dass einige dann doch Biopic-mäßige Szenen durch Traumsequenzen gekontert werden, in denen die Dämonen des Thomas Brasch Gestalt werden. Am erschütterndsten, wenn Thomas seinem Vater während der Vorführung seines ersten Films „Engel aus Eisen“ bei den Filmfestspielen in Cannes im Foyer begegnet und dieser ihm Vorhaltungen macht, mit dem Geld des „Klassenfeinds“ die westliche Unterhaltungsindustrie zu bedienen. „Wir sind da schon weiter“, provoziert er den exmatrikulierten Filmstudenten, der diese Traumangst-Erscheinung mit Gewalt verjagen muss. Später wird Brasch die Festnahme seines Helden Gladow aus „Engel aus Eisen“ visionieren, bei der die Brasch-Mutter dem jungen Meisterverbrecher die nachgeladenen Gewehre während der Belagerung durch die Polizei reicht. Das sind in Bilder gesetzte Komplexe der Innenwelt, eindringlich faszinierend.
Eine andere Szene wirkt auch wie ein Traum, ist aber verbürgt. Brasch erhält kurz vor der Ausreise noch eine Audienz bei Staatschef Honecker, ein letzter Versuch, die Veröffentlichung des Erzählbands „Vor den Vätern sterben die Söhne“ zu erbitten. Honecker, mit dem Vater-Darsteller Schüttauf doppelbesetzt und in der realen Geschichte Kampfgenosse des Horst Brasch in der frühen Zeit der FDJ, murmelt mit Blick auf den gerade eröffneten Palast der Republik draußen was von ‚unsere Menschen sind noch nicht reif dafür‘ – ein Schuss tief in die Geschichte.
Was nun erzählt der Film, dessen bewundernswerte Komplexität hier nicht weiter behandelt werden kann, von der Theatergeschichte im engeren Sinn? Da ist zum einen Jella Haase in ihrer bisher schönsten Rolle als Katharina Thalbach, der Gefährtin. Sie ist, nach der Ausreise, bei einer Probe für die Uraufführung von „Lovely Rita“ am West-Berliner Schillertheater zu sehen, in die der Theaterdichter als zorniger Ankläger des Regisseurs hineinplatzt. Man kann sich das so vorstellen mit dem damaligen Regisseur Nils-Peter Rudolph, der hier als schnöseliger Jung-Routinier gezeigt wird. Die Szene darf aber auch im weiteren Sinn für den Grundkonflikt zwischen Theaterautor und Theaterbetrieb verstanden werden, wobei im konkreten Fall natürlich die Ankunft von Thomas Brasch im westdeutschen Theater geradezu maliziös gezeigt wird und damit ein weiteres Konfliktfeld des Protagonisten in der für diesen Film typischen gedrängt ausschnitthaften Weise aufmacht. Da ist die erzählerische Filmkunst von Kleinert/Wendrich ganz auf ihrer Höhe. Der rasche Aufstieg Braschs mit seiner vielleicht bedeutendsten Uraufführung von „Rotter“, 1977 in Stuttgart, fehlt indes. Der Filmemacher gegen seine Dämonen wird weitaus kenntlicher gezeigt, an die nie versiegende Lyrik erinnern die Zwischentitel aus dem Anfangsgedicht.
Auch die Geschichte von Braschs Verblassen in der immer auf Hochdampf für Neuigkeiten laufenden West-Kultur will der Film gar nicht erst in den Griff nehmen. Gut, wie ein Theaterdichter an seinen Neuschaffungen von Tschechow und Shakespeare arbeitet, das ist schwer interessant ins Bild zu bringen. Aber für den Wandel Braschs vom chaotischen Kometen zum in der Kleinarbeit der Übersetzungen und dem schmerzvollen Ringen mit dem bis heute nicht vollständig veröffentlichten Brunke-Roman zu kommen, dafür hätte der ohnehin lange, aber mit 150 Minuten keine einzige Sekunde zu lange Film sicher noch ein Kapitel gebraucht, auch weil der Zeithintergrund ja immer mit gezeigt wird. Am Ende, nach der Wende: Thomas allein in der Welt. Tot, mit einem Loch im Herz. //