Theater der Zeit

thema ausbildung

Heterogenitätsorientierte Hörsaalbesetzung

Mit Anna Luise Kiss steht an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin endlich eine Frau an der Spitze der Institution – und auch sonst bewegt sich hier viel

von Lara Wenzel

Erschienen in: Theater der Zeit: Kleiner Mann, was nun? – Geschlechterbilder im Theater – Ein Jahresrückblick (12/2021)

Assoziationen: Sprechtheater

Anzeige

Anzeige

Zwischen Mythos und verknöcherter Institution: In den letzten siebzig Jahren hat sich die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ den Ruf aufgebaut, die Theater- und Filmgrößen von morgen auszubilden. 1905 gründete Max Reinhardt die Schauspielschule des Deutschen Theaters zu Berlin und legte damit den Grundstein für die spätere DDR-Institution. Nachdem der ästhetische Pionier 1933 aus Deutschland fliehen musste, übernahm erst Woldemar Runge, dann Heinz Dietrich Kenter die Leitung der Hochschule. Während der Zeit des Nationalsozialismus erhielt sie das zweifelhafte Prädikat, die „disziplinierteste, künstlerisch entwicklungsfähigste“ Ausbildungsstätte unter den deutschen Schauspielschulen zu sein, bis sie 1944 schließen musste.

Im September 1951 erhielt sie im Zuge ihrer Verstaatlichung in der DDR die Unabhängigkeit vom Deutschen Theater. Von diesem Gründungsmoment an verband man die Hochschule mit einer bestimmten Schauspieltradition, beruhend auf Konstantin Stanislawski und Bertolt Brecht. Dieser Ruf hat sich bis heute gehalten, hinke dem, was an der Hochschule passiert, aber hinterher, meint die neue Rektorin Anna Luise Kiss. Mit Beginn des Wintersemesters löste die Medienwissenschaftlerin den bisherigen Rektor Holger Zebu Kluth ab, der nur vier Jahre diese Stelle bekleidete. Neben ihren Engagements als Film- und Fernsehschauspielerin verfolgte Kiss eine akademische Karriere, studierte Kultur- und Medienwissenschaften an der Filmhochschule „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg und promovierte zur „Konstruktion von Laiendarstellerinnen und Laiendarstellern“ im Kinospielfilm. Bereits an der Filmhochschule übernahm die gerade vierzig Gewordene leitende Positionen in der Hochschulverwaltung, war unter anderem Vizepräsidentin für Forschung und Transfer sowie Gastprofessorin in der Lehre. Ihre Ernennung soll Zeichen einer Neuausrichtung der „Ernst Busch“ sein, ein symbolischer Erfolg, denn mit ihr übernimmt zum ersten Mal eine Frau das Amt. Aber das stimme nur halb, meint Kiss und lässt durchblicken, dass sie mit der Historie der Schule sehr vertraut ist.

Bereits im Mai 1953 bekleidete Sprecherzieherin Lore Espey die Rektorinnenstelle und verfolgte ein strenges Stanislawski-Programm. „Wir mussten monatelang Stecknadeln sortieren, Öfen heizen, Papier zerreißen, Hemden bügeln und anderes mehr. Alles mit vorgestelltem Gegenstand“, erinnert sich die Schauspielerin Christa Pasemann in dem von Klaus Völker zum 100. Geburtstag der „Ernst Busch“ herausgegebenen Buch. Kiss hingegen ist von ästhetischer Dogmatik weit entfernt. Sie sieht sich als Hochschulmanagerin, mit dem Auftrag, bestmögliche Rahmenbedingungen für die künstlerische Entfaltung zu schaffen. Der Ruf, dass die Hochschule verknöchert an einem Stil festhalte, werde den vielfältigen Impulsen von Lehrenden und Studierenden nicht gerecht. „Ich glaube, da ist eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Bild der ,Busch‘ und dem, was wirklich hier passiert“, konstatiert sie nach einer knappen Woche Amtszeit Anfang Oktober.

Auflösung von Wissenshegemonien

Die Kunst selbst müsse also nicht entstaubt werden. Was bereits da sei – von mimetischem Spiel über performative Installationen bis zu digitalen Formaten – solle durch heterogenitätsorientierte Lehre gehegt und ermutigt werden. Dieser pädagogische Ansatz, für den Kiss 2015 mit dem Lehrpreis des Landes Brandenburg ausgezeichnet wurde, setzt auf flache Hierarchien, niedrigschwellige Kommunikation und die Auflösung von Wissenshegemonien zwischen Studierenden und Lehrenden. „Gerade an künstlerischen Hochschulen sind Teamkonstellationen denkbar, in denen man sich bestimmten Thematiken und Interessensfeldern gemeinsam annähert und Lehrende nicht als Ausgelernte gedacht werden. ­Heterogenitätsorientiert heißt, wirklich sehr genau auf die Einzelnen einzugehen, und das ist in Kunsthochschulen möglich, weil wir hier oft kleine Studiengänge haben. Was bringen die Studierenden mit? Wo holt man sie ab? Wie kann man unterschiedliche Tempi ermöglichen?“

Doch auch diese Form der emanzipierten Lehre, die Kiss während ihrer Amtszeit etablieren möchte, kann nicht gänzlich verhindern, dass es zu gesellschaftlichen Exklusions­mechanismen kommt. Eine plurale Studierendenschaft stellt sich nicht von allein her. Hier müsse die Zugänglichkeit erhöht werden, betont Kiss und ergänzt, dass es die passenden antirassistischen und inklusiven Strategien im Laufe der nächsten Monate zu finden gelte. Genauso wichtig ist die Frage der sozialen Herkunft und des kulturellen Kapitals, von dem die Studierenden mal mehr, mal weniger im Gepäck haben. Zwar kann an der Hochschule ohne Abitur studiert werden, die Möglichkeit nutzen jedoch ­wenige. Der Frachter „Ernst Busch“ aber sei auf einem ­guten Weg, beschließt Kiss das Gespräch. „Gerade in den Küns­ten lieben wir komplizierte Geschichten, weil es ­keine einfachen Antworten gibt. Genauso wenig schwarz-weiß ist die Frage, wie wir uns weiterentwickeln.“

Umstürzlerische Töne hört man von der neu ­eingesetzten Rektorin nicht. Sie tritt auf als Vermittlerin zwischen Bestehendem und neuen Impulsen. Dabei betont sie, dass auf Lebenszeit vergebene Professuren keinesfalls im Konflikt mit der Auflösung hierarchisch organisierter Wissensvermittlung stehen müssen. Statt offen Brüche auszurufen, sucht Kiss ­Anknüpfungspunkte und Kontinuitäten, die Herrschaftsdisposi­tive an der Hochschule mit ihrer Offenheit für die Themen der Studierenden bereits infrage stellen.

Trotz dieses eher vermittelnden Ansatzes sehen auch die hfs_ultras, das derzeit wohl berühmteste Frauenkollektiv der Hochschule, in Kiss’ Antritt ein Symbol der Veränderung. Die sechs Regisseurinnen entstammen dem 2017er Regiejahrgang, der historisch zu nennen ist, setzte er sich doch erstmals ausschließlich aus sechs Frauen zusammen, die sich alsbald den ­Namen hfs_ultras gaben. Seitdem umweht das Kollektiv ein regelrechter wind of change, den es gleichzeitig kritisch beäugt. Der Name der Gruppe spielt auf eine abschätzige Aussage Frank ­Castorfs an, der in einem Interview erklärte, dass sich die Qualität von Frauenfußball zu Männerfußball deutlich unterscheide – vergleichbar wie in der Regie. Das Vorgehen der hfs_ultras ist eine Kampfansage gegen solcherart „machistische Mackerregisseure“, die bislang auch von der Logik der Hochschule herangezüchtet wurden. „Die Schule versucht, nach der Taktik divide et impera die Klassen zu spalten, um ein Genie herauszusieben, das dann ge­fördert wird. Darauf hatten wir keinen Bock“, erklären die hfs_ultras. Das zeitintensive Studium führe zu Konkurrenzkampf und Streit. Da der Hochschule Strategien fehlten, den Druck abzufangen, kris­tallisierten sich schnell Einzelkämpfer heraus, die auch unter großem Stress lieferten. Ihre Entscheidung zur gegenseitigen ­Hilfe bewahrte die hfs_ultras vor dieser Erfahrung.

Offene und vertrauensvolle Kommunikation hält das Kollektiv zusammen. In einem andauernden Prozess verhandeln und befragen sie ihre Arbeitsstrukturen. Dazu gehöre auch eine Lust, sich über das Studium hinaus mit den Kommilitoninnen auseinanderzusetzen.

Ruinen der Herrschafts­verhältnisse

Bei den 21. Internationalen Schillertagen am Natio­naltheater Mannheim gab das Kollektiv im Sommer 2021 Einblick in den Mythos hfs_ultras. Der gemeinsam entwickelte Kurzfilm „Jenseits von Eden“ lud zum Stammtisch in ihre Lieblingskneipe Broschek, wo zu Sekt und Toast Hawaii die ästhetischen Fragen unserer Zeit sowie halbgare Theaterideen diskutiert wurden. Neben diesem gemeinsamen Projekt entstanden für das Festival sechs weitere Filme, in denen sich jede der Ultras unter dem Titel „Geisterspiele“ einen Schillertext vorknöpfte. Ästhetisch divers, trafen sich die ­Produktionen in ihrem Interesse für starke, der Opferrolle enthobene Frauenfiguren. Sarah Claire Wray beispielsweise, die nach einem Architekturstudium und Erfahrungen als Regieassistentin an die „Ernst Busch“ kam, betrachtete „Kabale und Liebe“ aus queerer Perspektive. „Die Gefüge zerbrechen ­unter unseren Gesängen. Keine Zweifel, Luise“, spricht Friederike von Ostheim, die hier nicht als Heiratskandidatin Ferdinands auftritt, sondern als Geliebte Luises, welche in dieser Erzählung ­endlich einmal nicht sterben muss. In den Arbeiten reißen die Regisseurinnen die Schriftsteller- und Regiegenies mit ihren Gegenerzählungen vom Sockel. Alternative Narrative, die die 2017er Regieklasse, zu der ebenfalls Carolina de Araujo Cesconetto, Eunsoon Jung, Lena ­Katzer, Theresa Thomasberger und Josephine Witt gehören, an der Hochschule „Ernst Busch“ bisher vermisst.

In den Szenenstudien, berichten sie polemisierend, spielen Frauen Prostituierte oder zarte Opfer, Männer Vergewaltiger und Nazis. Wenn das alles sei, was der Kanon hergebe, müsse er gesprengt werden – und die deutschen Kulturinstitutionen am besten gleich mit. Erst auf den Ruinen der ästhetischen und strukturellen Herrschaftsverhältnisse, so die hfs_ultras, hätte eine neue Form der künstlerischen Arbeit Platz. „Wir möchten neue Klischees in den Geschichten unserer Zeit finden.“ Diese sollen untersucht werden, meinen die sechs und fordern, sich endlich von den bürgerlichen Erzählungen des 19. Jahrhunderts zu lösen. Emanzipative Geschichten können nicht bei einer davonlaufenden Nora oder der vertauschten Rollenbesetzung stehen bleiben. Braucht es überhaupt noch Menschen auf der Bühne, oder wird es Zeit für transhumane Wesen? Zum Beispiel Engel, die Lena Katzer in ihrer ­Abschlussarbeit inszenieren möchte? Das Kollektiv stellt sich die radikale Frage, wie das autonome Subjekt auf und hinter der ­Bühne entthront werden kann. „Da muss sich die Hochschule auf das Niveau ihrer Studierenden begeben.“

Ein Generationenwechsel, der sensibler auf diese Impulse reagiert, kündigt sich nicht erst seit der Benennung von Anna Luise Kiss an. Infolge der MeToo-Bewegung wurde erstmals die Position einer hauptamtlichen Frauenbeauftragten geschaffen. Damit folgte die Hochschule einer Forderung der Studierendenschaft. Seit 2018 bietet Vanessa Wozny eine Anlaufstelle für Betroffene und achtet in den Gremien auf die Einhaltung des Antidiskriminierungsgesetzes. Am liebsten organisiere sie Diskursveranstaltungen wie das gemeinsam mit der Dramaturgin Anna Volkland entwickelte Symposium „In the long run: Theatermacher*innen“, erzählt sie am Telefon. So lässt sich die Expertise der Studierenden auf ein Podium heben und in diesem Fall Platz für die in der Theatergeschichte oft vergessenen Theatermacherinnen schaffen. Gemessen an der Dringlichkeit, mit der die sechs Ultras ihre ­Visionen eines anderen Miteinanders in Hochschule, Theater und Leben formulieren, wirken diese Formate zunächst wie Pflaster über den krustigen Strukturen. Ob eine eher konfrontationsarme Aufweichung des Bestehenden die nach Auffassung der hfs_ultras nötigen Veränderungen anregen kann, vermögen sie nicht zu ­sagen. Als Regiekollektiv, das sich auf die Produktion provokanter Auftritte versteht, würde es eher auf eine Besetzung als erprobtes Mittel des (hochschul-)politischen Widerstands setzen – im Sinne einer Okkupation nicht nur von Häusern, sondern auch des ­ Kanons und der Diskurse. Aber wer weiß: Nicht selten braucht ein derartiger Aufstand auch einen klugen, konzentrierten Kopf, der mit überlegter Politik das Spielfeld überhaupt erst einmal ebnet. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"

Anzeige