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Geisterbeschwörung im Stasi-Keller
Das Schauspiel Leipzig startet mit „Letzter Aufguss“ ein mehrteiliges Stadtraum-Projekt
von Lara Wenzel
Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Schauspiel Leipzig

Ein Riesenrad neben Museen und einem Wohnungslosenheim, dazwischen intergenerationale Begegnung: Der stadtplanerischen Imagination sind keine Grenzen gesetzt. Auf dem Gelände des Matthäikirchhofs soll ein Raum für alle Menschen entstehen. Aber zuerst muss der alte DDR-Bau abgerissen werden, erklärt die Projektleiterin bei der Bürgerinformationsdirektbeteiligungsveranstaltung. In den Schwall blumiger Buzzwords, der blühende Landschaften auf dem Leipziger Gelände der ehemaligen Stasi-Zentrale entwirft, interveniert eine Stimme aus dem Hintergrund. Der Hausmeister mit seinem grauen Kittel wirkt selbst wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, wenn er fragt, ob hier wirklich alle mitgemeint sind.
Die Vergangenheit des Areals, auf dessen Gelände neben der Staatssicherheit ein Bettelkloster der Franziskaner, ein Lazarett und eine Schwulensauna angesiedelt war, bleibt im verlockenden Entwurf des dynamischen Architekten- Duos außen vor. Hinunter in den Keller führt der Hausmeister das Publikum. Dort wird es von den rumorenden Gespenstern der letzten Jahrhunderte heimgesucht. Nur Bademäntel und eine kurze Anleitung werden an die Zuschauerinnen und Zuschauer verteilt, dann entlässt man sie in der immersiven Performance des Kollektivs DARUM in die verwinkelten Gänge der ehemaligen Sauna. Orientierungslosigkeit gehört zum Prinzip der Produktion „Letzter Aufguss“ der Wiener Theatermacherinnen. Jede Person begegnet in einer anderen Reihenfolge den Gespenstern der Vergangenheit, die im Loop ihre Geschichte erzählen. Um die nächste Station zu finden, bewegt man sich im sporadischen Neonlicht durch ehemalige Dusch- und Baderäume, an deren Wänden noch zersplitterte Fliesen kleben.
Der Abriss-Ort passt zu den düsteren Gestalten, die seine Gänge bewohnen. Von verwundeten Soldaten und den katastrophalen Zuständen im Lazarett berichtet Johann Christian Reil, der zur Zeit der Völkerschlacht in Leipzig Verletzte pflegte, bis er sich selbst mit Typhus ansteckte und starb. Daneben fantasiert in ungleichzeitiger Gleichzeitigkeit einer seiner traumatisierten Patienten vom Zweiten Weltkrieg. Ein paar Räume weiter hält Johann Georg Schrepfer, wunderbar skurril gespielt von Thomas Braungardt, eine Séance ab. Der Geisterbeschwörer zog vor 250 Jahren den Adligen das Geld ab, indem er, technisch avanciert, Gespräche mit den Toten inszenierte.
Die Charaktere wenden sich dem Publikum zu und beziehen es ein, lassen aber nur scheinbar Variablen im genau getakteten Ablauf zu. Beklemmend wird es im Gespräch mit dem Hauswart, der um die Ecken späht, um alle Einund Raustretenden im Blick zu haben und gegebenenfalls zu melden. Der autoritäre Charakter erklärt, dass eine Hausgemeinschaft nicht funktioniere, wenn die Leute aus der Reihe tanzen. Einige aus dem Publikum nicken, während er weiter ausführt: Man müsse sich schon anpassen, sonst könne das nichts werden mit dem Sozialismus. Eine Kostprobe seiner Disziplinierungstechnik führt er an einem überrumpelten Zuschauer vor, der auf seine Aufforderung tatsächlich den Raum verlassen will. Sechs dieser Sequenzen erlebt jeder aus dem Publikum, bis es aus dem Keller wieder nach oben fährt. Ein letztes Mal wirkt der Hauptakteur des Abends – der Plattenbau, in dessen Fluren noch der unverwechselbare DDR-Geruch hängt – auf die Zuschauer:innen-Gruppe, dann geleitet sie der Hausmeister hinaus.
Nach langen Einschränkungen dringt das Schauspiel Leipzig mit dem Festival Pay attention! in den Stadtraum. „Letzter Aufguss“ ist eine der ortsspezifischen Inszenierungen, die mit ihrer Umgebung und der städtischen Vergangenheit und Zukunft interagieren. Hier geht das Konzept der urbanen Langzeitbespielung auf, denn es gelingt tatsächlich, einen vorher unzugänglichen Raum zu erschließen. Die Produktion lebt von der Atmosphäre ihres Spielorts. So lassen sich auch Längen im gleichförmigen Ablauf mit ein paar neugierigen Blicken durch den Raum überbrücken – bis sich die Gespenster wieder verzogen haben und nur der sozialistische Festungsbau aus Beton zurückbleibt. //