Theater der Zeit

Bericht

Gesellschaft verhandeln

Das Papiertheater Nürnberg lud weltweit ein zur „Gipfelkonferenz der Kinder“

Im September 2018 realisierte Johannes Volkmann vom Papiertheater Nürnberg gemeinsam mit Stefan Klier (EineWeltVilla Nürnberg), Gerti Köhn (Tafelhalle Nürnberg) und Anna Maubach (freie Pädagogin) die „Gipfelkonferenz der Kinder“ an der „Straße der Menschenrechte“ in Nürnberg. Rund 70 Kinder und Jugendliche kamen als Delegierte aus 11 Ländern zusammen, um die Ergebnisse einer vierjährigen künstlerischen Forschungsarbeit im Rahmen der „Konferenzen der Kinder“ sichtbar zu machen – sinnlich-ästhetisch und politisch relevant zugleich.

von Julia Opitz

Erschienen in: double 39: Gewalt spielen (04/2019)

Assoziationen: Bayern Puppen-, Figuren- & Objekttheater

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Die Erde: Eine Skulptur

„Stellt euch vor, die Erde ist eine große Skulptur, auf der wir uns bewegen. Jeder Schritt darauf hinterlässt einen Abdruck. Er ist also eine untrennbare Verbindung unseres Handelns und Seins. Bewegung und Wirkung. So stellt sich die Frage: Wo und wie setzen wir unsere Schritte? Mit welchem gedanklichen Hintergrund? Wo und wie erleben wir den Formungsprozess unserer Schritte? Wenn wir die Erde als Skulptur sehen und fühlen, dann sind wir alle gemeinsam ihre Bildhauer*innen.“

Dieses philosophisch anmutende Skulptur-Verständnis Volkmanns liegt auch der inhaltlichen Ausrichtung der Gipfelkonferenz zugrunde. So ist der gelernte Bildhauer und Figurentheaterspieler nicht an reiner Gegenständlichkeit und Verwertbarkeit interessiert, sondern fokussiert den teilhabenden, offenen Prozess Aller im gesellschaftlichen Sein: „Unser Ziel ist es, durch interaktive Installationen oder öffentliche künstlerische Bilder gesellschaftliche Teilhabe zu erzeugen.“ 

Die Gipfelkonferenz bündelte Ideen und Ergebnisse eines komplexen Projekts: Volkmann entwarf ein Fragebuch, das Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 18 Jahren weltweit gestalterisch beantworteten. Darin stellte er philosophische und politische Fragen wie: Was bereitet dir Sorgen? Wo wohnt für dich das Glück? Was würdest du machen, wenn du Bundeskanzler*in wärst? Zahlreiche Wünsche, Ängste und Visionen wurden in den rund 1000 individuell gestalteten Büchern aus 30 Ländern beschrieben.

Auf Basis der Fragebücher, die als Einzelstücke in Volkmanns Verlag „Erlesene Bücher“ publiziert wurden, führte der Künstler zwischen 2014 und 2018 sogenannte „Konferenz-Theater“ durch: Kinder fanden dabei eigene künstlerische Formen für ihre Fragestellungen. Etwa in Malaysia, Burkina Faso oder Polen entwickelten sie mit Tanz, Gesang und Schauspiel performative Collagen, in denen sie ihre Visionen aus den Fragebüchern visualisierten und ästhetisch weiterführten. Volkmann initiierte damit in zahlreichen Ländern politische Debatten, künstlerische Aktionen und kreative Begegnungsformate.

Weiterdenken in offenen Prozessen

Diese Konferenzen der Kinder gipfelten nun vorerst in Nürnberg: Zehn Tage Debattieren, Gestalten, Kreieren. Kinder und Jugendliche forderten öffentlich Frieden auf der Welt, die Umverteilung von Geld, gleiche Bildungschancen für alle, die Abschaffung von Waffen, das Ende der Korruption und weniger Plastik. An der „Straße der Menschenrechte“ beschrifteten sie Autos mit ihren Botschaften und schufen so mobile Installationen. Eine Ausstellung aller Fragebücher dokumentierte im Nürnberger Künstlerhaus Positionen von Kindern aus der ganzen Welt. In der interaktiven Aufführung „Zukunftsmusik“, einer Art Demokratie-Thinktank in der Nürnberger Tafelhalle, teilten Kinder und Jugendliche ihre politischen Visionen. Und Volkmanns Inszenierung „Das ist der Gipfel“ verband dokumentarische Filmmomente mit live gespieltem Papiertheater zu einer poetischen Reflexion über den vierjährigen Prozess.

Die vielleicht größte aller selbst gestellten Herausforderungen aber bildet die Idee eines „Weltgerichtshofs für Kinder“, die bei der Gipfelkonferenz vorgestellt und mit Politiker*innen diskutiert wurde: „Wir führen die Themen der Gipfelkonferenz weiter und werden die konkret entstandenen Objekte als architektonische Bausteine nutzen: In Zusammenarbeit mit dem Bewerbungsbüro ,Kulturhauptstadt Europas 2025‘ der Stadt Nürnberg soll der ,Weltgerichtshof für Kinder‘ als große Ausstellung modellhaft errichtet werden – ein Modell, an dem in Zukunft weitergearbeitet werden kann“, so Volkmann.

Die Gipfelkonferenz der Kinder bleibt also ein offener Prozess: Aktuell sammeln Kinder weltweit Spielzeugwaffen aus Plastik, im September 2019 soll daraus eine vier Meter hohe Friedensskulptur entstehen. Zudem entwickelten die Konferenzteilnehmer*innen ihrerseits eigenständig ein Fragebuch – Fragen an Erwachsene. Dieses Buch wird u.a. an 100 von ihnen ausgewählte Persönlichkeiten wie Wladimir Putin, Emma Watson, Pedro Sánchez, Queen Elizabeth II. von England, Donald Trump und die Band Kraftklub verschickt. Die Fragebücher sollen Anfang 2020 in einer Wander-Welt-Ausstellung präsentiert werden – auf Sockeln. Wird das Buch nicht zurückgeschickt, bleibt der Sockel leer. 

Performative Dimensionen eines unkonventionellen SkulpturBegriffs

Volkmann entzieht dem Skulptur- bzw. Objektbegriff seine Abgeschlossenheit, indem er Formungs- und Fortschreibungsprozesse in den Vordergrund stellt. Dinge werden ihrer herkömmlichen Symbolik beraubt und zum materiellen Nährboden gesellschaftlicher Fragestellungen umfunktioniert. Bei der Gipfelkonferenz ist das Auto als kapitalistisches Heiligtum Träger politischer Botschaften und Spielzeugwaffen stehen skulptural für die sinnbildliche Anhäufung des Weltfriedens.

In all seinen Arbeiten bespielt der Künstler konkrete Objekte mit performativen Handlungen und gestaltet so ein dinghaftes, bewegliches, stetig erweiterbares Archiv. Die Konferenz-Fragebücher etwa werden erst dadurch, dass Kinder sie aktiv gestalten, zu Zeitzeugnissen. Gegenständlichkeit und Beweglichkeit treten in Volkmanns Arbeiten in ein ungewöhnlich produktives Verhältnis.

Auf diese Weise schafft er künstlerische Gestaltungsräume, die Umdeutungen einfordern und Plattformen für offene gesellschaftliche Veränderungsprozesse sind. Seine Herangehensweise ist mutig und betont die unabdingbare Wechselwirkung zwischen Materialität und Mensch sowie deren politische, ökologische und soziale Dimension: „Es kommt darauf an, welche Schritte wir auf dieser Skulptur, der Erde, setzen wollen, wie wir Gesellschaft denken können und wie wir handeln, im Spiel und auch in der Realität.“ – www.daspapiertheater.de

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