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Das Wunder an der Warnow
Über den Neubau des Theaters in Rostock und dessen lange Vorgeschichte
von Juliane Voigt
Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)
Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Dossier: Neubau & Sanierung Volkstheater Rostock

Rostock hat was gutzumachen bei seinem Theaterpublikum. Weil sich die Rostocker Theaterfreunde seit 1943 in einem maroden Provisorium um vier Sparten drängeln, in dem zum Beispiel die Bühnenaufbauten bis heute durchs Foyer geschleppt werden, weil es keine Hinterbühne gibt. Von einer Drehbühne ganz zu schweigen. Ja, die Rostocker haben wirklich was hinter sich, wobei die 31 Jahre dauernde Generalintendanz von Hanns Anselm Perten noch zu den guten Zeiten zählt. Außerdem rumpelt der Theaterkarren seit knapp 30 Jahren ohne Federung durch Stellen-Abbau, schwelende Auflösungs- und Fusionsandrohungen und so abrupte wie skandalöse Intendantenwechsel. Dass die Stadt jetzt wirklich ein Theater bekommen soll, kann schon als so was wie ein Wunder von Rostock gefeiert werden. Und das tun die Rostocker auch. 2029 soll sich für die erste Premiere der Vorhang heben.
Bussebart heißt das städtische Areal zwischen der Langen Straße in Höhe des Kröpeliner Tors und dem Stadthafen, ein Parkplatz in attraktiver Innenstadtlage. Das neue Stadttheater wird dort ein freistehender Solitär. Eine begehbare Gebäudeskulptur, heißt es überschwänglich. Ohne Vorder- und Rückseite legen sich organisch geschwungene Fassaden aus lichtführender Materialität in Grau-Weiß-Gelb um einen aus der Mitte wachsenden Turmaufbau, der sich mittels sich windender Außentreppe erklimmen lässt. Die Dachterrasse biete einen hochattraktiven Rundumblick über die Altstadt zur Warnow und Richtung Ostsee, heißt es in der Projektvorstellung des renommierten Berliner Architekturbüros Hascher Jehle, das den Wettbewerb gewonnen hat. Das weist nicht zuletzt auch ganz metaphorisch in neue Richtungen. Bisher mussten die Rostocker viele Stufen in das läuternde Theater-Inferno hinabsteigen, um hausintern ein geologisch bedingtes Straßengefälle zu überwinden. Jetzt steigen sie hinauf. Oder nehmen den Fahrstuhl. Jedenfalls geht es jetzt in jeder Hinsicht aufwärts.
Rostock hat mit dem Zuschlag eine ebenso mutige wie eindeutige Entscheidung getroffen. Zwei weitere Ausschreibungsentwürfe belegen symbolisch gleich den dritten Platz, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Wahl keiner weiteren Nachbesserung bedurfte. Intendant Ralph Reichel, die Stadt (als Bauherrin), Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen und sogar die Ministerpräsidentin des Landes, Manuela Schwesig, feierten das Projekt geradezu euphorisch. „Die Verfasser präsentieren einen Entwurf für einen zeitgemäßen und attraktiven Theaterneubau mit hoher Aufenthalts- und Erlebnisqualität. Der Vorschlag überzeugt sowohl im städteräumlichen Kontext wie auch in Bezug auf Gestaltung, Funktion und Organisation in hohem Maße“, urteilte die Jury.
Auf acht Etagen, drei unter- und fünf überirdischen, wird es zwei große Theatersäle geben, einen mit knapp 600 und einen mit 200 Plätzen, verschiedene Foyers und kleine Bühnen, multifunktionale Konferenzräume, Probenräume für alle Sparten, Büros, Theaterwerkstätten, eine öffentliche Kantine, eine Nacht-Bar – mit Kleinkunstbühne – und ein Restaurant – mit Ausblick. Von der Tiefgarage bis zur Aussichtsplattform soll das Theater sowohl ein Hort für Theater-, Opern-, Konzert- und Ballettliebhaber als auch ein Ort für die sein, die am Theaterbetrieb vorbei für den Moment auch mal nichts von Kultur wissen wollen. Der Mensch muss schließlich auch essen! Und einfach nur mal die Seele baumeln lassen. „Ein Wohnzimmer für alle Rostocker“ soll es nämlich werden, „ein Begegnungsort“, rief kühn die für das Theater zuständige städtische Mitarbeiterin der für die kommunalen Immobilien zuständigen Betriebs KOE, Sigrid Hecht, aus. Ein „Neues Wahrzeichen der Stadt“ gar. Und das will was heißen in einer alten Hansestadt, aus deren Silhouette mindestens drei große Backsteinkirchen ragen.
Der Rostocker Theaterturm ragt allerdings, wenn er denn eines Tages steht, als so was wie ein Leuchtturm aus dem versteppten Norden. Erst seit 2017 sind die Pläne der Landesregierung, sämtliche Theater in Mecklenburg-Vorpommern auf Gedeih und Verderb miteinander zu fusionieren, vom Tisch. Von den jahrelangen Protesten und Kämpfen haben die vier Theater des Landes sich mal gerade erst erholt. Für Rostock wurde zuletzt sogar das Modell „Bespieltheater“ in Erwägung gezogen. Denn dem Volkstheater drohte eine Zusammenlegung mit dem sowieso stets bevorzugten Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin und die Schließung von zwei Sparten. Die Rostocker Bürgerschaft aber hatte in der Hochphase der Diskussionen um den Kulturabbau der Landesregierung 2015 selbstbewusst den Neubau eines Vier-Sparten-Hauses beschlossen. Investitionsvolumen: 110 Millionen Euro. Hansestädter lassen sich von jeher ungern etwas vorschreiben. Schon gar nicht, wenn der Absender in einem Schloss residiert. Die 200 000-Einwohner-Stadt Rostock mit Universität und Hochschule für Musik und Theater hatte sich längst aus der Nachwendeschockstarre gelöst und ist zu einer jungen Lieblingsstadt mit Ostseestrand geworden. Eine Stadt, die aus den gröbsten Verschuldungen heraus ist und sich wieder Kultur leistet. Das Land hat inzwischen eine Beteiligung von 51 Millionen Euro zugesagt.
Das Volkstheater Rostock wird der wohl wichtigste Theaterneubau der kommenden Jahre in Deutschland. An Rostock werden sich auch zukünftige Entwicklungen ablesen lassen. Wie schafft es ein Theater, aus einem Provisorium heraus, das ebenso mit Zuschauerschwund zu kämpfen hat, wie andere Theater auch, für ein so großes Haus mit unzähligen Möglichkeiten ein neues Publikum zu gewinnen? Kritiker des Großprojekts fragen, ob das Theater nicht eine Nummer zu überkandidelt sei in Anbetracht verschiedener anderer städtischer Millionenprojekte, wie zum Beispiel dem Ausbau des Stadthafens für die BUGA 2025. Der Deutsche Bühnenverein meldet seit Jahren stagnierende Zuschauerzahlen in Ost und West. Dazu kommt der Mehrzweckcharakter des Neubaus, in welchem eingefleischte Theatertraditionalist:innen auch naserümpfend profane Stadthallen-Bespaßung vermuten könnten. Braucht ein Stadttheater nicht auch so was wie den Stallgeruch seiner Vorgeschichte? 2006 hatte Potsdam mit dem Neubau des Hans Otto Theaters den ersten architektonischen Kulturbruch im früheren Osten gewagt. Ein für ein Stadttheater ungewöhnlicher Theaterneubau. Der elitäre und hermetische Musen-Tempel des deutschen Bildungsbürgertums hat sich im 21. Jahrhundert in einen allumarmenden „Demokratisierungsbau“ verwandelt. Theater soll nun möglichst in alle Schichten der Gesellschaft hineinleuchten. Und das auch ganz im Wortsinn. Bei Sanierungsmaßnahmen rund um die hundertjährigen Jubiläen vieler Stadttheater wurden von innen leuchtende Glasfronten vor den Schnörkel-Eklektizismus grauer Vorzeiten geschoben. Theater soll schon mal durch sich in sich hineinziehen. Gerade Neubauten sollen Transparenz und Offenheit signalisieren, wie am Beispiel Hans Otto Theater Potsdam oder aktuell am Münchner Volkstheater oder auch dem Düsseldorfer Schauspielhaus – eine Art Ufo aus den 1970er Jahren –, dessen weiße und schwungvolle Außenfassade immerhin von kleinen Ausgucken durchlöchert wird.
Ein Theaterneubau eröffnet auch Experimentierfelder für neue Theaterformen und Möglichkeiten. Die Guckkastenbühne vor gänzlich verdunkeltem Zuschauerraum hat zwar jahrhundertelang funktioniert, reicht aber nicht mehr. Theater ist nicht mehr nur ein kathartisches Nachempfinden der eigenen Lebenswirklichkeit hinter einer unsichtbaren, aber hermetischen Wand. Seh- und Erlebnisgewohnheiten der Zuschauer sind von Kino und Film beeinflusst. Dabei ist die darstellerische Qualität des Bühnenpersonals vorerst noch an menschenmögliche Fähigkeiten gebunden, je nach Talent und Ehrgeiz von genial und brillant bis irgendwo drunter. Digitale Bühnentechnik aber eröffnet den Theatermacher:innen inzwischen fast grenzenlose Spielräume. Das Geschehen auf der Bühne erobert zunehmend den Zuschauerraum, bezieht das Publikum ein, eröffnet Projektionsflächen für Video und Film, immersive Formate machen Zuschauer:innen zu Mitakteuren. Theater als gesellschaftlicher Treffpunkt muss Erwartungen einer immer pluraler werdenden Gesellschaft berücksichtigen.
Das Volkstheater Rostock 2.0, also die Belebung dieses neuen gesellschaftlichen Ortes, erfordert neben außergewöhnlich hochwertiger Vier-Sparten-Theaterarbeit auch soziopolitischen Erfindungsreichtum. Nach dem Motto: „Welche Welt bedeuten diese Bretter?“ wird schon lange um das Für und Wider von Theaterneubauten in Deutschland debattiert. Theater und Oper wird zunehmend Relevanzlosigkeit quittiert. Hat der Norden nur den sprichwörtlichen Knall nicht gehört? Es wird sich zeigen. Im Moment hat das Volkstheater Rostock 250 Mitarbeiter:innen, knapp 700 Veranstaltungen stehen durchschnittlich pro Jahr auf dem Spielplan. Intendant Ralph Reichel will schon jetzt mit dem Rostocker Literaturhaus, einschlägigen Clubs, der freien Szene, Rostocker Schulen und der Hochschule für Musik und Theater über Zusammenarbeiten beraten. Um die nächsten Publikums-Generationen ins Theater zu locken. //
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