Vorwort
von Dorte Lena Eilers, Anna Volkland und Holger Schultze
Erschienen in: Recherchen 83: Die neue Freiheit – Perspektiven des bulgarischen Theaters (05/2011)
Der inzwischen mehrfach preisgekrönte Autor Dimitré Dinev, 1990 aus Bulgarien nach Österreich geflohen, wurde zu der Zeit, als er noch als illegaler Einwanderer galt und vor allem auf der Straße lebte, von einem Wiener Obdachlosen gefragt, aus welchem Land er komme. „Ich werde dir sagen, woran mein Heimatland grenzt, und du sagst mir dann, wie es heißt“, antwortete Dinev ihm. „Im Norden, an der Grenze zu Rumänien, fließt die Donau; im Osten liegt das Schwarze Meer; im Süden befinden sich Griechenland und der europäische Zipfel der Türkei; und im Westen die ehemals jugoslawischen Republiken Mazedonien und Serbien.“ Der Fragesteller überlegte, schließlich blickte er Dinev verwirrt an und stieß ratlos hervor: „Aber … da ist doch nichts!“
Der Blick des Westens auf die im äußersten Osten der EU gelegene Balkanrepublik Bulgarien ist geprägt von Ignoranz oder bewusster Distanzierung, stellt der in Sofia lebende Autor Thomas Frahm fest. Der Balkan sei entweder ein Pulverfass oder ein Fass ohne Boden – auf alle Fälle aber sei er ein Raum an der Peripherie Europas, wirtschaftlich oder politisch nicht wichtig genug, als dass wir Genaueres über ihn wissen müssten – oder glauben, wissen zu müssen. Dieses Buch, das als erster deutschsprachiger Band einen Überblick über die bulgarische Theaterlandschaft seit den politischen Umbrüchen 1989/90 bietet, will dem oft genug durch die mediale Politik der Bilder gelenkten Blick andere entgegensetzen: Perspektiven auf Kunst, Kultur und insbesondere Theater.
Es mag sein, dass man als Theatermacher erst einmal zufällig auf Bulgarien treffen muss, um das Land und seine Menschen in der direkten Begegnung zu entdecken – dass beispielsweise Dionysos, der Gott der Ekstase und auratischer Mittelpunkt der antiken Theaterrituale, aus Bulgarien stammt, ist vielen weitgehend unbekannt. Auch Heiner Müller geriet wohl mehr oder weniger zufällig – oder doch schicksalhaft? – nach Bulgarien. 1970 heiratete er die bulgarische Regisseurin Ginka Tscholakowa und lebte mit ihr einige Zeit in Sofia. Als jemand, der – wie Dimiter Gotscheff es ausdrückte – die Tragik der kommunistischen Idee, den Stumpfsinn des Herrschens erkannt hatte, galt und gilt Müller vielen bulgarischen Theatermachern wie Ivan Dobčev und Javor Gardev bzw. aus Bulgarien stammenden wie Gotscheff und Ivan Stanev als einer der wichtigsten Dramatiker. Heiner Müller begründete somit eine bis heute bestehende „deutsch-bulgarische Linie“ des Theaterschaffens. Man ist noch lange nicht fertig mit ihm, in einem Land, dessen politisches System marode geblieben, in dem die Revolution nie wirklich angekommen ist.
Nach dem Sturz des Diktators Todor Živkov, nach dem zumindest nominellen Ende der Kommunistischen Partei Bulgariens, war auch den Theatermachern bewusst, dass „nichts so bleiben kann, wie es ist“; die neunziger Jahre waren die große Zeit der Experimente, des Nachholens, der Öffnung nach Europa. Zwanzig Jahre später wissen die Theatermacher immer noch, dass nichts so bleiben kann, wie es war – und erst recht nicht so, wie es ist. Es existiert nach wie vor keine kulturpolitische Linie, keine ausreichende Finanzierung der staatlichen Theater und der freien Szene. Die „Reform“ der Theater, mit der das Kultusministerium 2010/11 wieder einmal und diesmal mit besonderer Härte durchgreifen will, verspricht indes Neuerungen, die, so antikommunistisch wie nur möglich, das neoliberale Zeitalter auch in den verkrusteten Kulturinstitutionen einläuten sollen. Und wer außerhalb dieser Institutionen arbeitet, darf die Freiheit des Marktes sowieso zu spüren bekommen.
Viele Sorgen der bulgarischen Theatermacher sind uns fremd, die Kulturpolitik wirkt auf uns oft genug bizarr – die Schatten einer nie bei Licht besehenen Vergangenheit prägen immer noch die längst postkommunistische Gegenwart, und wo das Alte nicht mehr gilt, scheint ein Vakuum zu bestehen. Gleichzeitig sind die bulgarischen Theatermacher über die deutsche Theaterkultur sowie über die europäischen und internationalen Strömungen und Vertreter des postdramatischen Theaters vollkommen im Bilde. Können wir umgekehrt „das bulgarische Theater“ ästhetisch bewerten und als etwas uns sehr Fernes abtun?
Tatsächlich tut sich gegenwärtig in der bulgarischen Theaterszene so einiges. Im Bereich des Theaters zu arbeiten – sei es in den Institutionen oder in der freien Szene – ist nicht nur ein Kampf darum, neue Ästhetiken und Themen in den bulgarischen Kontext einzuführen, sondern auch ein Kampf gegen prekäre Produktionsbedingungen und für den Aufbau neuer Strukturen. Alle in diesem Band versammelten Künstler besitzen einen unbedingten Willen zum Theatermachen im eigenen Land, der sich immer gegen die Option behaupten muss, ins Ausland zu gehen, um dort, wie sie hoffen, unter besseren Bedingungen zu arbeiten. Eine Option, der nicht wenige bereits gefolgt sind. Die Reform im Theaterbereich aber wird nicht von außen, von Seiten der Politik kommen, meint die Choreografin Galina Borissova, sondern von den Künstlern selbst. „Helfen können nur wir selber uns“, meinte Brecht.
Bei allen Differenzen verbindet uns in Zeiten des europaweiten Kulturabbaus diese Notwendigkeit, sich als Theatermacher klar zu positionieren und den Bezug zur sozialen und politischen Realität beständig neu auszuhandeln. Dass auf der Bühne mehr als das Schöne und Gute, das Unterhaltsame gezeigt werden soll, trotz eines schweren Lebens, in dem jeder bereits genug Sorgen hat, daran glauben alle in diesem Rechercheband zu Wort kommenden Autoren, seien es Künstler, Kulturschaffende oder Wissenschaftler. Sie nehmen eine Standortbestimmung Bulgariens innerhalb Europas und des bulgarischen Theaters seit der Wende vor (Kapitel 1), lassen uns teilhaben an sehr persönlichen Um- und Aufbrüchen vor und nach 1989 (Samuel und Itzhak Finzi, Kapitel 2), nehmen uns mit auf Exkursionen in die zeitgenössischen theatralen Landschaften von Regie, Dramatik, Tanz, Musiktheater und alternativem Theater und beziehen als Künstler Stellung (Kapitel 3). Die Öffnung nach Europa (dem man sich auch nach dem EU-Beitritt 2007 noch nicht richtig zugehörig fühlen kann) spielt dabei in allen Essays und Gesprächen eine Rolle, auch und besonders im 4. und 5. Kapitel. Hier dokumentieren wir das durch den Fonds Wanderlust der Kulturstiftung des Bundes ermöglichte Austauschprojekt Die Stimmen von Russe, in dem sich über einen Zeitraum von 2008/09 bis 2011 Theatermacher aus Osnabrück und Russe begegneten, spiegeln unseren Blick auf eine – vor allem in der eigenen Erwartung – fremde (Theater)Kultur, und hören bulgarisch-deutschen oder besser: kosmopolitischen Wanderern zu, die sich nicht „in eine Einzimmeridentität pressen lassen“ wollen, wie Dimitré Dinev es ausdrückt.
Ivan Stanev, Regisseur und Autor, seit seiner Flucht aus Bulgarien 1989 in Berlin lebend, rät als letzte Stimme dieses Bandes sogar: „Verlasst die Erde!“ Denn auch wenn in unserer globalisierten Welt scheinbar immer mehr Grenzen fallen, werden doch beständig neue sichtbar. Die Mühe der Überschreitung liegt daher nach wie vor bei uns selbst. Dieser Rechercheband ist eine Einladung, die Distanz zum scheinbaren Rand Europas aufzugeben, die Perspektive zu weiten und dabei den eigenen Blick zu überprüfen. „Kultur“, sagt Dinev, „braucht die fremden Einflüsse, um sich zu erproben und zu erneuern.“
In diesem Sinne: За чудесното сътрудничество сърдечно благодарим на всички автори, събеседници и преводачи, както и на тези, които търпеливо отговаряха на нашите въпроси. (Wir danken allen Autoren, Gesprächspartnern und Übersetzern sowie all denen, die uns geduldig unsere Fragen beantwortet haben, ganz herzlich für die sehr gute Zusammenarbeit.)
Besonderer Dank gilt natürlich der Kulturstiftung des Bundes, durch die dieser Rechercheband ermöglicht wurde.
Dorte Lena Eilers, Anna Volkland und Holger Schultze
Mai 2010