Auftritt
Münchner Volkstheater: Polonaise des Grauens
„Caligula“ von Albert Camus – Regie Ran Chai Bar-zvi, Bühne Ansgar Prüwer, Kostüme Marilena Büld, Musik Evelyn Saylor
von Anne Fritsch
Assoziationen: Bayern Theaterkritiken Ran Chai Bar-zvi Münchner Volkstheater
Hinter einem Gaze-Vorhang schreiten sie über die leere, birkenholzvertäfelte Bühne. Eine Trauergesellschaft in schillernden Kostümen, die hier an römische Tuniken, da an Rüstungen erinnern und doch in genderfluider Ästhetik alles Gewesene neu interpretieren. Im Zentrum: Steffen Link als Kaiser Caligula, ganz in schwarz. Oben trägt er einen Brustpanzer, unten einen ausladenden Rüschenrock. In einer Urne die Asche seiner Schwester, die auch, so weiß das Volk, seine Geliebte war. Zu dröhnenden, quälenden Sounds wird sie in ein Loch im Bühnenboden versenkt. Caligula schleift sich hin, schlägt aufs Grab, bleibt erstmal liegen.
Als er irgendwann wieder zu sich kommt, fantasiert er vom Mond, wie andere Machthungrige heute vom Mars fantasieren. „Aber ich bin nicht verrückt, ich war sogar noch nie so vernünftig“, erklärt er mit ruhiger Stimme. „Nur habe ich plötzlich ein Bedürfnis nach Unmöglichem verspürt. Die Dinge scheinen mir so, wie sie sind, nicht befriedigend.“ Also will er sich die Welt fortan nach seinem Wohlgefallen schaffen, koste es, was es wolle. Die Mittel hat er als mächtigster Mann der römischen Welt, Skrupel dagegen keine.
Der Regisseur Ran Chai Bar-zvi hat am Münchner Volkstheater Albert Camus’ „Caligula“ inszeniert, diese Geschichte von einem, der außer Rand und Band gerät, sich selbst zum Gott erhebt und nur um sich duldet, wer ihn und mit ihm feiert. Es ist ein Zufall, dass die Tyrannenstücke sich in dieser Woche in München ballen (am Mittwoch hatte Ewald Palmetshofers Shakespeare-Überschreibung „Sankt Falstaff“ am Residenztheater Premiere). In dieser Woche, die mit der Amtseinführung eines begann, an den an diesen Abenden wohl alle auch denken. Den neuen alten US-Präsidenten. Das ist ein Zufall, die Häufung derartiger Stoffe aber nicht. Die ist eine Reaktion auf das, was rund um uns herum seit Jahren passiert, die überall aufkeimende neue dominante Männlichkeit.
Und so spricht dieser Caligula aus, was vermutlich viele dieser Machtmänner insgeheim denken: „Ich habe endlich das Nützliche der Macht erkannt. Sie gibt dem Unmöglichen eine Chance. Heute und für alle Zeiten hat meine Freiheit keine Grenzen mehr.“ Und so dreht dieser Caligula schlicht durch im Rausch der Macht: Generalerbe des Vermögens aller römischen Bürger ist in Zukunft er; die Wohlhabenden sollen in willkürlicher Reihenfolge getötet werden, damit das Erbe nicht so lang auf sich warten lasse. Auch sonst geht er über Leichen, tötet auch mal schlicht, weil er es kann. Die, die noch am Leben sind, sollen und müssen ihn feiern.
Fast brutal plötzlich schallt da „Tanze Samba mit mir“ aus den Lautsprechern, der Kaiser bittet zum Tanz, die Untergebenen müssen mitfeiern in einer Polonaise des Grauens. Mit Caligula-Masken tanzen sie „Macarena“ oder lassen ihn als Göttin Venus durch den Raum schweben. Eine faszinierend-abstruse Selbstinszenierung als Meister des Feierns, als Gott unter Menschen. Volksnah und unnahbar zugleich. Die ihn nicht lustig finden, die nicht mit ihm feiern, sondern mit Fragen der Moral daherkommen: Spielverderber und Miesepeter. „Achtung, der Tyrann kommt!“, scherzt er mit Blick auf Scipio, seinen ärgsten Kritiker, den Anton Nürnberg treffend angespannt spielt. Wer will denn auch Inhalte und Verlässlichkeit, wenn er die Party seines Lebens haben kann? Ob Plastik in den Meeren, der 11. September oder Klima-Aktivismus: Nichts ist vor seinen Späßen sicher, alles Teil der großen Ego-Show mit dem Titel „Caligula“. Zu Robbie Williams „Angels“ entschwebt er den irdischen Sphären zumindest kurzfristig in einer pinken Venus-Muschel.
Momente der Grausamkeit und der Zartheit wechseln unvermittelt. Dieser Caligula, den Steffen Link da unglaublich wandlungsfähig spielt, ist vor allem eins: unberechenbar. In einem Moment ordnet er eine geplante Hungersnot an, im nächsten kuschelt er sich in den Schoß seiner Geliebten wie ein kleines Kind. (Dass er auch sie, seinen Halt, später ermorden wird, wen wundert’s?) Mit irrem Blick, großartig in seiner Ich-Bezogenheit, läuft er mit einem Vorhang als Umhang über die Bühne, nichts sehend als sich selbst. Seine Untergebenen demütigt er nach Lust und Laune.
Das Ensemble um ihn – Maximiliane Haß als Caesonia, Jonathan Müller als Helicon, Jan Meeno Jürgens als Cherea, Liv Stapelfeldt als Alter Patrizier, Cedric Stern als Mucius und Mils Karsten als Lepidus – zeigt überzeugend alle Facetten von Mitläufertum bis offenen Protest. Da die meisten Menschen aber unfähig sind, „in einer Welt zu leben, wo der absonderlichste Gedanke jeden Augenblick Wirklichkeit werden kann – und meistens auch wird – und in sie eindringt, wie ein Messer in ein Herz“, kommt es schließlich zur Verschwörung, zum Tyrannenmord. Caligula ist tot, er wird zum Denkmal. Seine letzten Worte tönen aus dem Off: „Noch lebe ich!“ Wie war das noch? Der König ist tot, es lebe der König. Die Tyrannen sterben wohl niemals aus. Die Widerständigen dürfen es auch nicht.
Erschienen am 27.1.2025