I
Der Begriff des Realismus ist – als „Ismus“ – a priori dem Realen, der Realität nachgeordnet, nachrangig, von ihr abgeleitet. Wie auch immer das genaue Verhältnis zur Realität bestimmt werden mag – ob über Mimesis oder Nähe zur Lebenswirklichkeit –, muss sich das realistische Musiktheater doch immer an ihr, der Realität, messen. Insofern kann Hans Neuenfels – zumindest nach eigenem Bekunden – dem realistischen Musiktheater nur fernstehen, da er der Realität grundsätzlich misstraut. In einem im Mai 2006 in der Zeitschrift Theater der Zeit veröffentlichten Gespräch[1] (zahlreiche andere Belegstellen ließen sich finden) sagt Neuenfels u. a.: „Auf die Gesetzmäßigkeiten des sogenannten Normalen und Natürlichen habe ich schon als junger Mensch sehr empfindlich reagiert. Deshalb war ich immer für Eigenwelten, für abgehobene, oder eher: erfundene Welten.“ Und er gebraucht Formulierungen wie: „Oper ist ja sowieso künstlich“, oder spricht abfällig vom „naturalistischen Brei“.[2] Für Neuenfels bildet die Oper also eine künstliche, von der Realität abgehobene Eigenwelt.
Anstatt von einer eigenen „Realität“ der Oper zu reden, erscheint es mir im Folgenden angemessener, den Begriff der eigenen „Wirklichkeit“ zu verwenden; nicht zuletzt, um die uns umgebende Realität dessen, „was der Fall ist“, davon abzusetzen. Anzunehmen, dass die abgehobene Opernwirklichkeit keinen Bezug...