Stück
Wir werden uns alle immer ähnlicher
von Lukas Bärfuss und Judith Gerstenberg
Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)
Assoziationen: Dramatik Schauspielhaus Zürich
Wir werden uns alle immer ähnlicher
Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss über sein neues Stück „Frau Schmitz“ im Gespräch mit Judith Gerstenberg
Neulich sah ich im Toilettentrakt eines Lokals anstelle der üblichen Piktogramme zwei Bilder: eine Bulldogge und einen frisierten Pudel. Wieso ist darauf Verlass, dass jeder weiß, welche der Türen er zu benutzen hat?
Weil ohne Unterlass an diesen Bildern gearbeitet wird, in fast allen Bereichen, Film, Werbung, Mode. Natürlich gibt es eine Umkehrung, aber aus ihr folgt immer gleichzeitig eine Umkehrung der sexuellen Orientierung: es gibt die Bulldogge nicht als heterosexuelle, sondern nur als lesbische Frau. Dasselbe gilt für den frisierten Mann. Erstaunlicherweise gilt das auch für viele Menschen, die sich Transgender nennen: auch sie folgen den stereotypen Bildern der Männlichkeit, bzw. der Weiblichkeit. Ich glaube, bei Simone de Beauvoir steht der schreckliche Satz: Den Menschen gibt es nicht, es gibt die Frau und es gibt den Mann. Es braucht also immer eine Definition, eine Zuordnung. Wir haben es noch nicht geschafft, uns aus dieser Zwangslage zu befreien.
Ist Geschlecht bzw. Identität ein gesellschaftliches Konstrukt?
Wahrscheinlich ist es das. Aber wir haben keine Möglichkeit, dies praktisch zu überprüfen. Eine Biologie ohne Soziologie kann es nicht geben. Schon deshalb nicht, weil es niemanden gäbe, um diese Biologie beobachten zu können. Der Mensch ist zuerst ein soziales Wesen. Er ist nicht denkbar ohne Gesellschaft. Mein Schwanz ist nicht denkbar ohne Gesellschaft, obwohl seine Prämisse vielleicht eine biologische ist. Aber seine Bedeutung, sein Status, seine Chiffren, seine Möglichkeiten, wie ich über meinen Schwanz reden kann, wann ich ihn zum Thema machen darf und wann ich besser zu schweigen habe, das bestimme nicht ich, das bestimmt die Gesellschaft, in der ich lebe.
Der Titel deines jüngsten Stückes, „Frau Schmitz“, wirkt unverfänglich. Dass dem keineswegs so ist, zeigt gleich die erste Szene. Du sagtest einmal, mit dem ersten Satz sollte das Thema gesetzt sein, an dem sich das Stück abarbeitet. Ist das Dein Prinzip, auch um auf den Laborcharakter des Theaters zu verweisen?
Ich bin nicht sicher, ob ich ein Prinzip habe. Was Du ansprichst, nämlich den Umstand, dass ich gleich mit der ersten Szene das Geschehen in Gang bringen will, hat vielleicht etwas mit einer Angst, oder einem Misstrauen zu tun. Ich fürchte mich davor, jemand könnte sich gelangweilt fühlen, jemand könnte sich für das, was ich zu sagen habe, nicht interessieren. Vielleicht ist das kindlich, aber es ist wohl vor allem solipsistisch. Ich bin selbst ungnädig mit Kunstwerken, gerade literarischen, die sich nicht um mich bemühen. Ich mag nichts, das hermetisch ist. Ich mag das Selbstgenügsame nicht. Die Welt, wie ich sie vorfinde, ist einladend, sie verschließt sich nicht. Das bedeutet nicht, dass diese Welt ohne Geheimnisse und entzifferbar wäre. Aber die Türen zur Wirklichkeit finde ich weit offen. Und es ist richtig, ich möchte etwas untersuchen, und ich weiß natürlich: in jeder Untersuchung liegt eine Grausamkeit. Die reine Beobachtung gibt es ja nicht, wie Heisenberg festgestellt hat: jeder Beobachter verändert das System, das er beobachtet. Aus dieser Grausamkeit folgt ein Lustgewinn, keine Frage, und das ist es wohl, worauf ich zuerst abziele: auf das Lustzentrum. Auf meines, auf das der Schauspieler, auf das Lustzentrum des Publikums.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, es ginge in „Frau Schmitz“ um die Genderfrage. Worum geht es Dir wirklich?
Wenn ich das sagen könnte! Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit dem Begriff der Verwandlung auseinandergesetzt, ein Begriff, der in der Kunst, in der Literatur eine zentrale Rolle spielt. Einfach deswegen, weil die Zeit für uns nicht beherrschbar ist. Die Existenz bleibt in ihrem Wesen biografisch: Man wird geboren, reift, altert, stirbt. Die Literatur beschreibt die Verwandlung selten affirmativ, sie erzählt vom Schmerz, von der Ungerechtigkeit, vom Zorn über diese Verwandlungen. Das ist die Konstante, anhand derer wir einen Zugang finden zur Tradition. Es ist hinlänglich bekannt, wie diese existentielle Erfahrung in einen ökonomischen Zusammenhang gebracht wurde.
Du sprichst von der Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit als Maxime unseres neoliberalen Gesellschaftssystems?
Da Kreativität zum zentralen Wert der Innovationskraft wurde, und da man feststellte, dass Kreativität eine Krisenerfahrung ist, die Reaktion auf eine Bedrohung, auf eine Beschränkung, versuchte man eine wesentliche und sehr unproduktive Folge der sozialen Marktwirtschaft auszuhebeln, nämlich das Gefühl der Sicherheit. Altersvorsorge, Krankenversicherung, Arbeitslosengeld - all dies verschafft den Menschen Sicherheit, aber sie werden eben auch bequem und träge. Die politische Forderung nach ständigen Reformen musste in die Unternehmen gebracht werden, und dort hieß der Begriff Change Management. Im Gegensatz zu den Behauptungen ihrer Verfechter, ging es aber nicht darum, den Wandel zu organisieren, es ging in erster Linie um die Produktion eines permanenten Bedrohungsgefühls. Es ist sehr aufschlussreich zu sehen, dass diese Lehren einem permanenten Katastrophenfall annehmen, stets mit der Beschwörung dessen beginnen, was sich gerade krisenhaft verändert: Klima, Technologie, Bevölkerung, und so weiter. Es werden ganze Kataloge erstellt um zu beweisen, dass sich alles ändert und nichts sich gleich bleibt. Und auf diese Veränderungen gibt es grundsätzlich nur eine adäquate Reaktion, und das ist nicht der Widerstand, nicht der Versuch, etwas gegen diese als negativ empfundenen Veränderungen zu unternehmen. Die einzige in ökonomische Rendite umsetzbare Reaktion ist Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Da man nichts gegen die Krisen tun kann, da sie zu groß, gewissermaßen schicksalhaft sind, bleibt nur die Möglichkeit, sich selbst anzupassen, sich weiterzubilden, umzuschulen, zu reorganisieren.
Mit welcher Konsequenz?
Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen. Diese Beschreibung der Welt gibt sich faktisch, phänomenologisch, aber tatsächlich ist sie reine Ideologie. Die Methode, mit der sie umgesetzt wird, ist die Idee der ewigen Konkurrenz. Dass wir alle miteinander im Wettbewerb stehen, dass wir uns für diesen Wettbewerb zu ertüchtigen haben, dass nur der Wettbewerb den Menschen aus seiner Trägheit reißt: diese Ideen sind heute hegemonial. Man findet sich in jeder gesellschaftlichen Diskussion, nicht nur in der Wirtschaft, ebenso in der Politik, und natürlich auch in der Kunst. Das alles ist hinlänglich beschrieben. Eine Sache allerdings geschieht beinahe unbemerkt. Ich habe nichts gegen den Wettbewerb, im Gegenteil, im mag ihn sehr. Er stimuliert tatsächlich, belebt. Aber er hat eine ziemlich problematische Konsequenz: Die Konkurrenten werden konform, sie gleichen sich untereinander an. Dies natürlich deshalb, weil sie sich denselben Regeln, denselben Vorgaben, denselben Ziel zu unterwerfen haben. Ohne die Einheit der Regeln und der Ziele gibt es keinen Wettbewerb, keine Messbarkeit, keine Vergleichbarkeit. Aber diese Regeln, diese Ziele sind natürlich reine Willkür. Das Resultat dieser Affirmation der Verwandlung mit der Methode des Wettbewerbs ist deshalb nicht zuerst Innovation, also Erneuerung, wie immer behauptet wird, sondern in erster Linie Konformismus. Wir sehen uns immer alle ähnlicher, und gerade die Frau Schmitz ist ja vollkommen konform in ihrer Lebensweise. Und deshalb ist sie erfolgreich. Aber dann hält sie sich plötzlich nicht mehr an die Regeln, und das Unglück beginnt.
Frau Schmitz ist, ähnlich wie andere Deiner Protagonistinnen, eine schweigsame Figur.
Bestimmt ist Schweigen ein rebellischer Gestus, es ist ein Akt des Widerstandes. Im Schweigen liegt eine große Gewalt verborgen. Wer nicht spricht, verweigert eine zentrale Mitmenschlichkeit: den Versuch, die Bemühungen verstanden zu werden. Wer nicht mehr darum ringt, von seiner Gesellschaft verstanden zu werden, der hat sich aus dieser Gesellschaft verabschiedet. Er bewegt sich in eine andere Gruppe, in jene der Sprachlosen, zu den Toten, den Geistern, der Nochnichtgeborenen. Ich habe immer Schweigende porträtiert, weil mich die andere, die metaphysische Seite mindestens so interessiert wie die pragmatische, verhandelbare.
Frau Schmitz dient als Katalysator. Nicht ihren Konflikt – das Leben im falschen Körper - stellst Du in den Mittelpunkt, sondern die Reaktionen ihrer Umgebung, ihre Ansprüche, Erwartungen und Verwirrungen. Was passiert, wenn einem die Zuordnungen, die Codes, die das Miteinander geräuschlos steuern, genommen werden?
Das ist individuell eine große Katastrophe und wird abseits der Kunst, der Bühne, in der Regel als Wahnsinn bezeichnet. Wenn ich die Rollen nicht verstehe, die meine Mitmenschen spielen, wenn ich meine Rolle nicht verstehe und einhalte, dann lande ich sehr schnell, und ich rede von Minuten, entweder im Irrenhaus oder im Gefängnis. Wenn ich mit der Bäckersfrau wie mit meiner Mutter, oder mit meiner Mutter wie mit der Bäckersfrau rede, wenn ich also die Funktionen nicht entschlüssle und meine Sprechweisen nicht anpasse, dann ist Schluss mit dem bürgerlichen Leben. Es wäre nicht sinnvoll und sehr behindernd, wenn wir uns in jeder Minute die Komplexität dieser Muster bewusst wären. Wir sind auf Automatismen angewiesen. Sobald ein Pianist bewusst darüber nachdenkt, welchen Finger er bewegen muss, um einen Ton zu spielen, fällt er aus dem Takt. Man nennt diesen Vorgang auch üben. Und üben ist uns in der Regel nicht erlaubt. Ich sollte bei der Bäckersfrau nicht meine soziale Funktion einüben. Sie wird wenig Verständnis dafür haben. Vielleicht kann ich sie für einen oder zwei Sätze aus dem umzäunten Gelände führen, mit ihr flirten oder eine politische Diskussion anreißen. Aber der Bewegungsspielraum ist beschränkt und ich habe mich sehr bald wieder in die Rolle des Kunden zu finden. Die Zügelung, diese Zähmung ist äußerst anstrengend, mit vielen Demütigungen und Beschränkungen verbunden, gerade in einer arbeitsteiligen Gesellschaft entkommen wir der Funktionalität sehr selten. Auf die Dauer wäre sie unerträglich, wenn es nicht Gelegenheiten gäbe, diese Rollenhaftigkeit zu entblößen und damit zu kritisieren, über sie zu lachen und uns einen Moment von ihrem Zwang zu befreien. Das Theater gehört zentral dazu. Es zeigt uns, dass unsere Identität kein Schicksal, sondern ein Konstrukt ist. Die Frage ist nur, ob wir etwas mit dieser theatralen Erfahrung anfangen. Ob die Utopie des Theaters noch die Kraft hat, über den Zuschauerraum hinauszuspringen. Ob die Menschen sich noch inspirieren lassen und eine Möglichkeit sehen, sich von den Beschränkungen ihrer alltägliche Funktionszusammenhänge zu befreien.
Führt die allerorten eingeforderte Flexibilität in unserer Gesellschaft zu einer Entwurzelung, die Schuld daran trägt, dass heute die reaktionären Kräfte wieder Zulauf erhalten?
Ja, das hört man jetzt oft. Aber dieser Schluss scheint mir fast zu zwingend, fast zu naheliegend, um wahr zu sein. Kurzum: ich misstraue dieser Deutung. Vielleicht überschätzen wir die Veränderungen, die uns so groß und epochal erscheinen. Das ist schwierig zu sagen, erst die Geschichte wird es weisen. Aber was sicher ist: Im Gerede von der technologischen und gesellschaftlichen Überforderung steckt eine große Eitelkeit. Man hält sich für besonders wichtig, man glaubt, die Erfahrungen, die unsere Generation macht, seien einmalig. Aber wenn ich meine Lebenszeit mit der Lebenszeit meiner Großmutter vergleiche, dann scheint unsere Zeit nicht zu rasen, sie scheint im Gegenteil stillzustehen. Die Veränderungen in der Lebenswelt meiner Großmutter waren objektiv gesehen viel größer. Als sie geboren wurde, gab es weder Radio noch Verkehrsflugzeuge, keine Waschmaschine, kein Telefon, keine Zentralheizung, nichts von alledem. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir uns mit den falschen Fragen beschäftigen. Die Herausforderungen sind weniger technologisch, die wirklichen Herausforderungen sind sozialer und politischer Natur. Wir tun zwar so, als ob uns mit der Generation unserer Großeltern nichts mehr verbinden würde. Und doch leben wir mehr oder weniger in denselben politischen Strukturen. Die letzten großen Errungenschaften, wie die Fünftage-Woche, die Arbeitslosenversicherung und in der Schweiz die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen, dies alles liegt lange zurück. Und nichts davon hat unsere Generation erstritten. Die Rede von der Überforderung, von der Tragweite der technologischen Revolution soll vielleicht nur kaschieren, wie wenig uns eingefallen ist, um die sozialen Bedingungen zu verbessern, um die politische Beteiligung der Wirklichkeit im 21. Jahrhundert anzupassen. Deshalb ist die neue reaktionäre Bewegung vielleicht weniger eine Suche nach Stabilität in bekannten Strukturen, als vielmehr eine Trotzreaktion auf die fehlende soziale und politische Innovationskraft unserer Zeit.
Aber auch die Political Correctness, die Genderdiskussion - gipfelnd in der jüngsten Debatte um Unisex-Toiletten -, die gerade aus dem Bewusstsein unserer Identität als gesellschaftlichem Konstrukt geboren sind, werden verantwortlich gemacht für die derzeitige Entwicklung. Der Vorwurf: Diese Diskussionen werden von einer Bildungselite geführt, die keine Ahnung von den wahren Problemen der Bevölkerung habe. Die von ihr propagierte Liberalität hätte die Masse nie aus Überzeugung geteilt. Diese Bildungselite porträtierst du in deinem Stück und siehst ihr beim Straucheln an ihren eigenen Idealen zu, entlarvst ihre Eitelkeiten und Widersprüche. Für Deine Stücke wählst du das Genre der Komödie. Warum?
Vielleicht, weil Komödie vor allem Konstruktion und also Form ist. Sie zügelt das Chaos, bändigt die Anarchie zum Zwecke des Gelächters. Diese Bändigung ist für einen Künstler eine anspruchsvolle Aufgabe, vielleicht die Anspruchsvollste überhaupt. Und ich rede nicht vom Gag, von der Pointe, obwohl die natürlich auch gemeistert sein will. Jede Komödie verlangt eine Deutung, eine eindeutige Stellungnahme und vor allem eine Zuschreibung: es muss klar sein, über wen gelacht wird, wer also das Opfer ist, wer die Grausamkeit zu erleiden hat. Humor ist deshalb politisch, weil er die Kosten verteilt. Weil er bestimmt, wer die Zwei am Rücken zu tragen hat. Und das ist selten bis nie ein Kollektiv. Es trifft meistens den Einzelnen. Normalerweise tendieren wir dazu, über diese Kosten hinwegzugehen, weil wir uns für die Opfer schämen. Es ist unangenehm, jemanden zu sehen, der direkt vor einem auf die Schnauze fällt, aber nicht, weil wir Mitleid empfinden, sondern weil wir uns für die Dummheit, für das Ungeschick des anderen schämen. Und dazu fürchten wir die Rache des Gestrauchelten. Jeder kennt die Wut, wenn er wegen eines anderen zu Schaden gekommen ist. Wir wollen es ihm heimzahlen. In der Redensart „Wer zuletzt lacht, lacht am besten“ steckt eine tiefe Wahrheit, vor der man sich zu Recht fürchtet. Denn aus ihr folgt eine Eskalation: Jeder will dieser Letzte sein, und das geht ja nur, wenn keiner mehr übrig ist, der einem noch gefährlich werden könnte, der noch in der Lage wäre, einen Scherz auf seine Kosten zu machen. Eine zivilisierte Gesellschaft hat den Humor gebändigt, wir wissen genau, wann wir wo worüber zu lachen haben. Wenn wir an unpassenden Stellen lachen, bei Gelegenheiten, die eigentlich des Ernstes bedürfen, wird es gefährlich. Und um diese Gefahr geht es mir, wohl gemerkt, nur im Theater. Ich halte es für kein gutes Zeichen, wenn uns die Politik zum Lachen bringt. Und das tut sie in der letzten Zeit gerade wieder beängstigend häufig. Es wird zu viel gegrinst, finde ich, aber ich sehne mich nach einem tiefen, glucksenden Lachen, einem, das nicht zuerst aus dem Kopf, sondern aus dem Bauch kommt.