Theater der Zeit

Neustarts

Das neue Volkstheater der Meininger

Unter Schauspielchef Frank Behnke knüpft das Haus mit „Julius Caesar“ und „Antigone“ zeitgemäß an große Traditionen an

von Michael Helbing

Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)

Assoziationen: Thüringen Sprechtheater Meininger Staatstheater

Nicht erziehen, aber herausfordern: Frank Behnke beginnt als Schauspielchef in Meiningen mit dem Doppelabend „Julius Caesar/ Die Politiker“. Foto Jochen Quast
Nicht erziehen, aber herausfordern: Frank Behnke beginnt als Schauspielchef in Meiningen mit dem Doppelabend „Julius Caesar/ Die Politiker“Foto: Jochen Quast

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Wir haben sehr gelacht, als sich Hans-Georg Maaßen mal wieder in Populismus versuchte. „In Südthüringen“, twitterte der Ex-Präsident des Verfassungsschutzes in den Mai hinein, „lebt ein starkes, liebenswertes, aber durchaus auch selbstbewusstes und wehrhaftes Volk, das allergisch auf Ratschläge und Weisungen aus Rom, München oder Ost-Berlin reagierte. Auch wenn sie von ­Julius Caesar persönlich kamen.“

Nun ist es historisch unmöglich, dass Suhl, Schmalkalden-Meiningen, Hildburghausen und Sonneberg, wo sich ein extrem rechtskonservativer Maaßen als CDU-Direktkandidat vergeblich um ein Bundestagsmandat bemühte, jemals Weisungen Caesars erhielten. Es sei denn: auf dem Theater! Hier stand Shakespeares „Julius Caesar“ am Beginn einer Tradition.

Georg II. von Sachsen-Meiningen, gleichsam Erfinder des Regie- wie des Ensembletheaters, ließ die Tragödie erstmals 1867 spielen; beim Berliner Gastspiel 1874 später begründete sie den eineinhalb Jahrzehnte währenden Ruhm der ­Meininger in Europa. Und schon 1866, kurz nach Amtsantritt, sorgte der „Theaterherzog“ für die „Antigone“-Erstaufführung in der Neuzeit.

Lang ist’s her. Aktuell stehen beide Stücke wieder auf dem Spielplan, und zwar so, als begründeten sie neuerlich eine Tra­di­tion: die einer Neudeutung des Volkstheaters im Staatstheater. Denn das Volk ist der Staat (wenn auch nicht dessen Apparat). Es ist der Souverän.

Und also, dekretierte schon Vicco von Bülow alias Loriot, der in Meiningen einst eine Oper inszenierte und dessen Vorfahre Hans von Bülow hier Hofkapellmeister war, „ist die Zielrichtung der Satire der Wähler!“ Der neue Schauspieldirektor, Frank Behnke, zielt auf diesen im Satyrspiel, in das er die Tragödie münden lässt: Sein Ensemble aus „Julius Caesar“, worin wankelmütiges Volk als Mob und Schafherde gilt, findet sich nach großer Schlacht bei Philippi in Wolfram Lotz’ absurde Pirouetten drehendem Sprechtext „Die Politiker“ wieder.

„Die Politiker die Politiker die Politiker“, raunte die „Masse“ chorisch schon mal kurz, nachdem sie Caesars Triumph über ­jenen Pompeius zujubelte, dem sie zuvor zugetan war. Nun ­verflucht und bestaunt sie in neurotischen und psychotischen ­Abwärtsspiralen eben jene, mit denen sie so wenig anfangen kann wie ohne sie: „Da stehen wir jetzt also wieder, allein. – Da! Gott sei Dank: Die Politiker kommen wieder rein.“ Wenn aber „ein Zwerg erscheint, von scheußlicher Gestalt“, trägt einer eine Maske des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke, der „unser liebes Volk“ bereits in „gallische Dörfer“ hineinschwafelte.

Seiner AfD bescherte die Region jüngst den Wahlkreissieg bei den Zweitstimmen, wenn sie auch lieber einen heimischen Biathleten mit SPD-Ticket direkt in den Bundestag wählte. Wohl auch solcher Stimmungslage wegen kam der Niedersachse Frank Behnke mit leicht mulmigem Gefühl und enger werdendem ­Herzen hierher. Zehn Jahre lang war er Schauspieldirektor in Münster, wo es allein doppelt so viele Studenten gibt wie in ­Meiningen Einwohner. Zudem ist dies für den 59-Jährigen – „ein total westsozialisierter Theatermensch“, Dramaturg und Regisseur in Wilhelmshaven, Osnabrück, Celle, Nürnberg, Hamburg – die Erstbegegnung mit einem Theater im Osten.

Verpflichtet hat ihn Jens Neundorff von Enzberg, 55: ein Junge aus Südthüringen zwar, der als Musikdramaturg in Meiningen begann, nun jedoch als Intendant von Regensburg hierher wechselte und nach insgesamt zwanzig Jahren überhaupt ziemlich westsozialisiert wirkt. Der Regensburger Presse erklärte er zum Abschied, einem Zeitungsbericht zufolge, die „komplett andere Mentalität“ der Thüringer. „Unter Demokratie werde dort verstanden: Ich kann über alles meckern, aber wenn ich Verantwortung übernehmen soll, verweise ich auf den Chef.“

Ungefähr so nehmen sich auch sechs Clownsfratzen in ­roten Kapuzenshirts aus, die mit Rasseln im Zuschauerraum ­lärmen. Sie gehen erst der Rhetorik des Brutus (Lukas Umlauft) auf den Leim, zu der sich dieser überwinden muss, um das „­Gemeinwohl“ über seine Liebe zu Caesar zu stellen, den er mitmordete. Dann erliegen sie der demagogischen Trauerrede des Marcus Antonius (Miriam Haltmeier), der sie vom Gegenteil überzeugt und in den nächsten Bürgerkrieg hineinlamentiert.

Eine Inszenierung später, der „Antigone“, die Elina Finkel in den Kammerspielen besorgt, verachtet König Kreon (Gunnar Blume) „zum Wohl des Staates“ einen jeden, „wenn ihm ein Freund mehr als ein Land bedeutet.“ Volkes Stimme, in einem in zwei altklugen Frauen an der Fensterbank aufgelösten Chor von Evelyn Fuchs und Anja Lenßen enorm präsent gestaltet, hält ihn für so vernünftig wie seinen Sohn, Haimon (Marcus Chiwaeze), der beschwörend dagegenhält.

Derart subtil legt sich das Theater zum Auftakt der neuen Ära nicht mit dem Publikum im Besonderen an, das Behnke ­dessen Ruf und auch der Pandemie zum Trotz als „extrem gierig auf Theater“ erlebt, wohl aber mit dem Volk im Allgemeinen. Nachdem ihm in diesem „Ausnahmetheater“, das der Nabel der Stadt ist und sehr gut ausgestattet obendrein, das Herz wieder aufging, will Behnke die Leute weder erziehen noch verschrecken, herausfordern und „ein Risiko eingehen“ aber durchaus.

Das zahlt sich alles in allem bislang aus, in zwei zumindest für dieses Vier-Sparten-Haus wegweisenden Aufführungen, die Tradition mit Zeitgenossenschaft verbinden und verschiedene Schichten in der Handlungs- wie der Entstehungszeit der Stücke freilegen, jedenfalls durchschimmern lassen.

Über Frank Alberts weiter, in Teilen drehbarer Bühnenschräge für „Caesar“ thront und droht ein in alle Richtungen ­beweglicher Lichterkranz: eine, nun ja, Corona, eine Krone zwischen Machtwechsel und -vakuum, durchaus nicht so standhaft wie der Stern des Nordens, als den Caesar sich behauptet. Der ist bei Vivian Frey ebenso ein sich zur Alleinherrschaft aufplusternder Durchschnittsmensch und Parvenü ohne natürliche Autorität wie später der Kreon von Gunnar Blume. Matthias Schuberts ­metallischer Sound dröhnt und quietscht dazu wie ein Echo aus grauer Vorzeit.

Ähnlich tönt es in der „Antigone“, die sie in Heinz Oliver Karbus’ moderner Übertragung sprechen, was das Nähe-Distanz-Spiel mit dem Stoff leider einebnet. Vesna Hiltmann aber hat dem Abend eine Kulisse zwischen antikem Tempel und unserer Zeit gemäßer Hauswand mit vier großen Fenstern gebaut, auf und hinter der sich eine Szene aus dem syrischen Bürgerkrieg manifestiert. Das schiebt sich uns entgegen, als sie Antigone ein­mauern. Derart rückt eine Ferne, in der ein göttliches (letztlich auch menschengemachtes) Gesetz mit dem des Staates streitet, näher an uns heran als durch jede Aktualisierung.

In „Caesar“ spielen nicht nur Protagonisten auch Masse, die Politiker wanken und kriechen darin zudem selbst, kommen gar wie Plebejer daher: der ungeschliffen grobe Cassius des ­Stefan Willi Wang oder der nölige Casca des Leo Goldberg etwa. Goldberg taucht wieder als Antigones Bruder Eteokles auf, der seinerseits den staatsfernen Wächter mimt (und Teiresias auch), während der Polyneikes des Jan Wenglarz, so blutbeschmiert wie Vivian Freys Caesar, aus dem Boten einen listigen Kobold macht. Die Toten, mag das heißen, sind unter uns, und alle Macht ist auf Zeit verliehen.

Als Meininger Entdeckung darf aktuell Miriam Haltmeier gelten, eine unter zehn Neuen im achtzehnköpfigen Ensemble. Die Schauspielerin hat den Vorteil eines vermeintlichen Nachteils: Sie misst 1,86 Meter. Überragend und auffallend spielt sie aber nicht allein deshalb. Ihren Marcus Antonius legt sie als Meister der Verstellung an, der Charisma daraus bezieht, sich für uncharismatisch zu halten und sich gleichsam selbst zur Radikalität verführt.

Ihre Antigone spielt sie kompromisslos, aber mit brüchiger Fassade. Das hat immer einen hohen Ton, Zwischentöne aber auch. Sie ist jene, die uns anrührt und befremdet zugleich. Sie ist das archaische Prinzip, die unzeitgemäße Figur, die den Tod nicht fürchtet. Nur, dass die Regie sie leider nie ins Unrecht zu setzen vermag, Kreon hingegen, einen unbeherrschten Herrscher, von Anfang an. Derart kann das Volk keine Tragödie ­empfinden; es wendet sich ab und knetet, in der Gestalt der beiden Chorfrauen, an der Tafel einer Totenfeier weiter in seinem privaten Teig. //

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